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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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eben die Grube, worin der zu Grund liegende wahre Gehalt versinkend
seine ursprüngliche Kraft, die vergleichungsweise nun Erhabenheit ist,
einbüßt. Der Haß, sowohl der in seiner Quelle gewaltigere (wie z. B.
deutschthümelnder Franzosenhaß), als der kleine und verbissene (vergl.
§. 106, Anm. 1) tritt unter den Leidenschaften ersterer Art ebenfalls als
Stoff der Komik auf. Den Begriff des Lasters bestimmt der §. als Aus-
artung eines sinnlichen Genusses in die Unfreiheit der bleibenden Ver-
senkung. Man nennt freilich auch Hochmuth, Lügenhaftigkeit (il bugiardo
von Goldoni: eine treffliche Komik) und andere Entartungen geistiger Art
Laster, da es an einem anderen Worte für habituelle Unsittlichkeit fehlt,
ursprünglich aber wird das Wort für die habituelle Verhärtung in sinnlichem
Genusse gebraucht. Laster nennt man in komischer Absicht selbst üble
Angewöhnungen an kleine Bedürfnisse, wie Schnupfen, Rauchen; dann
treten die größeren Laster des Geizes, Trunkes u. s. w. hervor. Man
muß nicht meinen, das sittlich Verdorbene fordere hier eine Grenze. Fal-
staff ist grundliederlich und doch ganz komisch. Die Grenze liegt nicht im
Inhalte, sondern in weiteren Momenten, wovon hier noch nicht die Rede
ist. Hegel will die Laster ausschließen (Aesth. Th. 3, S. 534) und nennt
als Grund die bittere Ernsthaftigkeit des Zwecks im Lasterhaften. Allein gibt
es denn nicht Lasterhafte, die mit dem einen Fuß aus dem Laster heraus,
mit dem andern in demselben sind? Wenn es aber solche nicht geben und
sich der Wortstreit erheben sollte, ob dies noch Laster zu nennen sey oder
nicht, soll denn die Weise der Anschauung nicht einen solchen Doppelschein
auf das Laster werfen können?

3. Der unstete Wille fällt als komisch sogleich in die Augen. Nur
muß er in seinen Uebergängen ganz, in seinen Selbsttäuschungen voll seyn,
wie feurige Naturen in der Reihe ihrer Jugend-Enthusiasmen; sonst fehlt
das erste Glied des Komischen, das Erhabene.

§. 163.

Dagegen scheint das Böse durch die wesentlich in ihm miteinbegriffene
Thatkraft immer zu furchtbar zu seyn, um in das Komische übergehen zu können.
1Davon bilden jedoch einzelne Uebertritte des blos leidenschaftlichen und laster-
haften Willens in dasselbe eine Ausnahme, weil hier die zusammenhängend
ausgebildete Thatkraft des Bösen fehlt. Ferner, da das Böse wie alles Er-
habene ein Verhältnißbegriff ist, so kann sich selbst über ausgebildete Ränke-
sucht eine höhere stellen, wodurch die erstere komisch wird. Aber auch die

eben die Grube, worin der zu Grund liegende wahre Gehalt verſinkend
ſeine urſprüngliche Kraft, die vergleichungsweiſe nun Erhabenheit iſt,
einbüßt. Der Haß, ſowohl der in ſeiner Quelle gewaltigere (wie z. B.
deutſchthümelnder Franzoſenhaß), als der kleine und verbiſſene (vergl.
§. 106, Anm. 1) tritt unter den Leidenſchaften erſterer Art ebenfalls als
Stoff der Komik auf. Den Begriff des Laſters beſtimmt der §. als Aus-
artung eines ſinnlichen Genuſſes in die Unfreiheit der bleibenden Ver-
ſenkung. Man nennt freilich auch Hochmuth, Lügenhaftigkeit (il bugiardo
von Goldoni: eine treffliche Komik) und andere Entartungen geiſtiger Art
Laſter, da es an einem anderen Worte für habituelle Unſittlichkeit fehlt,
urſprünglich aber wird das Wort für die habituelle Verhärtung in ſinnlichem
Genuſſe gebraucht. Laſter nennt man in komiſcher Abſicht ſelbſt üble
Angewöhnungen an kleine Bedürfniſſe, wie Schnupfen, Rauchen; dann
treten die größeren Laſter des Geizes, Trunkes u. ſ. w. hervor. Man
muß nicht meinen, das ſittlich Verdorbene fordere hier eine Grenze. Fal-
ſtaff iſt grundliederlich und doch ganz komiſch. Die Grenze liegt nicht im
Inhalte, ſondern in weiteren Momenten, wovon hier noch nicht die Rede
iſt. Hegel will die Laſter ausſchließen (Aeſth. Th. 3, S. 534) und nennt
als Grund die bittere Ernſthaftigkeit des Zwecks im Laſterhaften. Allein gibt
es denn nicht Laſterhafte, die mit dem einen Fuß aus dem Laſter heraus,
mit dem andern in demſelben ſind? Wenn es aber ſolche nicht geben und
ſich der Wortſtreit erheben ſollte, ob dies noch Laſter zu nennen ſey oder
nicht, ſoll denn die Weiſe der Anſchauung nicht einen ſolchen Doppelſchein
auf das Laſter werfen können?

3. Der unſtete Wille fällt als komiſch ſogleich in die Augen. Nur
muß er in ſeinen Uebergängen ganz, in ſeinen Selbſttäuſchungen voll ſeyn,
wie feurige Naturen in der Reihe ihrer Jugend-Enthuſiasmen; ſonſt fehlt
das erſte Glied des Komiſchen, das Erhabene.

§. 163.

Dagegen ſcheint das Böſe durch die weſentlich in ihm miteinbegriffene
Thatkraft immer zu furchtbar zu ſeyn, um in das Komiſche übergehen zu können.
1Davon bilden jedoch einzelne Uebertritte des blos leidenſchaftlichen und laſter-
haften Willens in dasſelbe eine Ausnahme, weil hier die zuſammenhängend
ausgebildete Thatkraft des Böſen fehlt. Ferner, da das Böſe wie alles Er-
habene ein Verhältnißbegriff iſt, ſo kann ſich ſelbſt über ausgebildete Ränke-
ſucht eine höhere ſtellen, wodurch die erſtere komiſch wird. Aber auch die

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[366/0380] eben die Grube, worin der zu Grund liegende wahre Gehalt verſinkend ſeine urſprüngliche Kraft, die vergleichungsweiſe nun Erhabenheit iſt, einbüßt. Der Haß, ſowohl der in ſeiner Quelle gewaltigere (wie z. B. deutſchthümelnder Franzoſenhaß), als der kleine und verbiſſene (vergl. §. 106, Anm. 1) tritt unter den Leidenſchaften erſterer Art ebenfalls als Stoff der Komik auf. Den Begriff des Laſters beſtimmt der §. als Aus- artung eines ſinnlichen Genuſſes in die Unfreiheit der bleibenden Ver- ſenkung. Man nennt freilich auch Hochmuth, Lügenhaftigkeit (il bugiardo von Goldoni: eine treffliche Komik) und andere Entartungen geiſtiger Art Laſter, da es an einem anderen Worte für habituelle Unſittlichkeit fehlt, urſprünglich aber wird das Wort für die habituelle Verhärtung in ſinnlichem Genuſſe gebraucht. Laſter nennt man in komiſcher Abſicht ſelbſt üble Angewöhnungen an kleine Bedürfniſſe, wie Schnupfen, Rauchen; dann treten die größeren Laſter des Geizes, Trunkes u. ſ. w. hervor. Man muß nicht meinen, das ſittlich Verdorbene fordere hier eine Grenze. Fal- ſtaff iſt grundliederlich und doch ganz komiſch. Die Grenze liegt nicht im Inhalte, ſondern in weiteren Momenten, wovon hier noch nicht die Rede iſt. Hegel will die Laſter ausſchließen (Aeſth. Th. 3, S. 534) und nennt als Grund die bittere Ernſthaftigkeit des Zwecks im Laſterhaften. Allein gibt es denn nicht Laſterhafte, die mit dem einen Fuß aus dem Laſter heraus, mit dem andern in demſelben ſind? Wenn es aber ſolche nicht geben und ſich der Wortſtreit erheben ſollte, ob dies noch Laſter zu nennen ſey oder nicht, ſoll denn die Weiſe der Anſchauung nicht einen ſolchen Doppelſchein auf das Laſter werfen können? 3. Der unſtete Wille fällt als komiſch ſogleich in die Augen. Nur muß er in ſeinen Uebergängen ganz, in ſeinen Selbſttäuſchungen voll ſeyn, wie feurige Naturen in der Reihe ihrer Jugend-Enthuſiasmen; ſonſt fehlt das erſte Glied des Komiſchen, das Erhabene. §. 163. Dagegen ſcheint das Böſe durch die weſentlich in ihm miteinbegriffene Thatkraft immer zu furchtbar zu ſeyn, um in das Komiſche übergehen zu können. Davon bilden jedoch einzelne Uebertritte des blos leidenſchaftlichen und laſter- haften Willens in dasſelbe eine Ausnahme, weil hier die zuſammenhängend ausgebildete Thatkraft des Böſen fehlt. Ferner, da das Böſe wie alles Er- habene ein Verhältnißbegriff iſt, ſo kann ſich ſelbſt über ausgebildete Ränke- ſucht eine höhere ſtellen, wodurch die erſtere komiſch wird. Aber auch die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/380>, abgerufen am 19.03.2024.