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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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den besonderen Kreisen der Familie, der Gewerbsthätigkeit, der Kriegs-
bestimmung, der Schule, der Kirche u. s. w.

§. 22.

Indem die Idee sich zuletzt in höchster Bedeutung als der sich verwirk-1
lichende sittliche Zweck, hiemit als das Gute dargestellt hat, so ist das Schöne
seinem Gehalte nach einfach als identisch mit diesem zu fassen. Selbst das2
Reich, worin sich die Idee erst als unbewußte Lebenskraft ausführt (§. 17.)
kann in dem Sinne unter den Begriff des Guten gestellt werden, daß dieses
unbewußte Leben nach der einen Seite ebensosehr die werdende Persönlichkeit
ankündigt (§. 19.), als es nach der andern, weil es die Entzweiung derselben
noch nicht in sich trägt, durch die feste Geschlossenheit und Bestimmtheit seiner
Gestaltungen sogar als ein vorgezeichnetes Bild der Persönlichkeit erscheint, wie
sie ihren sittlichen Zweck bereits verwirklicht und sich zu einem festen Ganzen
mit sich zusammengeschlossen hat.

1. Es handelt sich hier nur um den Gehalt des Schönen, und so lange
blos von diesem die Rede ist, muß die im §. ausgesprochene Identität
mit dem Guten behauptet werden. Einschränkungen, die jedoch schon
§. 20, 2 berührt wurden, sind im folg. §. wieder bis auf einen gewissen
Punkt aufzufassen.

2. Auch die Natur kann unter dem Standpunkt des Guten be-
trachtet werden. Die Alten standen wesentlich auf diesem Standpunkte
und vergötterten daher die Naturkräfte. In der Natur ahnt sich die
Persönlichkeit; als wirkliche ist sie eine geistige Verwendung und Umbil-
dung von Naturkräften, die als ihre Grundlage und ihr Material auch
vom Standpunkte der Religion des Geistes zu verehren sind. Allerdings
scheint eben so gut das Umgekehrte zu folgen: die Selbständigkeit der
Natur verschwindet, wenn sie um eines Andern, um des Geistes willen
da ist, ihre Stufen und Gattungen verflüchtigen alle Grenzen, wenn sie
nur über sich hinausweisen sollen. Allein die Natur ist eben deßwegen,
weil sie als noch verhüllter Geist auch die Entzweiung des Bewußtseyns
noch nicht in sich hat, einfach, compact, gesättigt und saftig in sich.
Ihre Stufen weisen über sich hinaus, dies sehen aber nur wir, die
Geistigen, ihnen an; sie selbst verfallen zwar der creatürlichen Angst
der bewußtlosen Existenz, jedoch nur in dem Moment, wo ihnen das
Schicksal der Nothwendigkeit von außen kommt, sie sind übrigens ganz

den beſonderen Kreiſen der Familie, der Gewerbsthätigkeit, der Kriegs-
beſtimmung, der Schule, der Kirche u. ſ. w.

§. 22.

Indem die Idee ſich zuletzt in höchſter Bedeutung als der ſich verwirk-1
lichende ſittliche Zweck, hiemit als das Gute dargeſtellt hat, ſo iſt das Schöne
ſeinem Gehalte nach einfach als identiſch mit dieſem zu faſſen. Selbſt das2
Reich, worin ſich die Idee erſt als unbewußte Lebenskraft ausführt (§. 17.)
kann in dem Sinne unter den Begriff des Guten geſtellt werden, daß dieſes
unbewußte Leben nach der einen Seite ebenſoſehr die werdende Perſönlichkeit
ankündigt (§. 19.), als es nach der andern, weil es die Entzweiung derſelben
noch nicht in ſich trägt, durch die feſte Geſchloſſenheit und Beſtimmtheit ſeiner
Geſtaltungen ſogar als ein vorgezeichnetes Bild der Perſönlichkeit erſcheint, wie
ſie ihren ſittlichen Zweck bereits verwirklicht und ſich zu einem feſten Ganzen
mit ſich zuſammengeſchloſſen hat.

1. Es handelt ſich hier nur um den Gehalt des Schönen, und ſo lange
blos von dieſem die Rede iſt, muß die im §. ausgeſprochene Identität
mit dem Guten behauptet werden. Einſchränkungen, die jedoch ſchon
§. 20, 2 berührt wurden, ſind im folg. §. wieder bis auf einen gewiſſen
Punkt aufzufaſſen.

2. Auch die Natur kann unter dem Standpunkt des Guten be-
trachtet werden. Die Alten ſtanden weſentlich auf dieſem Standpunkte
und vergötterten daher die Naturkräfte. In der Natur ahnt ſich die
Perſönlichkeit; als wirkliche iſt ſie eine geiſtige Verwendung und Umbil-
dung von Naturkräften, die als ihre Grundlage und ihr Material auch
vom Standpunkte der Religion des Geiſtes zu verehren ſind. Allerdings
ſcheint eben ſo gut das Umgekehrte zu folgen: die Selbſtändigkeit der
Natur verſchwindet, wenn ſie um eines Andern, um des Geiſtes willen
da iſt, ihre Stufen und Gattungen verflüchtigen alle Grenzen, wenn ſie
nur über ſich hinausweiſen ſollen. Allein die Natur iſt eben deßwegen,
weil ſie als noch verhüllter Geiſt auch die Entzweiung des Bewußtſeyns
noch nicht in ſich hat, einfach, compact, geſättigt und ſaftig in ſich.
Ihre Stufen weiſen über ſich hinaus, dies ſehen aber nur wir, die
Geiſtigen, ihnen an; ſie ſelbſt verfallen zwar der creatürlichen Angſt
der bewußtloſen Exiſtenz, jedoch nur in dem Moment, wo ihnen das
Schickſal der Nothwendigkeit von außen kommt, ſie ſind übrigens ganz

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[77/0091] den beſonderen Kreiſen der Familie, der Gewerbsthätigkeit, der Kriegs- beſtimmung, der Schule, der Kirche u. ſ. w. §. 22. Indem die Idee ſich zuletzt in höchſter Bedeutung als der ſich verwirk- lichende ſittliche Zweck, hiemit als das Gute dargeſtellt hat, ſo iſt das Schöne ſeinem Gehalte nach einfach als identiſch mit dieſem zu faſſen. Selbſt das Reich, worin ſich die Idee erſt als unbewußte Lebenskraft ausführt (§. 17.) kann in dem Sinne unter den Begriff des Guten geſtellt werden, daß dieſes unbewußte Leben nach der einen Seite ebenſoſehr die werdende Perſönlichkeit ankündigt (§. 19.), als es nach der andern, weil es die Entzweiung derſelben noch nicht in ſich trägt, durch die feſte Geſchloſſenheit und Beſtimmtheit ſeiner Geſtaltungen ſogar als ein vorgezeichnetes Bild der Perſönlichkeit erſcheint, wie ſie ihren ſittlichen Zweck bereits verwirklicht und ſich zu einem feſten Ganzen mit ſich zuſammengeſchloſſen hat. 1. Es handelt ſich hier nur um den Gehalt des Schönen, und ſo lange blos von dieſem die Rede iſt, muß die im §. ausgeſprochene Identität mit dem Guten behauptet werden. Einſchränkungen, die jedoch ſchon §. 20, 2 berührt wurden, ſind im folg. §. wieder bis auf einen gewiſſen Punkt aufzufaſſen. 2. Auch die Natur kann unter dem Standpunkt des Guten be- trachtet werden. Die Alten ſtanden weſentlich auf dieſem Standpunkte und vergötterten daher die Naturkräfte. In der Natur ahnt ſich die Perſönlichkeit; als wirkliche iſt ſie eine geiſtige Verwendung und Umbil- dung von Naturkräften, die als ihre Grundlage und ihr Material auch vom Standpunkte der Religion des Geiſtes zu verehren ſind. Allerdings ſcheint eben ſo gut das Umgekehrte zu folgen: die Selbſtändigkeit der Natur verſchwindet, wenn ſie um eines Andern, um des Geiſtes willen da iſt, ihre Stufen und Gattungen verflüchtigen alle Grenzen, wenn ſie nur über ſich hinausweiſen ſollen. Allein die Natur iſt eben deßwegen, weil ſie als noch verhüllter Geiſt auch die Entzweiung des Bewußtſeyns noch nicht in ſich hat, einfach, compact, geſättigt und ſaftig in ſich. Ihre Stufen weiſen über ſich hinaus, dies ſehen aber nur wir, die Geiſtigen, ihnen an; ſie ſelbſt verfallen zwar der creatürlichen Angſt der bewußtloſen Exiſtenz, jedoch nur in dem Moment, wo ihnen das Schickſal der Nothwendigkeit von außen kommt, ſie ſind übrigens ganz

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/91>, abgerufen am 19.03.2024.