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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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sondern nur brechen, er soll vernichtet werden. So Hamlet, wenn er
von der schnellen zweiten Heirath seiner Mutter sagt: "Pah! Oekonomie!
Oekonomie! das Gebackene zum Leichenschmaus gab kalte Hochzeitschüsseln."
Dieses Witzwort der Entrüstung scheint zwar derjenigen Art anzugehören,
welche als die schonendere bezeichnet ist, denn es leiht ein Motiv; allein
es leiht ein so unmögliches, aller Anknüpfung entbehrendes, daß es ganz
ebenso wirkt, wie wenn es ohne alle auch nur scheinbare Anknüpfung die
entgegengesetzte Tugend von der verhöhnten Schlechtigkeit ausgesagt hätte.

Ruge (a. a. O. S. 164 ff.) unterscheidet eine milde Ironie, die
das getroffene Subject nicht von sich ausschließt, sondern es an der
Möglichkeit der Besinnung schonend ergreift und zu sich herübernimmt,
und eine scharfe, unerbittliche, kalte: diese, erwartet man, werde als
solche gefaßt, welche jenes Zusammengehen abschneidet, den Gegner stehen
läßt; allein statt dessen hebt er hier nur dieselbe Schärfe hervor, welche
auch der milden Ironie deßwegen inwohnt, weil wirklich die Verirrung
in dem besinnungsfähigen Subjecte nicht geschont werden kann. Er gewinnt
zwar dadurch einen Gattungs-Unterschied, daß die milde Seite gegen den
biegsamen, die scharfe gegen den spröden und unverbesserlichen Gegner
hervortreten soll; für jene führt er den Theätet, für diese den Eutyphron
an. Allein das ironische Subject selbst ist dann doch die Einheit beider
Seiten und läßt nur nach Umständen die eine oder andere vorherrschen:
so Sokrates. Ruge fordert dann nur von der scharfen Ironie, daß sie
sich nicht erbittere, vereinigt sie so mit der milden und geht zum Humor
über. Auf diese Weise hat er aber schon zu viel in der Ironie: eine
ganze Persönlichkeit, welche auch hinter der Schärfe die Gesinnung des
milden Eingehens hegt, also eine Continuität des höheren Bewußtseyns.
Allein wir sind noch im Witze, der seinem Wesen nach vereinzelt und
in welchem ungewiß ist, ob nicht bald blos die scharfe, bald die milde
Ironie, welche freilich die Schärfe auch in sich hat, hervortrete, wir
haben noch keinen Sokrates. Daher unterscheiden wir zunächst nur
zwei Verfahrungsweisen, deren eine in der Schärfe schonend, die andere
schonungslos wirkt, und decken dann den Mangel aller Ironie auf, um
erst zum Humor zu gelangen.

§. 203.

Die Ironie ist in §. 166 als ein Moment in der Bewegung des
Komischen, das ebendadurch auf das Tragische zurückweist, ausgesprochen worden,

ſondern nur brechen, er ſoll vernichtet werden. So Hamlet, wenn er
von der ſchnellen zweiten Heirath ſeiner Mutter ſagt: „Pah! Oekonomie!
Oekonomie! das Gebackene zum Leichenſchmaus gab kalte Hochzeitſchüſſeln.“
Dieſes Witzwort der Entrüſtung ſcheint zwar derjenigen Art anzugehören,
welche als die ſchonendere bezeichnet iſt, denn es leiht ein Motiv; allein
es leiht ein ſo unmögliches, aller Anknüpfung entbehrendes, daß es ganz
ebenſo wirkt, wie wenn es ohne alle auch nur ſcheinbare Anknüpfung die
entgegengeſetzte Tugend von der verhöhnten Schlechtigkeit ausgeſagt hätte.

Ruge (a. a. O. S. 164 ff.) unterſcheidet eine milde Ironie, die
das getroffene Subject nicht von ſich ausſchließt, ſondern es an der
Möglichkeit der Beſinnung ſchonend ergreift und zu ſich herübernimmt,
und eine ſcharfe, unerbittliche, kalte: dieſe, erwartet man, werde als
ſolche gefaßt, welche jenes Zuſammengehen abſchneidet, den Gegner ſtehen
läßt; allein ſtatt deſſen hebt er hier nur dieſelbe Schärfe hervor, welche
auch der milden Ironie deßwegen inwohnt, weil wirklich die Verirrung
in dem beſinnungsfähigen Subjecte nicht geſchont werden kann. Er gewinnt
zwar dadurch einen Gattungs-Unterſchied, daß die milde Seite gegen den
biegſamen, die ſcharfe gegen den ſpröden und unverbeſſerlichen Gegner
hervortreten ſoll; für jene führt er den Theätet, für dieſe den Eutyphron
an. Allein das ironiſche Subject ſelbſt iſt dann doch die Einheit beider
Seiten und läßt nur nach Umſtänden die eine oder andere vorherrſchen:
ſo Sokrates. Ruge fordert dann nur von der ſcharfen Ironie, daß ſie
ſich nicht erbittere, vereinigt ſie ſo mit der milden und geht zum Humor
über. Auf dieſe Weiſe hat er aber ſchon zu viel in der Ironie: eine
ganze Perſönlichkeit, welche auch hinter der Schärfe die Geſinnung des
milden Eingehens hegt, alſo eine Continuität des höheren Bewußtſeyns.
Allein wir ſind noch im Witze, der ſeinem Weſen nach vereinzelt und
in welchem ungewiß iſt, ob nicht bald blos die ſcharfe, bald die milde
Ironie, welche freilich die Schärfe auch in ſich hat, hervortrete, wir
haben noch keinen Sokrates. Daher unterſcheiden wir zunächſt nur
zwei Verfahrungsweiſen, deren eine in der Schärfe ſchonend, die andere
ſchonungslos wirkt, und decken dann den Mangel aller Ironie auf, um
erſt zum Humor zu gelangen.

§. 203.

Die Ironie iſt in §. 166 als ein Moment in der Bewegung des
Komiſchen, das ebendadurch auf das Tragiſche zurückweist, ausgeſprochen worden,

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[439/0453] ſondern nur brechen, er ſoll vernichtet werden. So Hamlet, wenn er von der ſchnellen zweiten Heirath ſeiner Mutter ſagt: „Pah! Oekonomie! Oekonomie! das Gebackene zum Leichenſchmaus gab kalte Hochzeitſchüſſeln.“ Dieſes Witzwort der Entrüſtung ſcheint zwar derjenigen Art anzugehören, welche als die ſchonendere bezeichnet iſt, denn es leiht ein Motiv; allein es leiht ein ſo unmögliches, aller Anknüpfung entbehrendes, daß es ganz ebenſo wirkt, wie wenn es ohne alle auch nur ſcheinbare Anknüpfung die entgegengeſetzte Tugend von der verhöhnten Schlechtigkeit ausgeſagt hätte. Ruge (a. a. O. S. 164 ff.) unterſcheidet eine milde Ironie, die das getroffene Subject nicht von ſich ausſchließt, ſondern es an der Möglichkeit der Beſinnung ſchonend ergreift und zu ſich herübernimmt, und eine ſcharfe, unerbittliche, kalte: dieſe, erwartet man, werde als ſolche gefaßt, welche jenes Zuſammengehen abſchneidet, den Gegner ſtehen läßt; allein ſtatt deſſen hebt er hier nur dieſelbe Schärfe hervor, welche auch der milden Ironie deßwegen inwohnt, weil wirklich die Verirrung in dem beſinnungsfähigen Subjecte nicht geſchont werden kann. Er gewinnt zwar dadurch einen Gattungs-Unterſchied, daß die milde Seite gegen den biegſamen, die ſcharfe gegen den ſpröden und unverbeſſerlichen Gegner hervortreten ſoll; für jene führt er den Theätet, für dieſe den Eutyphron an. Allein das ironiſche Subject ſelbſt iſt dann doch die Einheit beider Seiten und läßt nur nach Umſtänden die eine oder andere vorherrſchen: ſo Sokrates. Ruge fordert dann nur von der ſcharfen Ironie, daß ſie ſich nicht erbittere, vereinigt ſie ſo mit der milden und geht zum Humor über. Auf dieſe Weiſe hat er aber ſchon zu viel in der Ironie: eine ganze Perſönlichkeit, welche auch hinter der Schärfe die Geſinnung des milden Eingehens hegt, alſo eine Continuität des höheren Bewußtſeyns. Allein wir ſind noch im Witze, der ſeinem Weſen nach vereinzelt und in welchem ungewiß iſt, ob nicht bald blos die ſcharfe, bald die milde Ironie, welche freilich die Schärfe auch in ſich hat, hervortrete, wir haben noch keinen Sokrates. Daher unterſcheiden wir zunächſt nur zwei Verfahrungsweiſen, deren eine in der Schärfe ſchonend, die andere ſchonungslos wirkt, und decken dann den Mangel aller Ironie auf, um erſt zum Humor zu gelangen. §. 203. Die Ironie iſt in §. 166 als ein Moment in der Bewegung des Komiſchen, das ebendadurch auf das Tragiſche zurückweist, ausgeſprochen worden,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/453>, abgerufen am 19.03.2024.