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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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einen äußern Zweck da ist, ist kein Lebendiges. Daher müssen z. B. Thiere
in ihrer Freiheit erscheinen, oder, wenn verwendet zum Dienste und Ver-
gnügen des Menschen, als frei und ungezwungen auch in diesem Ver-
hältniß. Was das Erstere betrifft, so denke man z. B. nur an die
gewaltigen Schilderungen wilder Thiere im Hiob, was das Zweite, an
die des Pferdes ebendaselbst. Auch aus dem geistigen Leben können wieder
Momente ausgezogen werden, welche nur Verhältnisse und Formen ent-
halten, in welche die Persönlichkeit -- denn dies ist hier die Idee --
nicht ihre Totalität legen kann. Dies hat das weitere System nachzuweisen.

§. 17.

Die Idee bestimmt sich demnach als Gattung und dieses Wort begreift in1
sich zunächst die Reihe der Ideen innerhalb der Grenze, wo sich die Idee erst
noch als bewußtlose Lebenskraft verwirklicht. Jede Gattung aber ist die Be-2
sonderung oder Art einer höheren Gattung und diese aufsteigende Linie, welche
jedoch bei der inneren Einheit, die ihr Grund ist, die Unterschiede ihrer
Gattungen und Arten festhält und nicht die eine aus der andern natürlich er-
zeugt, und welche sich durch feste, nur durch Andeutungen des Uebergangs ge-
öffnete, Grenzen in geschlossene, die großen Hauptstufen darstellende Sphären und
umfassendere Reiche theilt, ist die Stufenfolge, in welcher die absolute Idee
ihren Gehalt in wachsender Tiefe und Fülle verwirklicht. Je höher in dieser3
Reihe eine Idee steht, desto größer muß auch die Schönheit seyn, aber auch je
die niedrigere enthält die wesentliche Bedingung der Schönheit, weil jede ein
integrirendes Glied ist in der Totalität der Ideen.

1. idea, eidos, Gattung. Die deutsche Sprache hat kein anderes
Wort als dieses, um das Allgemeine als wirkliches Lebensprinzip der
Sphäre, in der es sich verwirklicht, zu bezeichnen. Gattung wird nun
zwar wohl auch von den Sphären des geistigen Lebens gebraucht,
zunächst aber erinnert das Wort durch seinen Ursprung immer an das
Naturleben, wie es einen bestimmten Typus durch die Fortzeugung ge-
trennter Geschlechter bildet und erhält, kann jedoch auch für die
Formen des unorganischen und die niedrigeren des organischen Lebens
gelten, welche sich nicht durch den geschlechtlichen Prozeß fortpflanzen. Der
§. überblickt das Naturleben, den Menschen als bloßes Naturwesen mit
eingeschlossen. Die Aesthetik setzt das System der philosophischen Wissen-
schaften, hier also zunächst die Naturwissenschaft, voraus. Ist aber nicht

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einen äußern Zweck da iſt, iſt kein Lebendiges. Daher müſſen z. B. Thiere
in ihrer Freiheit erſcheinen, oder, wenn verwendet zum Dienſte und Ver-
gnügen des Menſchen, als frei und ungezwungen auch in dieſem Ver-
hältniß. Was das Erſtere betrifft, ſo denke man z. B. nur an die
gewaltigen Schilderungen wilder Thiere im Hiob, was das Zweite, an
die des Pferdes ebendaſelbſt. Auch aus dem geiſtigen Leben können wieder
Momente ausgezogen werden, welche nur Verhältniſſe und Formen ent-
halten, in welche die Perſönlichkeit — denn dies iſt hier die Idee —
nicht ihre Totalität legen kann. Dies hat das weitere Syſtem nachzuweiſen.

§. 17.

Die Idee beſtimmt ſich demnach als Gattung und dieſes Wort begreift in1
ſich zunächſt die Reihe der Ideen innerhalb der Grenze, wo ſich die Idee erſt
noch als bewußtloſe Lebenskraft verwirklicht. Jede Gattung aber iſt die Be-2
ſonderung oder Art einer höheren Gattung und dieſe aufſteigende Linie, welche
jedoch bei der inneren Einheit, die ihr Grund iſt, die Unterſchiede ihrer
Gattungen und Arten feſthält und nicht die eine aus der andern natürlich er-
zeugt, und welche ſich durch feſte, nur durch Andeutungen des Uebergangs ge-
öffnete, Grenzen in geſchloſſene, die großen Hauptſtufen darſtellende Sphären und
umfaſſendere Reiche theilt, iſt die Stufenfolge, in welcher die abſolute Idee
ihren Gehalt in wachſender Tiefe und Fülle verwirklicht. Je höher in dieſer3
Reihe eine Idee ſteht, deſto größer muß auch die Schönheit ſeyn, aber auch je
die niedrigere enthält die weſentliche Bedingung der Schönheit, weil jede ein
integrirendes Glied iſt in der Totalität der Ideen.

1. ἰδέα, εἶδος, Gattung. Die deutſche Sprache hat kein anderes
Wort als dieſes, um das Allgemeine als wirkliches Lebensprinzip der
Sphäre, in der es ſich verwirklicht, zu bezeichnen. Gattung wird nun
zwar wohl auch von den Sphären des geiſtigen Lebens gebraucht,
zunächſt aber erinnert das Wort durch ſeinen Urſprung immer an das
Naturleben, wie es einen beſtimmten Typus durch die Fortzeugung ge-
trennter Geſchlechter bildet und erhält, kann jedoch auch für die
Formen des unorganiſchen und die niedrigeren des organiſchen Lebens
gelten, welche ſich nicht durch den geſchlechtlichen Prozeß fortpflanzen. Der
§. überblickt das Naturleben, den Menſchen als bloßes Naturweſen mit
eingeſchloſſen. Die Aeſthetik ſetzt das Syſtem der philoſophiſchen Wiſſen-
ſchaften, hier alſo zunächſt die Naturwiſſenſchaft, voraus. Iſt aber nicht

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[67/0081] einen äußern Zweck da iſt, iſt kein Lebendiges. Daher müſſen z. B. Thiere in ihrer Freiheit erſcheinen, oder, wenn verwendet zum Dienſte und Ver- gnügen des Menſchen, als frei und ungezwungen auch in dieſem Ver- hältniß. Was das Erſtere betrifft, ſo denke man z. B. nur an die gewaltigen Schilderungen wilder Thiere im Hiob, was das Zweite, an die des Pferdes ebendaſelbſt. Auch aus dem geiſtigen Leben können wieder Momente ausgezogen werden, welche nur Verhältniſſe und Formen ent- halten, in welche die Perſönlichkeit — denn dies iſt hier die Idee — nicht ihre Totalität legen kann. Dies hat das weitere Syſtem nachzuweiſen. §. 17. Die Idee beſtimmt ſich demnach als Gattung und dieſes Wort begreift in ſich zunächſt die Reihe der Ideen innerhalb der Grenze, wo ſich die Idee erſt noch als bewußtloſe Lebenskraft verwirklicht. Jede Gattung aber iſt die Be- ſonderung oder Art einer höheren Gattung und dieſe aufſteigende Linie, welche jedoch bei der inneren Einheit, die ihr Grund iſt, die Unterſchiede ihrer Gattungen und Arten feſthält und nicht die eine aus der andern natürlich er- zeugt, und welche ſich durch feſte, nur durch Andeutungen des Uebergangs ge- öffnete, Grenzen in geſchloſſene, die großen Hauptſtufen darſtellende Sphären und umfaſſendere Reiche theilt, iſt die Stufenfolge, in welcher die abſolute Idee ihren Gehalt in wachſender Tiefe und Fülle verwirklicht. Je höher in dieſer Reihe eine Idee ſteht, deſto größer muß auch die Schönheit ſeyn, aber auch je die niedrigere enthält die weſentliche Bedingung der Schönheit, weil jede ein integrirendes Glied iſt in der Totalität der Ideen. 1. ἰδέα, εἶδος, Gattung. Die deutſche Sprache hat kein anderes Wort als dieſes, um das Allgemeine als wirkliches Lebensprinzip der Sphäre, in der es ſich verwirklicht, zu bezeichnen. Gattung wird nun zwar wohl auch von den Sphären des geiſtigen Lebens gebraucht, zunächſt aber erinnert das Wort durch ſeinen Urſprung immer an das Naturleben, wie es einen beſtimmten Typus durch die Fortzeugung ge- trennter Geſchlechter bildet und erhält, kann jedoch auch für die Formen des unorganiſchen und die niedrigeren des organiſchen Lebens gelten, welche ſich nicht durch den geſchlechtlichen Prozeß fortpflanzen. Der §. überblickt das Naturleben, den Menſchen als bloßes Naturweſen mit eingeſchloſſen. Die Aeſthetik ſetzt das Syſtem der philoſophiſchen Wiſſen- ſchaften, hier alſo zunächſt die Naturwiſſenſchaft, voraus. Iſt aber nicht 5*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/81>, abgerufen am 19.03.2024.