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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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welche kein Leihen seyn kann, daher nur als äußerliches Mittel der treffen-
den Spitze dient. Die Ironie nun, zu welcher als höherer Form durch
diesen Mangel der Witz fortgetrieben wird, ist, um es empirisch sogleich
zu sagen, eine scheinbar lobende, in Wahrheit tadelnde Darstellung eines
in Häßlichkeit verstrickten, verirrten Subjects. Es wird nicht etwas
Anderes an diesem, sondern gerade das Häßliche gelobt. Das thätige
Subject, das dies Verfahren vornimmt, hat demnach die Stellung, die es
bisher im Witze einnahm, geändert. Es läßt sich ein, es geht ein auf das
verirrte Subject (vergl. Ruge a. a. O. S. 163. 164) und ebendaher
schweift es nicht hinweg und hinaus nach einer entlegenen zweiten Vor-
stellung, die sich nicht unterschieben läßt, sondern es bleibt bei der Stange
und schiebt dem Verirrten, in welchem das Bewußtseyn der Verirrung
als ein nur mögliches verborgen liegt, sein eigenes wirkliches eben in dem
Punkte, wo die Verirrung liegt, unter. Wir fanden dies Leihen überhaupt
im Komischen, die Ironie aber vollzieht es ausgesprochener Maßen, hierin
hat Weiße Recht (Aesth. Th. 1, S. 246) und es wird dies noch als
ausdrückliche Bestimmung aufgenommen werden. Hier tritt der Begriff
der Folie in seine volle Bedeutung: das schon fertige Bewußtseyn des
anschauenden Subjects schimmert in der ironischen Darstellung durch das
trübe des verirrten, als wäre es das eigene des letzteren und man sieht
doch, es ist nur untergelegt; man ist getäuscht und nicht getäuscht. Die
Täuschung wächst an, mit ihr die Enttäuschung, bis jene reißt und diese
hervorspringt, aber der Rückblick erneuert die Bewegung. Soll nun die
Täuschung steigen, so ist Geduld und Mäßigung, volles Bescheiden, die
wahre Meinung heraus zu sagen, durchaus nothwendig; das witzige
Subject muß ganz hinter der Coulisse stehen. Nichts ist schlimmer, als
Herausplatzen mit directem Tadel (wie dies im Aufang des Don Quixote
einmal vorkommt) und allzu lebhaftes Lob. J. Paul (a. a. O. §. 37)
fordert daher den Schein des Ernstes, um den Ernst des Scheines zu
treffen. Unter dem Ernste des Scheines versteht er eben das Ansichhalten
des Ironikers, der sein Lachen völlig verbergen muß, und sagt sehr wahr,
daß die Ironie desto schwieriger werde, je komischer der Gegenstand sey.
Er gibt treffliche Beispiele der plumpen und der feinen, d. h. wahren
Ironie.

§. 202.

Die Ironie lobt entweder eben die Eigenschaften des Subjects, die sie
tadeln will, indem sie ihnen Gründe vorstreckt, deren Unhaltbarkeit gerade in

welche kein Leihen ſeyn kann, daher nur als äußerliches Mittel der treffen-
den Spitze dient. Die Ironie nun, zu welcher als höherer Form durch
dieſen Mangel der Witz fortgetrieben wird, iſt, um es empiriſch ſogleich
zu ſagen, eine ſcheinbar lobende, in Wahrheit tadelnde Darſtellung eines
in Häßlichkeit verſtrickten, verirrten Subjects. Es wird nicht etwas
Anderes an dieſem, ſondern gerade das Häßliche gelobt. Das thätige
Subject, das dies Verfahren vornimmt, hat demnach die Stellung, die es
bisher im Witze einnahm, geändert. Es läßt ſich ein, es geht ein auf das
verirrte Subject (vergl. Ruge a. a. O. S. 163. 164) und ebendaher
ſchweift es nicht hinweg und hinaus nach einer entlegenen zweiten Vor-
ſtellung, die ſich nicht unterſchieben läßt, ſondern es bleibt bei der Stange
und ſchiebt dem Verirrten, in welchem das Bewußtſeyn der Verirrung
als ein nur mögliches verborgen liegt, ſein eigenes wirkliches eben in dem
Punkte, wo die Verirrung liegt, unter. Wir fanden dies Leihen überhaupt
im Komiſchen, die Ironie aber vollzieht es ausgeſprochener Maßen, hierin
hat Weiße Recht (Aeſth. Th. 1, S. 246) und es wird dies noch als
ausdrückliche Beſtimmung aufgenommen werden. Hier tritt der Begriff
der Folie in ſeine volle Bedeutung: das ſchon fertige Bewußtſeyn des
anſchauenden Subjects ſchimmert in der ironiſchen Darſtellung durch das
trübe des verirrten, als wäre es das eigene des letzteren und man ſieht
doch, es iſt nur untergelegt; man iſt getäuſcht und nicht getäuſcht. Die
Täuſchung wächst an, mit ihr die Enttäuſchung, bis jene reißt und dieſe
hervorſpringt, aber der Rückblick erneuert die Bewegung. Soll nun die
Täuſchung ſteigen, ſo iſt Geduld und Mäßigung, volles Beſcheiden, die
wahre Meinung heraus zu ſagen, durchaus nothwendig; das witzige
Subject muß ganz hinter der Couliſſe ſtehen. Nichts iſt ſchlimmer, als
Herausplatzen mit directem Tadel (wie dies im Aufang des Don Quixote
einmal vorkommt) und allzu lebhaftes Lob. J. Paul (a. a. O. §. 37)
fordert daher den Schein des Ernſtes, um den Ernſt des Scheines zu
treffen. Unter dem Ernſte des Scheines verſteht er eben das Anſichhalten
des Ironikers, der ſein Lachen völlig verbergen muß, und ſagt ſehr wahr,
daß die Ironie deſto ſchwieriger werde, je komiſcher der Gegenſtand ſey.
Er gibt treffliche Beiſpiele der plumpen und der feinen, d. h. wahren
Ironie.

§. 202.

Die Ironie lobt entweder eben die Eigenſchaften des Subjects, die ſie
tadeln will, indem ſie ihnen Gründe vorſtreckt, deren Unhaltbarkeit gerade in

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[437/0451] welche kein Leihen ſeyn kann, daher nur als äußerliches Mittel der treffen- den Spitze dient. Die Ironie nun, zu welcher als höherer Form durch dieſen Mangel der Witz fortgetrieben wird, iſt, um es empiriſch ſogleich zu ſagen, eine ſcheinbar lobende, in Wahrheit tadelnde Darſtellung eines in Häßlichkeit verſtrickten, verirrten Subjects. Es wird nicht etwas Anderes an dieſem, ſondern gerade das Häßliche gelobt. Das thätige Subject, das dies Verfahren vornimmt, hat demnach die Stellung, die es bisher im Witze einnahm, geändert. Es läßt ſich ein, es geht ein auf das verirrte Subject (vergl. Ruge a. a. O. S. 163. 164) und ebendaher ſchweift es nicht hinweg und hinaus nach einer entlegenen zweiten Vor- ſtellung, die ſich nicht unterſchieben läßt, ſondern es bleibt bei der Stange und ſchiebt dem Verirrten, in welchem das Bewußtſeyn der Verirrung als ein nur mögliches verborgen liegt, ſein eigenes wirkliches eben in dem Punkte, wo die Verirrung liegt, unter. Wir fanden dies Leihen überhaupt im Komiſchen, die Ironie aber vollzieht es ausgeſprochener Maßen, hierin hat Weiße Recht (Aeſth. Th. 1, S. 246) und es wird dies noch als ausdrückliche Beſtimmung aufgenommen werden. Hier tritt der Begriff der Folie in ſeine volle Bedeutung: das ſchon fertige Bewußtſeyn des anſchauenden Subjects ſchimmert in der ironiſchen Darſtellung durch das trübe des verirrten, als wäre es das eigene des letzteren und man ſieht doch, es iſt nur untergelegt; man iſt getäuſcht und nicht getäuſcht. Die Täuſchung wächst an, mit ihr die Enttäuſchung, bis jene reißt und dieſe hervorſpringt, aber der Rückblick erneuert die Bewegung. Soll nun die Täuſchung ſteigen, ſo iſt Geduld und Mäßigung, volles Beſcheiden, die wahre Meinung heraus zu ſagen, durchaus nothwendig; das witzige Subject muß ganz hinter der Couliſſe ſtehen. Nichts iſt ſchlimmer, als Herausplatzen mit directem Tadel (wie dies im Aufang des Don Quixote einmal vorkommt) und allzu lebhaftes Lob. J. Paul (a. a. O. §. 37) fordert daher den Schein des Ernſtes, um den Ernſt des Scheines zu treffen. Unter dem Ernſte des Scheines verſteht er eben das Anſichhalten des Ironikers, der ſein Lachen völlig verbergen muß, und ſagt ſehr wahr, daß die Ironie deſto ſchwieriger werde, je komiſcher der Gegenſtand ſey. Er gibt treffliche Beiſpiele der plumpen und der feinen, d. h. wahren Ironie. §. 202. Die Ironie lobt entweder eben die Eigenſchaften des Subjects, die ſie tadeln will, indem ſie ihnen Gründe vorſtreckt, deren Unhaltbarkeit gerade in

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/451>, abgerufen am 19.03.2024.