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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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"frei gelassenes Spiel" stellt auch J. Paul das Vergnügen vom Lächer-
lichen dar (a. a. O. §. 30), nur daß er einseitig den Verstand als die
entfesselte Kraft ansieht; er sagt, das Komische gleite ohne Frictionen
der Vernunft und des Herzens vorüber und der Verstand bewege sich
in einem weiten luftigen Reiche frei umher, ohne sich an etwas zu stoßen.
Der Verstand ist aber im komischen Vorgange nur thätig, den Wider-
spruch aufzuspüren, und hat so freilich die besondere Genugthuung, die
im Erhabenen ihm ganz verweigert ist, aber mit ihm ist wesentlich die
Sinnlichkeit entbunden, auf welcher er ja an sich schon ruht. Es sind
die Kräfte, welche im Begrenzten heimisch sind, die das Komische aus-
drücklich in ihr Recht einsetzt. Allein es hat sich oben (§. 179, Anm. 1)
auch gezeigt, daß Vernunft und Herz dabei keineswegs leer ausgehen. Das
Begrenzte wird als begrenzt ganz ausdrücklich empfunden und erkannt,
doch aber sammt seinem Widerspruch, ja vermöge desselben als erfülltes
Subject des Unbegrenzten, was die Vernunft erhebt und das Herz er-
wärmt. Diese sind nun freilich im Genusse wesentlich mitbetheiligt, aber
die ganze Bewegung in demselben ist eine gegensätzliche und diese Gegen-
sätzlichkeit ist, weit entfernt, ohne Friction zu seyn, vielmehr zunächst die
härteste Friction zwischen den Kräften der Grenze und den Kräften des
Unbegrenzten. Der Fluß des komischen Genusses schäumt über eine
Wehr. Dieser Bruch scheint ihm seine ästhetische Einheit zu nehmen,
allein der Schaum selbst ist die Einheit, oder der Funke, der durch die
Reibung hervorgerufen wird. Alles Gegensätzliche hebt sich auf in dem
reinen Genusse der Freiheit, welche das Subject des bewegten Spieles ist.
Hierin ist kein Gegensatz mehr; das Ich, das sich durch ihn bewegt,
fühlt sich als ganzes Wesen, als Vernunftwesen und als empirisches
Einzelwesen zugleich, völlig freigelassen, und nun wird erst klar,
warum der Eindruck in die Tiefen des körperlichen Daseyns steigt und
indem er gerade die Theile ergreift, welche als Sitz der niedrigen Be-
gierde gelten, sie von dem Gefühle der stoffartigen Schwere durch sein
wohlthätiges Schütteln befreit. Dies hat Weiße hervorgehoben (Aesth.
Th. 1, S. 219--221).

§. 227.

Das objectiv Komische bewirkt ein volles Lachen ohne Rückhalt, das
andauert, wie die Breite des sinnlichen Vorgangs, der es erregt, es mit sich
bringt. Der Witz ist es vorzüglich, der plötzlich und rasch vorübergehend wirkt.

„frei gelaſſenes Spiel“ ſtellt auch J. Paul das Vergnügen vom Lächer-
lichen dar (a. a. O. §. 30), nur daß er einſeitig den Verſtand als die
entfeſſelte Kraft anſieht; er ſagt, das Komiſche gleite ohne Frictionen
der Vernunft und des Herzens vorüber und der Verſtand bewege ſich
in einem weiten luftigen Reiche frei umher, ohne ſich an etwas zu ſtoßen.
Der Verſtand iſt aber im komiſchen Vorgange nur thätig, den Wider-
ſpruch aufzuſpüren, und hat ſo freilich die beſondere Genugthuung, die
im Erhabenen ihm ganz verweigert iſt, aber mit ihm iſt weſentlich die
Sinnlichkeit entbunden, auf welcher er ja an ſich ſchon ruht. Es ſind
die Kräfte, welche im Begrenzten heimiſch ſind, die das Komiſche aus-
drücklich in ihr Recht einſetzt. Allein es hat ſich oben (§. 179, Anm. 1)
auch gezeigt, daß Vernunft und Herz dabei keineswegs leer ausgehen. Das
Begrenzte wird als begrenzt ganz ausdrücklich empfunden und erkannt,
doch aber ſammt ſeinem Widerſpruch, ja vermöge deſſelben als erfülltes
Subject des Unbegrenzten, was die Vernunft erhebt und das Herz er-
wärmt. Dieſe ſind nun freilich im Genuſſe weſentlich mitbetheiligt, aber
die ganze Bewegung in demſelben iſt eine gegenſätzliche und dieſe Gegen-
ſätzlichkeit iſt, weit entfernt, ohne Friction zu ſeyn, vielmehr zunächſt die
härteſte Friction zwiſchen den Kräften der Grenze und den Kräften des
Unbegrenzten. Der Fluß des komiſchen Genuſſes ſchäumt über eine
Wehr. Dieſer Bruch ſcheint ihm ſeine äſthetiſche Einheit zu nehmen,
allein der Schaum ſelbſt iſt die Einheit, oder der Funke, der durch die
Reibung hervorgerufen wird. Alles Gegenſätzliche hebt ſich auf in dem
reinen Genuſſe der Freiheit, welche das Subject des bewegten Spieles iſt.
Hierin iſt kein Gegenſatz mehr; das Ich, das ſich durch ihn bewegt,
fühlt ſich als ganzes Weſen, als Vernunftweſen und als empiriſches
Einzelweſen zugleich, völlig freigelaſſen, und nun wird erſt klar,
warum der Eindruck in die Tiefen des körperlichen Daſeyns ſteigt und
indem er gerade die Theile ergreift, welche als Sitz der niedrigen Be-
gierde gelten, ſie von dem Gefühle der ſtoffartigen Schwere durch ſein
wohlthätiges Schütteln befreit. Dies hat Weiße hervorgehoben (Aeſth.
Th. 1, S. 219—221).

§. 227.

Das objectiv Komiſche bewirkt ein volles Lachen ohne Rückhalt, das
andauert, wie die Breite des ſinnlichen Vorgangs, der es erregt, es mit ſich
bringt. Der Witz iſt es vorzüglich, der plötzlich und raſch vorübergehend wirkt.

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[479/0493] „frei gelaſſenes Spiel“ ſtellt auch J. Paul das Vergnügen vom Lächer- lichen dar (a. a. O. §. 30), nur daß er einſeitig den Verſtand als die entfeſſelte Kraft anſieht; er ſagt, das Komiſche gleite ohne Frictionen der Vernunft und des Herzens vorüber und der Verſtand bewege ſich in einem weiten luftigen Reiche frei umher, ohne ſich an etwas zu ſtoßen. Der Verſtand iſt aber im komiſchen Vorgange nur thätig, den Wider- ſpruch aufzuſpüren, und hat ſo freilich die beſondere Genugthuung, die im Erhabenen ihm ganz verweigert iſt, aber mit ihm iſt weſentlich die Sinnlichkeit entbunden, auf welcher er ja an ſich ſchon ruht. Es ſind die Kräfte, welche im Begrenzten heimiſch ſind, die das Komiſche aus- drücklich in ihr Recht einſetzt. Allein es hat ſich oben (§. 179, Anm. 1) auch gezeigt, daß Vernunft und Herz dabei keineswegs leer ausgehen. Das Begrenzte wird als begrenzt ganz ausdrücklich empfunden und erkannt, doch aber ſammt ſeinem Widerſpruch, ja vermöge deſſelben als erfülltes Subject des Unbegrenzten, was die Vernunft erhebt und das Herz er- wärmt. Dieſe ſind nun freilich im Genuſſe weſentlich mitbetheiligt, aber die ganze Bewegung in demſelben iſt eine gegenſätzliche und dieſe Gegen- ſätzlichkeit iſt, weit entfernt, ohne Friction zu ſeyn, vielmehr zunächſt die härteſte Friction zwiſchen den Kräften der Grenze und den Kräften des Unbegrenzten. Der Fluß des komiſchen Genuſſes ſchäumt über eine Wehr. Dieſer Bruch ſcheint ihm ſeine äſthetiſche Einheit zu nehmen, allein der Schaum ſelbſt iſt die Einheit, oder der Funke, der durch die Reibung hervorgerufen wird. Alles Gegenſätzliche hebt ſich auf in dem reinen Genuſſe der Freiheit, welche das Subject des bewegten Spieles iſt. Hierin iſt kein Gegenſatz mehr; das Ich, das ſich durch ihn bewegt, fühlt ſich als ganzes Weſen, als Vernunftweſen und als empiriſches Einzelweſen zugleich, völlig freigelaſſen, und nun wird erſt klar, warum der Eindruck in die Tiefen des körperlichen Daſeyns ſteigt und indem er gerade die Theile ergreift, welche als Sitz der niedrigen Be- gierde gelten, ſie von dem Gefühle der ſtoffartigen Schwere durch ſein wohlthätiges Schütteln befreit. Dies hat Weiße hervorgehoben (Aeſth. Th. 1, S. 219—221). §. 227. Das objectiv Komiſche bewirkt ein volles Lachen ohne Rückhalt, das andauert, wie die Breite des ſinnlichen Vorgangs, der es erregt, es mit ſich bringt. Der Witz iſt es vorzüglich, der plötzlich und raſch vorübergehend wirkt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/493>, abgerufen am 19.03.2024.