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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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selbst als einen Thoren; er erkennt sich so, und dies kann er nicht an-
ders, als wenn er von dem wahren Geiste, der ihn erfüllt, ausgehend
das Niedrige und Unbewußte in sich von dieser Widerlage aus als solches
erkennt. Aber er setzt sich ebendadurch in Einem Athem als weise und
thöricht, denn der so Setzende und so Gesetzte ist derselbe und ebendieser
in Identität zusammenfassende Act ist die Selbstbefreiung. Die Weisheit
und Hohheit setzt sich darin herab und die Thorheit absolvirt sich, "be-
gnadigt sich" (Ruge a. a. O. 186).

2. Die Bestimmtheit des Subjects abgesehen von diesem Acte der
Zusammenfassung seiner selbst wurde ein Seyn genannt. Sie ist freilich
schon Leben und Bewegung, aber noch abgesehen von diesem Acte der
Selbstbefreiung doch erst bloser Stoff. Ebendieses Stoffleben ist es,
wodurch die sinnliche Fülle der Posse wieder in das Komische hereintritt.
Wenn dieser Gehalt vor dem Acte der Zusammenfassung schon Persön-
lichkeit hieß, so ist das Wort noch unbestimmter oder im Vorgriffe jenes
Acts gebraucht; in Wahrheit ist die Persönlichkeit erst da, wo derselbe
irgendwie eingetreten ist, denn sonst fällt sie in ihren Widerspruch ausein-
ander: was bei der Stufe des gebrochenen Humors wieder aufzufassen seyn
wird. Die humoristische Persönlichkeit ist eine sich selbst verarbeitende,
ihre Komik ist die Frucht eines selbsterlebten Kampfes, und so kehrt, was
dem Witze den höheren Werth gibt, das Selbstbewußte seines Thuns
nämlich, in tieferer Weise zurück als ein im Kampfe und in Schmerzen
geborenes Selbstbewußtseyn. Schon darum und noch ehe wir die Aus-
dehnung dieses Bewußtseyns auf die nun in demselben Lichte betrachtete
Welt in's Auge fassen, ist der Humor als ein bewußter Act, als ein
freier Entschluß (J. Paul a. a. O. §. 34) zu fassen, als ein vermittelter,
errungener, bleibender Besitz des Geistes (Ruge a. a. O. S. 184).
Der Humor gehört der Erfahrung, der Bildung, nicht der leichten Un-
schuld der Jugend.

§. 210.

Da aber der sittliche Gehalt dieser Persönlichkeit seinem Wesen nach ein
allgemeiner, ein Zusammenleben mit allem Erhabenen und der Wirklichkeit der
Idee überhaupt ist, und da die Schärfe des Anschauens und Fühlens dem
humoristischen Subjecte alles Kleine, Aermliche und Schlechte aufdeckt, womit
diese in ihrer Verwirklichung überall und immer sich verstrickt, so ist ihm sein
eigenes Selbst nur Bild und Brennpunkt des Widerspruchs, der durch das Welt-

ſelbſt als einen Thoren; er erkennt ſich ſo, und dies kann er nicht an-
ders, als wenn er von dem wahren Geiſte, der ihn erfüllt, ausgehend
das Niedrige und Unbewußte in ſich von dieſer Widerlage aus als ſolches
erkennt. Aber er ſetzt ſich ebendadurch in Einem Athem als weiſe und
thöricht, denn der ſo Setzende und ſo Geſetzte iſt derſelbe und ebendieſer
in Identität zuſammenfaſſende Act iſt die Selbſtbefreiung. Die Weisheit
und Hohheit ſetzt ſich darin herab und die Thorheit abſolvirt ſich, „be-
gnadigt ſich“ (Ruge a. a. O. 186).

2. Die Beſtimmtheit des Subjects abgeſehen von dieſem Acte der
Zuſammenfaſſung ſeiner ſelbſt wurde ein Seyn genannt. Sie iſt freilich
ſchon Leben und Bewegung, aber noch abgeſehen von dieſem Acte der
Selbſtbefreiung doch erſt bloſer Stoff. Ebendieſes Stoffleben iſt es,
wodurch die ſinnliche Fülle der Poſſe wieder in das Komiſche hereintritt.
Wenn dieſer Gehalt vor dem Acte der Zuſammenfaſſung ſchon Perſön-
lichkeit hieß, ſo iſt das Wort noch unbeſtimmter oder im Vorgriffe jenes
Acts gebraucht; in Wahrheit iſt die Perſönlichkeit erſt da, wo derſelbe
irgendwie eingetreten iſt, denn ſonſt fällt ſie in ihren Widerſpruch ausein-
ander: was bei der Stufe des gebrochenen Humors wieder aufzufaſſen ſeyn
wird. Die humoriſtiſche Perſönlichkeit iſt eine ſich ſelbſt verarbeitende,
ihre Komik iſt die Frucht eines ſelbſterlebten Kampfes, und ſo kehrt, was
dem Witze den höheren Werth gibt, das Selbſtbewußte ſeines Thuns
nämlich, in tieferer Weiſe zurück als ein im Kampfe und in Schmerzen
geborenes Selbſtbewußtſeyn. Schon darum und noch ehe wir die Aus-
dehnung dieſes Bewußtſeyns auf die nun in demſelben Lichte betrachtete
Welt in’s Auge faſſen, iſt der Humor als ein bewußter Act, als ein
freier Entſchluß (J. Paul a. a. O. §. 34) zu faſſen, als ein vermittelter,
errungener, bleibender Beſitz des Geiſtes (Ruge a. a. O. S. 184).
Der Humor gehört der Erfahrung, der Bildung, nicht der leichten Un-
ſchuld der Jugend.

§. 210.

Da aber der ſittliche Gehalt dieſer Perſönlichkeit ſeinem Weſen nach ein
allgemeiner, ein Zuſammenleben mit allem Erhabenen und der Wirklichkeit der
Idee überhaupt iſt, und da die Schärfe des Anſchauens und Fühlens dem
humoriſtiſchen Subjecte alles Kleine, Aermliche und Schlechte aufdeckt, womit
dieſe in ihrer Verwirklichung überall und immer ſich verſtrickt, ſo iſt ihm ſein
eigenes Selbſt nur Bild und Brennpunkt des Widerſpruchs, der durch das Welt-

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[450/0464] ſelbſt als einen Thoren; er erkennt ſich ſo, und dies kann er nicht an- ders, als wenn er von dem wahren Geiſte, der ihn erfüllt, ausgehend das Niedrige und Unbewußte in ſich von dieſer Widerlage aus als ſolches erkennt. Aber er ſetzt ſich ebendadurch in Einem Athem als weiſe und thöricht, denn der ſo Setzende und ſo Geſetzte iſt derſelbe und ebendieſer in Identität zuſammenfaſſende Act iſt die Selbſtbefreiung. Die Weisheit und Hohheit ſetzt ſich darin herab und die Thorheit abſolvirt ſich, „be- gnadigt ſich“ (Ruge a. a. O. 186). 2. Die Beſtimmtheit des Subjects abgeſehen von dieſem Acte der Zuſammenfaſſung ſeiner ſelbſt wurde ein Seyn genannt. Sie iſt freilich ſchon Leben und Bewegung, aber noch abgeſehen von dieſem Acte der Selbſtbefreiung doch erſt bloſer Stoff. Ebendieſes Stoffleben iſt es, wodurch die ſinnliche Fülle der Poſſe wieder in das Komiſche hereintritt. Wenn dieſer Gehalt vor dem Acte der Zuſammenfaſſung ſchon Perſön- lichkeit hieß, ſo iſt das Wort noch unbeſtimmter oder im Vorgriffe jenes Acts gebraucht; in Wahrheit iſt die Perſönlichkeit erſt da, wo derſelbe irgendwie eingetreten iſt, denn ſonſt fällt ſie in ihren Widerſpruch ausein- ander: was bei der Stufe des gebrochenen Humors wieder aufzufaſſen ſeyn wird. Die humoriſtiſche Perſönlichkeit iſt eine ſich ſelbſt verarbeitende, ihre Komik iſt die Frucht eines ſelbſterlebten Kampfes, und ſo kehrt, was dem Witze den höheren Werth gibt, das Selbſtbewußte ſeines Thuns nämlich, in tieferer Weiſe zurück als ein im Kampfe und in Schmerzen geborenes Selbſtbewußtſeyn. Schon darum und noch ehe wir die Aus- dehnung dieſes Bewußtſeyns auf die nun in demſelben Lichte betrachtete Welt in’s Auge faſſen, iſt der Humor als ein bewußter Act, als ein freier Entſchluß (J. Paul a. a. O. §. 34) zu faſſen, als ein vermittelter, errungener, bleibender Beſitz des Geiſtes (Ruge a. a. O. S. 184). Der Humor gehört der Erfahrung, der Bildung, nicht der leichten Un- ſchuld der Jugend. §. 210. Da aber der ſittliche Gehalt dieſer Perſönlichkeit ſeinem Weſen nach ein allgemeiner, ein Zuſammenleben mit allem Erhabenen und der Wirklichkeit der Idee überhaupt iſt, und da die Schärfe des Anſchauens und Fühlens dem humoriſtiſchen Subjecte alles Kleine, Aermliche und Schlechte aufdeckt, womit dieſe in ihrer Verwirklichung überall und immer ſich verſtrickt, ſo iſt ihm ſein eigenes Selbſt nur Bild und Brennpunkt des Widerſpruchs, der durch das Welt-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/464>, abgerufen am 19.03.2024.