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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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um noch ein Beispiel anzuführen, die historische Untersuchung gegen das
strenge Gesetz der Farblosigkeit, das die Aesthetik auf das Wesen der
Plastik und weiter zurück auf das bis dahin geschichtlich Bekannte gegründet
hatte, zum Theil umgestossen zu haben. Allein die Thatsache, daß die
Griechen Statuen farbig behandelten, stößt ein auf das Wesen einer
Kunstgattung richtig zurückgeführtes Gesetz nicht um. Vielmehr ist die Kennt-
niß dieses Gesetzes für den ächten Historiker ein Reiz, zu unterscheiden
zwischen den roheren und reineren Producten jener Kunst, und die sparsamen
Andeutungen von Farbe, die man bei den letzteren gefunden hat, stehen
noch nicht in Widerspruch mit jenem Gesetze. Schwierig ist hier
am meisten die Frage über Farbe oder Farblosigkeit des Auges. Darüber
an seinem Orte mehr. Neue Zeiten werden ferner neue Kunstformen
schaffen, die den Begriff nöthigen werden, sich nach dieser Seite zu
erweitern; ist aber die Entwicklung des Begriffs als bewegenden Prinzips
der bisherigen Kunstgeschichte richtig dargestellt, so muß sie auch nach
dieser Seite eine Perspektive in die Zukunft mit sich führen, welche die
Probe der Erfahrung bestehen wird.

Die entsprechende Erfahrungswissenschaft von ihrer Seite entlehnt
von der bereits begründeten philosophischen Wissenschaft eine strengere
Sichtung und Bindung der allgemeinen Standpunkte, welche das ihr
inwohnende, wiewohl nur discursive Denken schon gefunden hat, besteht
aber in ihrer Unabhängigkeit fort. Wie nothwendig diese Freiheit der
Empirie in ihrer Trennung von der Speculation, wie heilsam für beide
Theile, wie förderlich selbst für den möglichen Grad der Vereinigung
beider, braucht hier nicht dargethan zu werden.

§. 7.

Die philosophische Wissenschaft hat aber die Ansammlung von empirischem
Stoffe bis auf einen gewissen Punkt deswegen abzuwarten, weil der allgemeine
Begriff eben in demselben seine Wirklichkeit hat. Wenn sie daher diesen, von
der Empirie ausgehend, aber diesen Ausgang wieder aufhebend, im Elemente
des Gedankens frei erzeugt hat, so muß sie ihn als Grund seiner Wirklichkeit
weiter entwickeln, in die Gegensätze seines geschichtlichen Daseyns verfolgen, und
so nimmt sie den durch die Erfahrung gegebenen Stoff wieder auf, jedoch nicht
nur als einen begriffenen und daher in seinem Wesen umgewandelten, sondern
ebendaher auch in seiner Ausdehnung beschränkt auf die für das Entwicklungs-
gesetz schlechthin bezeichnenden Momente. Die Aesthetik verhält sich daher in

um noch ein Beiſpiel anzuführen, die hiſtoriſche Unterſuchung gegen das
ſtrenge Geſetz der Farbloſigkeit, das die Aeſthetik auf das Weſen der
Plaſtik und weiter zurück auf das bis dahin geſchichtlich Bekannte gegründet
hatte, zum Theil umgeſtoſſen zu haben. Allein die Thatſache, daß die
Griechen Statuen farbig behandelten, ſtößt ein auf das Weſen einer
Kunſtgattung richtig zurückgeführtes Geſetz nicht um. Vielmehr iſt die Kennt-
niß dieſes Geſetzes für den ächten Hiſtoriker ein Reiz, zu unterſcheiden
zwiſchen den roheren und reineren Producten jener Kunſt, und die ſparſamen
Andeutungen von Farbe, die man bei den letzteren gefunden hat, ſtehen
noch nicht in Widerſpruch mit jenem Geſetze. Schwierig iſt hier
am meiſten die Frage über Farbe oder Farbloſigkeit des Auges. Darüber
an ſeinem Orte mehr. Neue Zeiten werden ferner neue Kunſtformen
ſchaffen, die den Begriff nöthigen werden, ſich nach dieſer Seite zu
erweitern; iſt aber die Entwicklung des Begriffs als bewegenden Prinzips
der bisherigen Kunſtgeſchichte richtig dargeſtellt, ſo muß ſie auch nach
dieſer Seite eine Perſpektive in die Zukunft mit ſich führen, welche die
Probe der Erfahrung beſtehen wird.

Die entſprechende Erfahrungswiſſenſchaft von ihrer Seite entlehnt
von der bereits begründeten philoſophiſchen Wiſſenſchaft eine ſtrengere
Sichtung und Bindung der allgemeinen Standpunkte, welche das ihr
inwohnende, wiewohl nur discurſive Denken ſchon gefunden hat, beſteht
aber in ihrer Unabhängigkeit fort. Wie nothwendig dieſe Freiheit der
Empirie in ihrer Trennung von der Speculation, wie heilſam für beide
Theile, wie förderlich ſelbſt für den möglichen Grad der Vereinigung
beider, braucht hier nicht dargethan zu werden.

§. 7.

Die philoſophiſche Wiſſenſchaft hat aber die Anſammlung von empiriſchem
Stoffe bis auf einen gewiſſen Punkt deswegen abzuwarten, weil der allgemeine
Begriff eben in demſelben ſeine Wirklichkeit hat. Wenn ſie daher dieſen, von
der Empirie ausgehend, aber dieſen Ausgang wieder aufhebend, im Elemente
des Gedankens frei erzeugt hat, ſo muß ſie ihn als Grund ſeiner Wirklichkeit
weiter entwickeln, in die Gegenſätze ſeines geſchichtlichen Daſeyns verfolgen, und
ſo nimmt ſie den durch die Erfahrung gegebenen Stoff wieder auf, jedoch nicht
nur als einen begriffenen und daher in ſeinem Weſen umgewandelten, ſondern
ebendaher auch in ſeiner Ausdehnung beſchränkt auf die für das Entwicklungs-
geſetz ſchlechthin bezeichnenden Momente. Die Aeſthetik verhält ſich daher in

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[34/0048] um noch ein Beiſpiel anzuführen, die hiſtoriſche Unterſuchung gegen das ſtrenge Geſetz der Farbloſigkeit, das die Aeſthetik auf das Weſen der Plaſtik und weiter zurück auf das bis dahin geſchichtlich Bekannte gegründet hatte, zum Theil umgeſtoſſen zu haben. Allein die Thatſache, daß die Griechen Statuen farbig behandelten, ſtößt ein auf das Weſen einer Kunſtgattung richtig zurückgeführtes Geſetz nicht um. Vielmehr iſt die Kennt- niß dieſes Geſetzes für den ächten Hiſtoriker ein Reiz, zu unterſcheiden zwiſchen den roheren und reineren Producten jener Kunſt, und die ſparſamen Andeutungen von Farbe, die man bei den letzteren gefunden hat, ſtehen noch nicht in Widerſpruch mit jenem Geſetze. Schwierig iſt hier am meiſten die Frage über Farbe oder Farbloſigkeit des Auges. Darüber an ſeinem Orte mehr. Neue Zeiten werden ferner neue Kunſtformen ſchaffen, die den Begriff nöthigen werden, ſich nach dieſer Seite zu erweitern; iſt aber die Entwicklung des Begriffs als bewegenden Prinzips der bisherigen Kunſtgeſchichte richtig dargeſtellt, ſo muß ſie auch nach dieſer Seite eine Perſpektive in die Zukunft mit ſich führen, welche die Probe der Erfahrung beſtehen wird. Die entſprechende Erfahrungswiſſenſchaft von ihrer Seite entlehnt von der bereits begründeten philoſophiſchen Wiſſenſchaft eine ſtrengere Sichtung und Bindung der allgemeinen Standpunkte, welche das ihr inwohnende, wiewohl nur discurſive Denken ſchon gefunden hat, beſteht aber in ihrer Unabhängigkeit fort. Wie nothwendig dieſe Freiheit der Empirie in ihrer Trennung von der Speculation, wie heilſam für beide Theile, wie förderlich ſelbſt für den möglichen Grad der Vereinigung beider, braucht hier nicht dargethan zu werden. §. 7. Die philoſophiſche Wiſſenſchaft hat aber die Anſammlung von empiriſchem Stoffe bis auf einen gewiſſen Punkt deswegen abzuwarten, weil der allgemeine Begriff eben in demſelben ſeine Wirklichkeit hat. Wenn ſie daher dieſen, von der Empirie ausgehend, aber dieſen Ausgang wieder aufhebend, im Elemente des Gedankens frei erzeugt hat, ſo muß ſie ihn als Grund ſeiner Wirklichkeit weiter entwickeln, in die Gegenſätze ſeines geſchichtlichen Daſeyns verfolgen, und ſo nimmt ſie den durch die Erfahrung gegebenen Stoff wieder auf, jedoch nicht nur als einen begriffenen und daher in ſeinem Weſen umgewandelten, ſondern ebendaher auch in ſeiner Ausdehnung beſchränkt auf die für das Entwicklungs- geſetz ſchlechthin bezeichnenden Momente. Die Aeſthetik verhält ſich daher in

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/48>, abgerufen am 19.03.2024.