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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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tivem Geist sich zum absoluten Geiste auflöst. Diese Gewißheit selbst bewegt
sich durch verschiedene Stufen; sie bestimmt sich als Glaube in der Reli-
gion, und da dieser Glaube die Wirklichkeit der Idee unter der Form der
Einzelheit auffaßt, die Schönheit aber ebenfalls ein Schein ist, als sey diese
Wirklichkeit im Punkte einer Einzelheit beschlossen, so folgt, daß beide Weisen
des absoluten Geistes seyen, die in wesentlicher Verwandtschaft stehen. Der
Unterschied zwischen beiden Weisen, der es nicht erlaubt, dies Verhältniß
anders zu bezeichnen, ist hier noch nicht zu untersuchen.

Die Religion und die Schönheit sind die zwei ersten unmittelbaren
Formen des absoluten Geistes. Der absolute Geist gibt sich das Wissen
von der Wirklichkeit der absoluten Idee; dieses Wissen hat in jenen
beiden Sphären noch die Bestimmtheit des Unmittelbaren, welche nicht
Wissen, sondern nur Gewißheit zu nennen ist. Beide erzeugen den
Schein, als sey die Wirklichkeit der Idee in einem Einzelnen beschlossen.
Dieser Schein ist aber in beiden verschiedener Art; der Unterschied ist
durch die Bezeichnung der Religion als Glauben angedeutet, kann aber
hier noch nicht erörtert werden, wo vom Gehalte, nicht von der Form
die Rede ist. Es leuchtet also ein, daß Religion und Schönheit densel-
ben Gehalt haben, und daß auch ihre Form eine verwandte ist (bei
diesem unbestimmten Ausdruck muß es vorläufig bleiben). Allerdings
wird sich bei der Erörterung des Unterschieds zeigen, daß mit der Form
auch der Inhalt sich ändert, es ist aber Inhalt von Inhalt, d. h.
es ist verborgener oder Grund-Inhalt zu unterscheiden von dem
Inhalt, der ins Bewußtseyn tritt; der letztere kann auch zur Form
gezogen werden.

§. 27.

1

Diese Verwandtschaft wird sich als thätiges Verhältniß zwischen beiden
dahin bestimmen, daß die Religion dem Schönen denselben Inhalt, den das
Schöne ohnedies auch hat, die Wirklichkeit der Idee nämlich, als einen im
2Sinne des absoluten Geistes bereits geformten überliefert. Meint man, die
Schönheit empfange von der Religion in diesem so geformten Gehalt einen von
dieser in Erfahrung gebrachten, außer ihr und der Kunst vorhandenen neuen
Gegenstand, so entsteht der Fehler einer theologischen Ableitung des Schönen.
3Es wird sich aber auch zeigen, daß selbst jene Gemeinschaft des Stoffes eben

tivem Geiſt ſich zum abſoluten Geiſte auflöst. Dieſe Gewißheit ſelbſt bewegt
ſich durch verſchiedene Stufen; ſie beſtimmt ſich als Glaube in der Reli-
gion, und da dieſer Glaube die Wirklichkeit der Idee unter der Form der
Einzelheit auffaßt, die Schönheit aber ebenfalls ein Schein iſt, als ſey dieſe
Wirklichkeit im Punkte einer Einzelheit beſchloſſen, ſo folgt, daß beide Weiſen
des abſoluten Geiſtes ſeyen, die in weſentlicher Verwandtſchaft ſtehen. Der
Unterſchied zwiſchen beiden Weiſen, der es nicht erlaubt, dies Verhältniß
anders zu bezeichnen, iſt hier noch nicht zu unterſuchen.

Die Religion und die Schönheit ſind die zwei erſten unmittelbaren
Formen des abſoluten Geiſtes. Der abſolute Geiſt gibt ſich das Wiſſen
von der Wirklichkeit der abſoluten Idee; dieſes Wiſſen hat in jenen
beiden Sphären noch die Beſtimmtheit des Unmittelbaren, welche nicht
Wiſſen, ſondern nur Gewißheit zu nennen iſt. Beide erzeugen den
Schein, als ſey die Wirklichkeit der Idee in einem Einzelnen beſchloſſen.
Dieſer Schein iſt aber in beiden verſchiedener Art; der Unterſchied iſt
durch die Bezeichnung der Religion als Glauben angedeutet, kann aber
hier noch nicht erörtert werden, wo vom Gehalte, nicht von der Form
die Rede iſt. Es leuchtet alſo ein, daß Religion und Schönheit denſel-
ben Gehalt haben, und daß auch ihre Form eine verwandte iſt (bei
dieſem unbeſtimmten Ausdruck muß es vorläufig bleiben). Allerdings
wird ſich bei der Erörterung des Unterſchieds zeigen, daß mit der Form
auch der Inhalt ſich ändert, es iſt aber Inhalt von Inhalt, d. h.
es iſt verborgener oder Grund-Inhalt zu unterſcheiden von dem
Inhalt, der ins Bewußtſeyn tritt; der letztere kann auch zur Form
gezogen werden.

§. 27.

1

Dieſe Verwandtſchaft wird ſich als thätiges Verhältniß zwiſchen beiden
dahin beſtimmen, daß die Religion dem Schönen denſelben Inhalt, den das
Schöne ohnedies auch hat, die Wirklichkeit der Idee nämlich, als einen im
2Sinne des abſoluten Geiſtes bereits geformten überliefert. Meint man, die
Schönheit empfange von der Religion in dieſem ſo geformten Gehalt einen von
dieſer in Erfahrung gebrachten, außer ihr und der Kunſt vorhandenen neuen
Gegenſtand, ſo entſteht der Fehler einer theologiſchen Ableitung des Schönen.
3Es wird ſich aber auch zeigen, daß ſelbſt jene Gemeinſchaft des Stoffes eben

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[84/0098] tivem Geiſt ſich zum abſoluten Geiſte auflöst. Dieſe Gewißheit ſelbſt bewegt ſich durch verſchiedene Stufen; ſie beſtimmt ſich als Glaube in der Reli- gion, und da dieſer Glaube die Wirklichkeit der Idee unter der Form der Einzelheit auffaßt, die Schönheit aber ebenfalls ein Schein iſt, als ſey dieſe Wirklichkeit im Punkte einer Einzelheit beſchloſſen, ſo folgt, daß beide Weiſen des abſoluten Geiſtes ſeyen, die in weſentlicher Verwandtſchaft ſtehen. Der Unterſchied zwiſchen beiden Weiſen, der es nicht erlaubt, dies Verhältniß anders zu bezeichnen, iſt hier noch nicht zu unterſuchen. Die Religion und die Schönheit ſind die zwei erſten unmittelbaren Formen des abſoluten Geiſtes. Der abſolute Geiſt gibt ſich das Wiſſen von der Wirklichkeit der abſoluten Idee; dieſes Wiſſen hat in jenen beiden Sphären noch die Beſtimmtheit des Unmittelbaren, welche nicht Wiſſen, ſondern nur Gewißheit zu nennen iſt. Beide erzeugen den Schein, als ſey die Wirklichkeit der Idee in einem Einzelnen beſchloſſen. Dieſer Schein iſt aber in beiden verſchiedener Art; der Unterſchied iſt durch die Bezeichnung der Religion als Glauben angedeutet, kann aber hier noch nicht erörtert werden, wo vom Gehalte, nicht von der Form die Rede iſt. Es leuchtet alſo ein, daß Religion und Schönheit denſel- ben Gehalt haben, und daß auch ihre Form eine verwandte iſt (bei dieſem unbeſtimmten Ausdruck muß es vorläufig bleiben). Allerdings wird ſich bei der Erörterung des Unterſchieds zeigen, daß mit der Form auch der Inhalt ſich ändert, es iſt aber Inhalt von Inhalt, d. h. es iſt verborgener oder Grund-Inhalt zu unterſcheiden von dem Inhalt, der ins Bewußtſeyn tritt; der letztere kann auch zur Form gezogen werden. §. 27. Dieſe Verwandtſchaft wird ſich als thätiges Verhältniß zwiſchen beiden dahin beſtimmen, daß die Religion dem Schönen denſelben Inhalt, den das Schöne ohnedies auch hat, die Wirklichkeit der Idee nämlich, als einen im Sinne des abſoluten Geiſtes bereits geformten überliefert. Meint man, die Schönheit empfange von der Religion in dieſem ſo geformten Gehalt einen von dieſer in Erfahrung gebrachten, außer ihr und der Kunſt vorhandenen neuen Gegenſtand, ſo entſteht der Fehler einer theologiſchen Ableitung des Schönen. Es wird ſich aber auch zeigen, daß ſelbſt jene Gemeinſchaft des Stoffes eben

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/98>, abgerufen am 28.03.2024.