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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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und das Resultat der Bewegung. Das Bild ist negirt im Erhabenen,
die Idee im Komischen, die Idee behauptet ihr Vorrecht im Erhabenen,
das Bild im Komischen; die Momente haben den möglichen Stellen-
wechsel erschöpft und mit doppelten Zinsen jedes seinen verkürzten Besitz
zurückerhalten; die arme Seele hat also Ruhe und zurücktretend in ihre
Linie formiren die Momente wieder das ganze Schöne. Der Satz:
duplex negatio affirmat galt sonst für einen blos formal logischen; hier
zeigt sich seine objective Wahrheit. Die Negation war zwar jedesmal
nur Negation des einen Moments im Schönen, da aber dieses nur in
der reinen Einheit beider besteht, so war jedesmal das ganze Schöne
negirt, d. h. nicht vernichtet, aber wesentlich verletzt und dadurch sogleich
in die Bewegung versetzt, die Verletzung wiederherzustellen. Wäre im
Erhabenen und Komischen nicht diese Bewegung, so wäre jedesmal das
Schöne vernichtet, aber die eindringende Negation ist bereits auch die
Nothwendigkeit ihrer eigenen Aufhebung.

§. 231.

1

Diese ursprüngliche Einheit ist aber jetzt eine andere geworden, sie hat
die in ihr eingeschlossenen Gegensätze entfaltet und kehrt als ihr eigenes Er-
gebniß in sich als vermittelte oder erfüllte Einheit zurück. Als solche ist sie
jedoch nicht eine neue, besondere Gestalt im Schönen; die ursprüngliche Einheit
oder das einfach Schöne wird zwar durch sie zu einer solchen herabgesetzt (§. 73, 1
§. 117, 3), sie selbst aber ist nichts Anderes als der Geist des Ganzen, der eben in
2diesen Gegensätzen da ist, sie durchläuft und aus ihnen in sich zurückkehrt. Diese
lebendige Einheit ist als Einheit des Objectiven und Subjectiven zu begreifen,
denn das Erhabene, obwohl selbst Subject, ist Ausschließung des Subjects in
seiner Zufälligkeit, das Komische aber ist Ausschließung der Idee als objectiver
3Macht durch dieses. Soll sich nun das Schöne weiter bewegen, so kann es dies
nur als Ganzes und zwar nach dem Gesetze, daß der durch die Entfaltung aller
seiner Momente erfüllte Begriff über sich selbst, d. h. über die Abstraction
seiner Allgemeinheit, sich hinausbewegt in die Form seines unmittelbaren Da-
seyns.

1. Das End-Ergebniß ist der Geist des Ganzen und keine beson-
dere Gestalt. Eine schöne Erscheinung, ein Kunstwerk, kann kampflos
Schönes, Erhabenes, Komisches hervortreten lassen, aber die Schönheit,

und das Reſultat der Bewegung. Das Bild iſt negirt im Erhabenen,
die Idee im Komiſchen, die Idee behauptet ihr Vorrecht im Erhabenen,
das Bild im Komiſchen; die Momente haben den möglichen Stellen-
wechſel erſchöpft und mit doppelten Zinſen jedes ſeinen verkürzten Beſitz
zurückerhalten; die arme Seele hat alſo Ruhe und zurücktretend in ihre
Linie formiren die Momente wieder das ganze Schöne. Der Satz:
duplex negatio affirmat galt ſonſt für einen blos formal logiſchen; hier
zeigt ſich ſeine objective Wahrheit. Die Negation war zwar jedesmal
nur Negation des einen Moments im Schönen, da aber dieſes nur in
der reinen Einheit beider beſteht, ſo war jedesmal das ganze Schöne
negirt, d. h. nicht vernichtet, aber weſentlich verletzt und dadurch ſogleich
in die Bewegung verſetzt, die Verletzung wiederherzuſtellen. Wäre im
Erhabenen und Komiſchen nicht dieſe Bewegung, ſo wäre jedesmal das
Schöne vernichtet, aber die eindringende Negation iſt bereits auch die
Nothwendigkeit ihrer eigenen Aufhebung.

§. 231.

1

Dieſe urſprüngliche Einheit iſt aber jetzt eine andere geworden, ſie hat
die in ihr eingeſchloſſenen Gegenſätze entfaltet und kehrt als ihr eigenes Er-
gebniß in ſich als vermittelte oder erfüllte Einheit zurück. Als ſolche iſt ſie
jedoch nicht eine neue, beſondere Geſtalt im Schönen; die urſprüngliche Einheit
oder das einfach Schöne wird zwar durch ſie zu einer ſolchen herabgeſetzt (§. 73, 1
§. 117, 3), ſie ſelbſt aber iſt nichts Anderes als der Geiſt des Ganzen, der eben in
2dieſen Gegenſätzen da iſt, ſie durchläuft und aus ihnen in ſich zurückkehrt. Dieſe
lebendige Einheit iſt als Einheit des Objectiven und Subjectiven zu begreifen,
denn das Erhabene, obwohl ſelbſt Subject, iſt Ausſchließung des Subjects in
ſeiner Zufälligkeit, das Komiſche aber iſt Ausſchließung der Idee als objectiver
3Macht durch dieſes. Soll ſich nun das Schöne weiter bewegen, ſo kann es dies
nur als Ganzes und zwar nach dem Geſetze, daß der durch die Entfaltung aller
ſeiner Momente erfüllte Begriff über ſich ſelbſt, d. h. über die Abſtraction
ſeiner Allgemeinheit, ſich hinausbewegt in die Form ſeines unmittelbaren Da-
ſeyns.

1. Das End-Ergebniß iſt der Geiſt des Ganzen und keine beſon-
dere Geſtalt. Eine ſchöne Erſcheinung, ein Kunſtwerk, kann kampflos
Schönes, Erhabenes, Komiſches hervortreten laſſen, aber die Schönheit,

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[486/0500] und das Reſultat der Bewegung. Das Bild iſt negirt im Erhabenen, die Idee im Komiſchen, die Idee behauptet ihr Vorrecht im Erhabenen, das Bild im Komiſchen; die Momente haben den möglichen Stellen- wechſel erſchöpft und mit doppelten Zinſen jedes ſeinen verkürzten Beſitz zurückerhalten; die arme Seele hat alſo Ruhe und zurücktretend in ihre Linie formiren die Momente wieder das ganze Schöne. Der Satz: duplex negatio affirmat galt ſonſt für einen blos formal logiſchen; hier zeigt ſich ſeine objective Wahrheit. Die Negation war zwar jedesmal nur Negation des einen Moments im Schönen, da aber dieſes nur in der reinen Einheit beider beſteht, ſo war jedesmal das ganze Schöne negirt, d. h. nicht vernichtet, aber weſentlich verletzt und dadurch ſogleich in die Bewegung verſetzt, die Verletzung wiederherzuſtellen. Wäre im Erhabenen und Komiſchen nicht dieſe Bewegung, ſo wäre jedesmal das Schöne vernichtet, aber die eindringende Negation iſt bereits auch die Nothwendigkeit ihrer eigenen Aufhebung. §. 231. Dieſe urſprüngliche Einheit iſt aber jetzt eine andere geworden, ſie hat die in ihr eingeſchloſſenen Gegenſätze entfaltet und kehrt als ihr eigenes Er- gebniß in ſich als vermittelte oder erfüllte Einheit zurück. Als ſolche iſt ſie jedoch nicht eine neue, beſondere Geſtalt im Schönen; die urſprüngliche Einheit oder das einfach Schöne wird zwar durch ſie zu einer ſolchen herabgeſetzt (§. 73, 1 §. 117, 3), ſie ſelbſt aber iſt nichts Anderes als der Geiſt des Ganzen, der eben in dieſen Gegenſätzen da iſt, ſie durchläuft und aus ihnen in ſich zurückkehrt. Dieſe lebendige Einheit iſt als Einheit des Objectiven und Subjectiven zu begreifen, denn das Erhabene, obwohl ſelbſt Subject, iſt Ausſchließung des Subjects in ſeiner Zufälligkeit, das Komiſche aber iſt Ausſchließung der Idee als objectiver Macht durch dieſes. Soll ſich nun das Schöne weiter bewegen, ſo kann es dies nur als Ganzes und zwar nach dem Geſetze, daß der durch die Entfaltung aller ſeiner Momente erfüllte Begriff über ſich ſelbſt, d. h. über die Abſtraction ſeiner Allgemeinheit, ſich hinausbewegt in die Form ſeines unmittelbaren Da- ſeyns. 1. Das End-Ergebniß iſt der Geiſt des Ganzen und keine beſon- dere Geſtalt. Eine ſchöne Erſcheinung, ein Kunſtwerk, kann kampflos Schönes, Erhabenes, Komiſches hervortreten laſſen, aber die Schönheit,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/500>, abgerufen am 19.03.2024.