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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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aufhebenden) Vermittlung aufzuführen und davon in diesem Zusammen-
hang
zu abstrahiren war, daß im strengsten Sinne unmittelbar allerdings
vielmehr die der Kunst vorangehende Form der Religion ist. Daher heißt
es im §.: "die Form der Unmittelbarkeit oder der Anschauung"; die Un-
bestimmtheit, die darin liegt, wird in der weiteren Entwicklung verschwinden.

§. 13.

Diesem Gesetze entsprechend erzeugt sich ihm der Schein, daß ein Einzelnes1
in der Begrenzung von Zeit und Raum Daseyendes seinem Begriffe schlechthin
entspreche, daß also in ihm zunächst eine bestimmte Idee und dadurch mittelbar
die absolute Idee vollkommen verwirklicht sey. Dies ist zwar insofern ein bloser2
Schein, als in keinem einzelnen Wesen seine Idee vollkommen gegenwärtig ist;
da aber die absolute Idee nicht eine leere Vorstellung, sondern allerdings im
Daseyn, nur nicht im einzelnen, wahrhaft wirklich ist, so ist es inhalts-
voller Schein oder Erscheinung. Diese Erscheinung ist das Schöne.

1. "Erzeugt sich ihm der Schein." Absichtlich unbestimmt, sonst
wäre zu sagen: er erzeugt sich den Schein. Es wird hier immer noch
die Ansicht freigegeben, als ob dem Geiste dieser Schein von aussen
gegeben sey, im Naturschönen. Eigentlich ist es ein Schein anderer Art, ein
Schein, als sey der wahrhaft gesuchte Schein von selbst da, daß wir meinen,
die Schönheit sey eine vorgefundene; er rührt daher, daß der Act, wodurch
wir die Natur unter den Standpunkt der Schönheit rücken, ein unbe-
wußter ist: -- was Alles hier noch nicht erörtert werden kann. --

Der Schein besteht darin, daß ein in Raum und Zeit Daseyendes
Alles zu erschöpfen scheint, was unter reinster Vereinigung seines Begriffs
(seiner Gattung mit allen in ihr enthaltenen Momenten und Merkmalen)
und seiner Wirklichkeit gedacht wird, d. h. was in seiner Idee liegt.
Ganz derselbe Gedanke ist ausgesprochen von Schelling (System des
transc. Idealism. S. 473, 474): "durch die objective Welt als Ganzes,
niemals aber durch das einzelne Object wird ein Unendliches dargestellt,
während dagegen als Product der Kunst jedes einzelne Object die
Unendlichkeit darstellt."

2. Bloser Schein ist hierin nur das, daß dieses Einzelne mangel-
lose Darstellung der reinen Harmonie zwischen dem Begriff und der
Wirklichkeit sey. Der ganze Umfang und Verlauf des Lebens stellt
aber, wiewohl wir in unendlichem Progresse und daher nicht in be-

aufhebenden) Vermittlung aufzuführen und davon in dieſem Zuſammen-
hang
zu abſtrahiren war, daß im ſtrengſten Sinne unmittelbar allerdings
vielmehr die der Kunſt vorangehende Form der Religion iſt. Daher heißt
es im §.: „die Form der Unmittelbarkeit oder der Anſchauung“; die Un-
beſtimmtheit, die darin liegt, wird in der weiteren Entwicklung verſchwinden.

§. 13.

Dieſem Geſetze entſprechend erzeugt ſich ihm der Schein, daß ein Einzelnes1
in der Begrenzung von Zeit und Raum Daſeyendes ſeinem Begriffe ſchlechthin
entſpreche, daß alſo in ihm zunächſt eine beſtimmte Idee und dadurch mittelbar
die abſolute Idee vollkommen verwirklicht ſey. Dies iſt zwar inſofern ein bloſer2
Schein, als in keinem einzelnen Weſen ſeine Idee vollkommen gegenwärtig iſt;
da aber die abſolute Idee nicht eine leere Vorſtellung, ſondern allerdings im
Daſeyn, nur nicht im einzelnen, wahrhaft wirklich iſt, ſo iſt es inhalts-
voller Schein oder Erſcheinung. Dieſe Erſcheinung iſt das Schöne.

1. „Erzeugt ſich ihm der Schein.“ Abſichtlich unbeſtimmt, ſonſt
wäre zu ſagen: er erzeugt ſich den Schein. Es wird hier immer noch
die Anſicht freigegeben, als ob dem Geiſte dieſer Schein von auſſen
gegeben ſey, im Naturſchönen. Eigentlich iſt es ein Schein anderer Art, ein
Schein, als ſey der wahrhaft geſuchte Schein von ſelbſt da, daß wir meinen,
die Schönheit ſey eine vorgefundene; er rührt daher, daß der Act, wodurch
wir die Natur unter den Standpunkt der Schönheit rücken, ein unbe-
wußter iſt: — was Alles hier noch nicht erörtert werden kann. —

Der Schein beſteht darin, daß ein in Raum und Zeit Daſeyendes
Alles zu erſchöpfen ſcheint, was unter reinſter Vereinigung ſeines Begriffs
(ſeiner Gattung mit allen in ihr enthaltenen Momenten und Merkmalen)
und ſeiner Wirklichkeit gedacht wird, d. h. was in ſeiner Idee liegt.
Ganz derſelbe Gedanke iſt ausgeſprochen von Schelling (Syſtem des
tranſc. Idealism. S. 473, 474): „durch die objective Welt als Ganzes,
niemals aber durch das einzelne Object wird ein Unendliches dargeſtellt,
während dagegen als Product der Kunſt jedes einzelne Object die
Unendlichkeit darſtellt.“

2. Bloſer Schein iſt hierin nur das, daß dieſes Einzelne mangel-
loſe Darſtellung der reinen Harmonie zwiſchen dem Begriff und der
Wirklichkeit ſey. Der ganze Umfang und Verlauf des Lebens ſtellt
aber, wiewohl wir in unendlichem Progreſſe und daher nicht in be-

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[53/0067] aufhebenden) Vermittlung aufzuführen und davon in dieſem Zuſammen- hang zu abſtrahiren war, daß im ſtrengſten Sinne unmittelbar allerdings vielmehr die der Kunſt vorangehende Form der Religion iſt. Daher heißt es im §.: „die Form der Unmittelbarkeit oder der Anſchauung“; die Un- beſtimmtheit, die darin liegt, wird in der weiteren Entwicklung verſchwinden. §. 13. Dieſem Geſetze entſprechend erzeugt ſich ihm der Schein, daß ein Einzelnes in der Begrenzung von Zeit und Raum Daſeyendes ſeinem Begriffe ſchlechthin entſpreche, daß alſo in ihm zunächſt eine beſtimmte Idee und dadurch mittelbar die abſolute Idee vollkommen verwirklicht ſey. Dies iſt zwar inſofern ein bloſer Schein, als in keinem einzelnen Weſen ſeine Idee vollkommen gegenwärtig iſt; da aber die abſolute Idee nicht eine leere Vorſtellung, ſondern allerdings im Daſeyn, nur nicht im einzelnen, wahrhaft wirklich iſt, ſo iſt es inhalts- voller Schein oder Erſcheinung. Dieſe Erſcheinung iſt das Schöne. 1. „Erzeugt ſich ihm der Schein.“ Abſichtlich unbeſtimmt, ſonſt wäre zu ſagen: er erzeugt ſich den Schein. Es wird hier immer noch die Anſicht freigegeben, als ob dem Geiſte dieſer Schein von auſſen gegeben ſey, im Naturſchönen. Eigentlich iſt es ein Schein anderer Art, ein Schein, als ſey der wahrhaft geſuchte Schein von ſelbſt da, daß wir meinen, die Schönheit ſey eine vorgefundene; er rührt daher, daß der Act, wodurch wir die Natur unter den Standpunkt der Schönheit rücken, ein unbe- wußter iſt: — was Alles hier noch nicht erörtert werden kann. — Der Schein beſteht darin, daß ein in Raum und Zeit Daſeyendes Alles zu erſchöpfen ſcheint, was unter reinſter Vereinigung ſeines Begriffs (ſeiner Gattung mit allen in ihr enthaltenen Momenten und Merkmalen) und ſeiner Wirklichkeit gedacht wird, d. h. was in ſeiner Idee liegt. Ganz derſelbe Gedanke iſt ausgeſprochen von Schelling (Syſtem des tranſc. Idealism. S. 473, 474): „durch die objective Welt als Ganzes, niemals aber durch das einzelne Object wird ein Unendliches dargeſtellt, während dagegen als Product der Kunſt jedes einzelne Object die Unendlichkeit darſtellt.“ 2. Bloſer Schein iſt hierin nur das, daß dieſes Einzelne mangel- loſe Darſtellung der reinen Harmonie zwiſchen dem Begriff und der Wirklichkeit ſey. Der ganze Umfang und Verlauf des Lebens ſtellt aber, wiewohl wir in unendlichem Progreſſe und daher nicht in be-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/67>, abgerufen am 19.03.2024.