Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

trachtet nach der Vernichtung ihrer selbst, um sich als Bestimmtheit und
Ernst aufzulösen, und am liebsten sucht sie das positive Göttliche durch
Herabziehung desselben in das Reich der freiesten und individuellsten Zu-
fälligkeit zu vernichten, weil sie selbst göttlich und unendlich, folglich in
der Vernichtung des Göttlichen und Großen sich selbst als Bestimmtheit
mitvernichtet, worin sich eben ihr unendlicher Frevel, ihr zügelloses
Spiel am herrlichsten offenbart." Fülle nennt er hier (§. 198 und
ebenso in §. 193) die Breite des Daseyns, die in der Verflechtung alles
Zufalls dennoch von der Idee sich durchdrungen weiß, im Gegensatz gegen
die durchschneidende Strenge des tragischen Gesetzes. Uebrigens führt
die hier gegebene Stelle am zweckmäßigsten zum folg. §.

§. 186.

Wenn dieses Wesen der Komik, das in einem gewissen Sinne als ein
Frevel zu bezeichnen ist, als bedenklich erscheint, so ist nicht nur zu erwägen,1
was im Bisherigen von selbst liegt, daß die Selbstüberhebung der Komik zugleich
Selbstdemüthigung ist, daß ferner das System auf dem vorliegenden Punkte noch2
nicht zu untersuchen hat, wie und wo das Komische dieses sein Wesen nur auf
unreine und gemischte Weise verwirkliche, sondern namentlich auch, daß das3
Komische nicht das ganze Schöne ist.

1. Die komische Subjectivität ist ruchlos, sobald man sie vom Stand-
punkt des Erhabenen, das sie eben zu Falle bringt, betrachtet, mag man
nun diesen Standpunkt in ästhetischem oder, bei ungenauerem Gebrauch
des Worts: erhaben, in moralischem Zusammenhang einnehmen. Man
vergißt aber dann, was der §. aus der bisherigen Darstellung noch
einmal ausdrücklich hervorhebt: daß sich das Subject im Komischen zugleich
klein und groß weiß. Darin liegt von selbst das Andere, daß das
einzelne Subject sich zwar als berechtigte Monade in der unendlichen Sub-
jectivität geltend macht, aber sich ebenso des reinen allgemeinen Lebens
der Subjectivität, das als Funke von ihm zu allen Subjecten in unend-
licher Kette hinläuft, bewußt ist, und daher im Acte des Komischen nicht
einen einzelnen, sondern einen Weltwiderspruch mit reiner Universalität
aufdeckt. Ich lache über Jenen, weil seine Größe in Kleinheit aufgeht,
aber so bin auch ich und sind Alle. Sobald ich mich überhebe, so ist
diese Ueberhebung nur ein neuer Stoff für das Komische.


trachtet nach der Vernichtung ihrer ſelbſt, um ſich als Beſtimmtheit und
Ernſt aufzulöſen, und am liebſten ſucht ſie das poſitive Göttliche durch
Herabziehung desſelben in das Reich der freieſten und individuellſten Zu-
fälligkeit zu vernichten, weil ſie ſelbſt göttlich und unendlich, folglich in
der Vernichtung des Göttlichen und Großen ſich ſelbſt als Beſtimmtheit
mitvernichtet, worin ſich eben ihr unendlicher Frevel, ihr zügelloſes
Spiel am herrlichſten offenbart.“ Fülle nennt er hier (§. 198 und
ebenſo in §. 193) die Breite des Daſeyns, die in der Verflechtung alles
Zufalls dennoch von der Idee ſich durchdrungen weiß, im Gegenſatz gegen
die durchſchneidende Strenge des tragiſchen Geſetzes. Uebrigens führt
die hier gegebene Stelle am zweckmäßigſten zum folg. §.

§. 186.

Wenn dieſes Weſen der Komik, das in einem gewiſſen Sinne als ein
Frevel zu bezeichnen iſt, als bedenklich erſcheint, ſo iſt nicht nur zu erwägen,1
was im Bisherigen von ſelbſt liegt, daß die Selbſtüberhebung der Komik zugleich
Selbſtdemüthigung iſt, daß ferner das Syſtem auf dem vorliegenden Punkte noch2
nicht zu unterſuchen hat, wie und wo das Komiſche dieſes ſein Weſen nur auf
unreine und gemiſchte Weiſe verwirkliche, ſondern namentlich auch, daß das3
Komiſche nicht das ganze Schöne iſt.

1. Die komiſche Subjectivität iſt ruchlos, ſobald man ſie vom Stand-
punkt des Erhabenen, das ſie eben zu Falle bringt, betrachtet, mag man
nun dieſen Standpunkt in äſthetiſchem oder, bei ungenauerem Gebrauch
des Worts: erhaben, in moraliſchem Zuſammenhang einnehmen. Man
vergißt aber dann, was der §. aus der bisherigen Darſtellung noch
einmal ausdrücklich hervorhebt: daß ſich das Subject im Komiſchen zugleich
klein und groß weiß. Darin liegt von ſelbſt das Andere, daß das
einzelne Subject ſich zwar als berechtigte Monade in der unendlichen Sub-
jectivität geltend macht, aber ſich ebenſo des reinen allgemeinen Lebens
der Subjectivität, das als Funke von ihm zu allen Subjecten in unend-
licher Kette hinläuft, bewußt iſt, und daher im Acte des Komiſchen nicht
einen einzelnen, ſondern einen Weltwiderſpruch mit reiner Univerſalität
aufdeckt. Ich lache über Jenen, weil ſeine Größe in Kleinheit aufgeht,
aber ſo bin auch ich und ſind Alle. Sobald ich mich überhebe, ſo iſt
dieſe Ueberhebung nur ein neuer Stoff für das Komiſche.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0419" n="405"/>
trachtet nach der Vernichtung ihrer &#x017F;elb&#x017F;t, um &#x017F;ich als Be&#x017F;timmtheit und<lb/>
Ern&#x017F;t aufzulö&#x017F;en, und am lieb&#x017F;ten &#x017F;ucht &#x017F;ie das po&#x017F;itive Göttliche durch<lb/>
Herabziehung des&#x017F;elben in das Reich der freie&#x017F;ten und individuell&#x017F;ten Zu-<lb/>
fälligkeit zu vernichten, weil &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t göttlich und unendlich, folglich in<lb/>
der Vernichtung des Göttlichen und Großen &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t als Be&#x017F;timmtheit<lb/>
mitvernichtet, worin &#x017F;ich eben ihr unendlicher Frevel, ihr zügello&#x017F;es<lb/>
Spiel am herrlich&#x017F;ten offenbart.&#x201C; <hi rendition="#g">Fülle</hi> nennt er hier (§. 198 und<lb/>
eben&#x017F;o in §. 193) die Breite des Da&#x017F;eyns, die in der Verflechtung alles<lb/>
Zufalls dennoch von der Idee &#x017F;ich durchdrungen weiß, im Gegen&#x017F;atz gegen<lb/>
die durch&#x017F;chneidende Strenge des tragi&#x017F;chen Ge&#x017F;etzes. Uebrigens führt<lb/>
die hier gegebene Stelle am zweckmäßig&#x017F;ten zum folg. §.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 186.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Wenn die&#x017F;es We&#x017F;en der Komik, das in einem gewi&#x017F;&#x017F;en Sinne als ein<lb/>
Frevel zu bezeichnen i&#x017F;t, als bedenklich er&#x017F;cheint, &#x017F;o i&#x017F;t nicht nur zu erwägen,<note place="right">1</note><lb/>
was im Bisherigen von &#x017F;elb&#x017F;t liegt, daß die Selb&#x017F;tüberhebung der Komik zugleich<lb/>
Selb&#x017F;tdemüthigung i&#x017F;t, daß ferner das Sy&#x017F;tem auf dem vorliegenden Punkte noch<note place="right">2</note><lb/>
nicht zu unter&#x017F;uchen hat, wie und wo das Komi&#x017F;che die&#x017F;es &#x017F;ein We&#x017F;en nur auf<lb/>
unreine und gemi&#x017F;chte Wei&#x017F;e verwirkliche, &#x017F;ondern namentlich auch, daß das<note place="right">3</note><lb/>
Komi&#x017F;che nicht das ganze Schöne i&#x017F;t.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">1. Die komi&#x017F;che Subjectivität i&#x017F;t ruchlos, &#x017F;obald man &#x017F;ie vom Stand-<lb/>
punkt des Erhabenen, das &#x017F;ie eben zu Falle bringt, betrachtet, mag man<lb/>
nun die&#x017F;en Standpunkt in ä&#x017F;theti&#x017F;chem oder, bei ungenauerem Gebrauch<lb/>
des Worts: erhaben, in morali&#x017F;chem Zu&#x017F;ammenhang einnehmen. Man<lb/>
vergißt aber dann, was der §. aus der bisherigen Dar&#x017F;tellung noch<lb/>
einmal ausdrücklich hervorhebt: daß &#x017F;ich das Subject im Komi&#x017F;chen zugleich<lb/>
klein und groß weiß. Darin liegt von &#x017F;elb&#x017F;t das Andere, daß das<lb/>
einzelne Subject &#x017F;ich zwar als berechtigte Monade in der unendlichen Sub-<lb/>
jectivität geltend macht, aber &#x017F;ich eben&#x017F;o des reinen allgemeinen Lebens<lb/>
der Subjectivität, das als Funke von ihm zu allen Subjecten in unend-<lb/>
licher Kette hinläuft, bewußt i&#x017F;t, und daher im Acte des Komi&#x017F;chen nicht<lb/>
einen einzelnen, &#x017F;ondern einen Weltwider&#x017F;pruch mit reiner Univer&#x017F;alität<lb/>
aufdeckt. Ich lache über Jenen, weil &#x017F;eine Größe in Kleinheit aufgeht,<lb/>
aber &#x017F;o bin auch ich und &#x017F;ind Alle. Sobald ich mich überhebe, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
die&#x017F;e Ueberhebung nur ein neuer Stoff für das Komi&#x017F;che.</hi> </p><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[405/0419] trachtet nach der Vernichtung ihrer ſelbſt, um ſich als Beſtimmtheit und Ernſt aufzulöſen, und am liebſten ſucht ſie das poſitive Göttliche durch Herabziehung desſelben in das Reich der freieſten und individuellſten Zu- fälligkeit zu vernichten, weil ſie ſelbſt göttlich und unendlich, folglich in der Vernichtung des Göttlichen und Großen ſich ſelbſt als Beſtimmtheit mitvernichtet, worin ſich eben ihr unendlicher Frevel, ihr zügelloſes Spiel am herrlichſten offenbart.“ Fülle nennt er hier (§. 198 und ebenſo in §. 193) die Breite des Daſeyns, die in der Verflechtung alles Zufalls dennoch von der Idee ſich durchdrungen weiß, im Gegenſatz gegen die durchſchneidende Strenge des tragiſchen Geſetzes. Uebrigens führt die hier gegebene Stelle am zweckmäßigſten zum folg. §. §. 186. Wenn dieſes Weſen der Komik, das in einem gewiſſen Sinne als ein Frevel zu bezeichnen iſt, als bedenklich erſcheint, ſo iſt nicht nur zu erwägen, was im Bisherigen von ſelbſt liegt, daß die Selbſtüberhebung der Komik zugleich Selbſtdemüthigung iſt, daß ferner das Syſtem auf dem vorliegenden Punkte noch nicht zu unterſuchen hat, wie und wo das Komiſche dieſes ſein Weſen nur auf unreine und gemiſchte Weiſe verwirkliche, ſondern namentlich auch, daß das Komiſche nicht das ganze Schöne iſt. 1. Die komiſche Subjectivität iſt ruchlos, ſobald man ſie vom Stand- punkt des Erhabenen, das ſie eben zu Falle bringt, betrachtet, mag man nun dieſen Standpunkt in äſthetiſchem oder, bei ungenauerem Gebrauch des Worts: erhaben, in moraliſchem Zuſammenhang einnehmen. Man vergißt aber dann, was der §. aus der bisherigen Darſtellung noch einmal ausdrücklich hervorhebt: daß ſich das Subject im Komiſchen zugleich klein und groß weiß. Darin liegt von ſelbſt das Andere, daß das einzelne Subject ſich zwar als berechtigte Monade in der unendlichen Sub- jectivität geltend macht, aber ſich ebenſo des reinen allgemeinen Lebens der Subjectivität, das als Funke von ihm zu allen Subjecten in unend- licher Kette hinläuft, bewußt iſt, und daher im Acte des Komiſchen nicht einen einzelnen, ſondern einen Weltwiderſpruch mit reiner Univerſalität aufdeckt. Ich lache über Jenen, weil ſeine Größe in Kleinheit aufgeht, aber ſo bin auch ich und ſind Alle. Sobald ich mich überhebe, ſo iſt dieſe Ueberhebung nur ein neuer Stoff für das Komiſche.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/419
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/419>, abgerufen am 19.03.2024.