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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Reichthums, indem sie das Feindselige und Bedürftige in diesem Ver-
hältniß ausscheidet, den menschlichen Leib z. B. darstellt als begünstigt
von den umgebenden Elementen und gesund. Sie hat (im Tragischen
und Komischen) freilich auch verstärkte Abhängigkeit darzustellen; dieß ge-
hört aber in einen andern Zusammenhang, wo sich zeigen muß, daß
hier die Bedürftigkeit nur um so tiefer überwunden wird. Löst nun die
Schönheit so den Gegenstand von dem Hintergrunde der Bedürftigkeiten
ab, so sollte man meinen, um so weniger weise er über sich hinaus,
also um so weniger führe er in das Absolute. Aber umgekehrt, je
mächtiger er die fließenden Kräfte des Ganzen in sich zur Selbständigkeit
bindet, desto mehr sehe ich: das Ganze ersteigt wohl höhere Stufen, jede
aber ist recht und gut und selbst ein Ganzes im Ganzen. Diese Erhöhung
bewirkt, wie sich zeigen wird, die Phantasie. Danzel sagt an einer andern
Stelle (S. 38. ff.), Hegel habe die Anschauung vorneherein zu niedrig
gefaßt. Sie ist an ihrer Stelle vergleichungsweise niedrig, aber sie kehrt
bereichert als Phantasie zurück; diese bereicherte Rückkehr des Niedrigeren
herrscht im ganzen System und Danzel hat sie nicht widerlegt. Die
Anschauung schaut nicht nur das Sinnliche, sie erinnert sich nur noch nicht,
daß sie in diesem unendlich mehr sieht; als Phantasie erhebt sie sich dahin.
Danzel behauptet, eben diese Erhebung sey gar nicht deducirt. Hievon
muß in der Lehre von der Phantasie die Rede werden. Zuzugeben ist:
in der Encyclopädie ist die Deduction skizzenhaft, wie natürlich, der
Aesthetik gereicht es zu großem Tadel, daß sie ganz fehlt; aber keineswegs
ist sie, wie Danzel behauptet, durch die Prämissen des Systems abgeschnitten.

§. 16.

Die Idee ist streng zu unterscheiden vom abstracten Begriff. Abstracte1
Begriffe sind alle diejenigen Bestimmungen des Denkens, welche blos ein all-
gemeines Moment enthalten, das zu dem Inbegriffe dessen, was ein selbständiges
lebendiges Wesen in sich vereinigt, und wodurch es in Beziehung zu anderen
tritt, mitgehört, aber ein solches nicht ausmacht. Dieser Inbegriff dagegen,2
sofern er gedacht wird als in der Objectivität völlig durchgeführt, heißt Idee;
die Welt der Ideen und ebenhiemit des Schönen beginnt daher erst mit den
Reichen des Lebens und auch das Lebendige darf nicht durch bloße Auffassung
einer Beziehung unter eine abstracte Kategorie fallen, sondern muß in seiner
Selbständigkeit erscheinen. Dies Alles folgt nothwendig aus der Begriffsbe-
stimmung §. 14.


Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 5

Reichthums, indem ſie das Feindſelige und Bedürftige in dieſem Ver-
hältniß ausſcheidet, den menſchlichen Leib z. B. darſtellt als begünſtigt
von den umgebenden Elementen und geſund. Sie hat (im Tragiſchen
und Komiſchen) freilich auch verſtärkte Abhängigkeit darzuſtellen; dieß ge-
hört aber in einen andern Zuſammenhang, wo ſich zeigen muß, daß
hier die Bedürftigkeit nur um ſo tiefer überwunden wird. Löst nun die
Schönheit ſo den Gegenſtand von dem Hintergrunde der Bedürftigkeiten
ab, ſo ſollte man meinen, um ſo weniger weiſe er über ſich hinaus,
alſo um ſo weniger führe er in das Abſolute. Aber umgekehrt, je
mächtiger er die fließenden Kräfte des Ganzen in ſich zur Selbſtändigkeit
bindet, deſto mehr ſehe ich: das Ganze erſteigt wohl höhere Stufen, jede
aber iſt recht und gut und ſelbſt ein Ganzes im Ganzen. Dieſe Erhöhung
bewirkt, wie ſich zeigen wird, die Phantaſie. Danzel ſagt an einer andern
Stelle (S. 38. ff.), Hegel habe die Anſchauung vorneherein zu niedrig
gefaßt. Sie iſt an ihrer Stelle vergleichungsweiſe niedrig, aber ſie kehrt
bereichert als Phantaſie zurück; dieſe bereicherte Rückkehr des Niedrigeren
herrſcht im ganzen Syſtem und Danzel hat ſie nicht widerlegt. Die
Anſchauung ſchaut nicht nur das Sinnliche, ſie erinnert ſich nur noch nicht,
daß ſie in dieſem unendlich mehr ſieht; als Phantaſie erhebt ſie ſich dahin.
Danzel behauptet, eben dieſe Erhebung ſey gar nicht deducirt. Hievon
muß in der Lehre von der Phantaſie die Rede werden. Zuzugeben iſt:
in der Encyclopädie iſt die Deduction ſkizzenhaft, wie natürlich, der
Aeſthetik gereicht es zu großem Tadel, daß ſie ganz fehlt; aber keineswegs
iſt ſie, wie Danzel behauptet, durch die Prämiſſen des Syſtems abgeſchnitten.

§. 16.

Die Idee iſt ſtreng zu unterſcheiden vom abſtracten Begriff. Abſtracte1
Begriffe ſind alle diejenigen Beſtimmungen des Denkens, welche blos ein all-
gemeines Moment enthalten, das zu dem Inbegriffe deſſen, was ein ſelbſtändiges
lebendiges Weſen in ſich vereinigt, und wodurch es in Beziehung zu anderen
tritt, mitgehört, aber ein ſolches nicht ausmacht. Dieſer Inbegriff dagegen,2
ſofern er gedacht wird als in der Objectivität völlig durchgeführt, heißt Idee;
die Welt der Ideen und ebenhiemit des Schönen beginnt daher erſt mit den
Reichen des Lebens und auch das Lebendige darf nicht durch bloße Auffaſſung
einer Beziehung unter eine abſtracte Kategorie fallen, ſondern muß in ſeiner
Selbſtändigkeit erſcheinen. Dies Alles folgt nothwendig aus der Begriffsbe-
ſtimmung §. 14.


Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 5
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[65/0079] Reichthums, indem ſie das Feindſelige und Bedürftige in dieſem Ver- hältniß ausſcheidet, den menſchlichen Leib z. B. darſtellt als begünſtigt von den umgebenden Elementen und geſund. Sie hat (im Tragiſchen und Komiſchen) freilich auch verſtärkte Abhängigkeit darzuſtellen; dieß ge- hört aber in einen andern Zuſammenhang, wo ſich zeigen muß, daß hier die Bedürftigkeit nur um ſo tiefer überwunden wird. Löst nun die Schönheit ſo den Gegenſtand von dem Hintergrunde der Bedürftigkeiten ab, ſo ſollte man meinen, um ſo weniger weiſe er über ſich hinaus, alſo um ſo weniger führe er in das Abſolute. Aber umgekehrt, je mächtiger er die fließenden Kräfte des Ganzen in ſich zur Selbſtändigkeit bindet, deſto mehr ſehe ich: das Ganze erſteigt wohl höhere Stufen, jede aber iſt recht und gut und ſelbſt ein Ganzes im Ganzen. Dieſe Erhöhung bewirkt, wie ſich zeigen wird, die Phantaſie. Danzel ſagt an einer andern Stelle (S. 38. ff.), Hegel habe die Anſchauung vorneherein zu niedrig gefaßt. Sie iſt an ihrer Stelle vergleichungsweiſe niedrig, aber ſie kehrt bereichert als Phantaſie zurück; dieſe bereicherte Rückkehr des Niedrigeren herrſcht im ganzen Syſtem und Danzel hat ſie nicht widerlegt. Die Anſchauung ſchaut nicht nur das Sinnliche, ſie erinnert ſich nur noch nicht, daß ſie in dieſem unendlich mehr ſieht; als Phantaſie erhebt ſie ſich dahin. Danzel behauptet, eben dieſe Erhebung ſey gar nicht deducirt. Hievon muß in der Lehre von der Phantaſie die Rede werden. Zuzugeben iſt: in der Encyclopädie iſt die Deduction ſkizzenhaft, wie natürlich, der Aeſthetik gereicht es zu großem Tadel, daß ſie ganz fehlt; aber keineswegs iſt ſie, wie Danzel behauptet, durch die Prämiſſen des Syſtems abgeſchnitten. §. 16. Die Idee iſt ſtreng zu unterſcheiden vom abſtracten Begriff. Abſtracte Begriffe ſind alle diejenigen Beſtimmungen des Denkens, welche blos ein all- gemeines Moment enthalten, das zu dem Inbegriffe deſſen, was ein ſelbſtändiges lebendiges Weſen in ſich vereinigt, und wodurch es in Beziehung zu anderen tritt, mitgehört, aber ein ſolches nicht ausmacht. Dieſer Inbegriff dagegen, ſofern er gedacht wird als in der Objectivität völlig durchgeführt, heißt Idee; die Welt der Ideen und ebenhiemit des Schönen beginnt daher erſt mit den Reichen des Lebens und auch das Lebendige darf nicht durch bloße Auffaſſung einer Beziehung unter eine abſtracte Kategorie fallen, ſondern muß in ſeiner Selbſtändigkeit erſcheinen. Dies Alles folgt nothwendig aus der Begriffsbe- ſtimmung §. 14. Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 5

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/79>, abgerufen am 19.03.2024.