Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Guten im Sinne von §. 22, 2 und des Guts §. 23 erscheint als Widerspruch
zwischen der Gattung und ihrer Wirklichkeit in den Individuen.

1. Es ist davon noch nicht die Rede gewesen, wie sich zu den
§. 31--33 aufgeführten Formen der Zufälligkeit die Macht der Gattung
verhalte. Das Verhältniß zwischen dieser und jener ist §. 35 als ein
Gegensatz, aber nicht als ein Widerspruch bezeichnet und der Voraus-
setzung Raum gelassen, daß die Gattung den Zufall in sich aufzunehmen
und zu bezwingen vermöge; worauf aber erst unter C. einzugehen ist.
Eigentlich ist durch jene Sätze noch gar nicht ausgesprochen, daß solches
in die Gattung eindringe, was ihr fremd ist oder fremd bleibt.

2. Es geht aber aus dem Zusammenseyn jeder einzelnen Gattung
mit allen andern in demselben Raume und derselben Zeit nothwendig
eine Collision hervor, wodurch Fremdes und unüberwindlich Feindseliges
in ihre Wirklichkeit eindringt. Jede Gattung ist in sich und als Stufe
des Ganzen vernünftig, aber dieß ist ihr ewiges, außerzeitliches Seyn
als Idee. In ihrer Verwirklichung geräth sie in jenes Gedränge,
worin neben diesem Stufensystem ein ganz anderes Verhältniß, ein Ver-
hältniß außer der Linie und ein unvernünftiger Zusammenstoß entsteht.
Ein Beispiel wird dieß sogleich beleuchten. Die Atmosphäre unseres
Planeten ist eine Form des unbewußten Seyns, die in sich gesetzmäßig,
also auch ein Werk der im Universum thätigen Vernunft und nothwendig
ist an ihrem Orte. Alle belebten Wesen athmen in ihr, auch der Mensch.
Nun unternimmt ein Mensch oder eine Gesellschaft von Menschen ein
sittliches Werk, ein solches also, das ganz einer andern Welt angehört,
als der physischen; aber durch eine plötzliche Veränderung der Atmosphäre,
welche nicht vorauszusehen war und gegen welche sich nicht geschützt zu
haben also auch dem Menschen nicht zum Vorwurf gereichen kann, wird
das Werk vereitelt. Nun ist darin wohl Vernunft, daß der Mensch
zu seiner Existenz die Natur bedarf; aber in dieser Collision ist keine
Vernunft, es ist reiner, roher Zufall. Die Atmosphäre hat ihre Zwecke,
welche blinde Gesetze sind, vollführt und dabei wußte sie um die sittlichen
Zwecke jenes Werkes nicht, und in diesem Werk war zwar bewußter
Geist, er konnte aber jene Störung nicht voraus in Rechnung nehmen,
denn wer dieß thäte, könnte überhaupt gar nichts unternehmen. Die
Handlung also hat jetzt etwas in ihre Mitte bekommen, was rein nicht
hineingehört, etwas Fremdes, einen Feind, der sie sprengt. Ebenso
aber geschieht es umgekehrt, wenn der Geist einen Zweck verfolgt, wobei

Guten im Sinne von §. 22, 2 und des Guts §. 23 erſcheint als Widerſpruch
zwiſchen der Gattung und ihrer Wirklichkeit in den Individuen.

1. Es iſt davon noch nicht die Rede geweſen, wie ſich zu den
§. 31—33 aufgeführten Formen der Zufälligkeit die Macht der Gattung
verhalte. Das Verhältniß zwiſchen dieſer und jener iſt §. 35 als ein
Gegenſatz, aber nicht als ein Widerſpruch bezeichnet und der Voraus-
ſetzung Raum gelaſſen, daß die Gattung den Zufall in ſich aufzunehmen
und zu bezwingen vermöge; worauf aber erſt unter C. einzugehen iſt.
Eigentlich iſt durch jene Sätze noch gar nicht ausgeſprochen, daß ſolches
in die Gattung eindringe, was ihr fremd iſt oder fremd bleibt.

2. Es geht aber aus dem Zuſammenſeyn jeder einzelnen Gattung
mit allen andern in demſelben Raume und derſelben Zeit nothwendig
eine Colliſion hervor, wodurch Fremdes und unüberwindlich Feindſeliges
in ihre Wirklichkeit eindringt. Jede Gattung iſt in ſich und als Stufe
des Ganzen vernünftig, aber dieß iſt ihr ewiges, außerzeitliches Seyn
als Idee. In ihrer Verwirklichung geräth ſie in jenes Gedränge,
worin neben dieſem Stufenſyſtem ein ganz anderes Verhältniß, ein Ver-
hältniß außer der Linie und ein unvernünftiger Zuſammenſtoß entſteht.
Ein Beiſpiel wird dieß ſogleich beleuchten. Die Atmoſphäre unſeres
Planeten iſt eine Form des unbewußten Seyns, die in ſich geſetzmäßig,
alſo auch ein Werk der im Univerſum thätigen Vernunft und nothwendig
iſt an ihrem Orte. Alle belebten Weſen athmen in ihr, auch der Menſch.
Nun unternimmt ein Menſch oder eine Geſellſchaft von Menſchen ein
ſittliches Werk, ein ſolches alſo, das ganz einer andern Welt angehört,
als der phyſiſchen; aber durch eine plötzliche Veränderung der Atmoſphäre,
welche nicht vorauszuſehen war und gegen welche ſich nicht geſchützt zu
haben alſo auch dem Menſchen nicht zum Vorwurf gereichen kann, wird
das Werk vereitelt. Nun iſt darin wohl Vernunft, daß der Menſch
zu ſeiner Exiſtenz die Natur bedarf; aber in dieſer Colliſion iſt keine
Vernunft, es iſt reiner, roher Zufall. Die Atmoſphäre hat ihre Zwecke,
welche blinde Geſetze ſind, vollführt und dabei wußte ſie um die ſittlichen
Zwecke jenes Werkes nicht, und in dieſem Werk war zwar bewußter
Geiſt, er konnte aber jene Störung nicht voraus in Rechnung nehmen,
denn wer dieß thäte, könnte überhaupt gar nichts unternehmen. Die
Handlung alſo hat jetzt etwas in ihre Mitte bekommen, was rein nicht
hineingehört, etwas Fremdes, einen Feind, der ſie ſprengt. Ebenſo
aber geſchieht es umgekehrt, wenn der Geiſt einen Zweck verfolgt, wobei

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p>
                <pb facs="#f0128" n="114"/> <hi rendition="#fr">Guten im Sinne von §. 22, <hi rendition="#sub">2</hi> und des Guts §. 23 er&#x017F;cheint als Wider&#x017F;pruch<lb/>
zwi&#x017F;chen der Gattung und ihrer Wirklichkeit in den Individuen.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">1. Es i&#x017F;t davon noch nicht die Rede gewe&#x017F;en, wie &#x017F;ich zu den<lb/>
§. 31&#x2014;33 aufgeführten Formen der Zufälligkeit die Macht der Gattung<lb/>
verhalte. Das Verhältniß zwi&#x017F;chen die&#x017F;er und jener i&#x017F;t §. 35 als ein<lb/>
Gegen&#x017F;atz, aber nicht als ein Wider&#x017F;pruch bezeichnet und der Voraus-<lb/>
&#x017F;etzung Raum gela&#x017F;&#x017F;en, daß die Gattung den Zufall in &#x017F;ich aufzunehmen<lb/>
und zu bezwingen vermöge; worauf aber er&#x017F;t unter <hi rendition="#aq">C.</hi> einzugehen i&#x017F;t.<lb/>
Eigentlich i&#x017F;t durch jene Sätze noch gar nicht ausge&#x017F;prochen, daß &#x017F;olches<lb/>
in die Gattung eindringe, was ihr fremd i&#x017F;t oder fremd bleibt.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">2. Es geht aber aus dem Zu&#x017F;ammen&#x017F;eyn jeder einzelnen Gattung<lb/>
mit allen andern in dem&#x017F;elben Raume und der&#x017F;elben Zeit nothwendig<lb/>
eine Colli&#x017F;ion hervor, wodurch Fremdes und unüberwindlich Feind&#x017F;eliges<lb/>
in ihre Wirklichkeit eindringt. Jede Gattung i&#x017F;t in &#x017F;ich und als Stufe<lb/>
des Ganzen vernünftig, aber dieß i&#x017F;t ihr ewiges, außerzeitliches Seyn<lb/>
als Idee. In ihrer Verwirklichung geräth &#x017F;ie in jenes Gedränge,<lb/>
worin neben die&#x017F;em Stufen&#x017F;y&#x017F;tem ein ganz anderes Verhältniß, ein Ver-<lb/>
hältniß <hi rendition="#g">außer der Linie</hi> und ein unvernünftiger Zu&#x017F;ammen&#x017F;toß ent&#x017F;teht.<lb/>
Ein Bei&#x017F;piel wird dieß &#x017F;ogleich beleuchten. Die Atmo&#x017F;phäre un&#x017F;eres<lb/>
Planeten i&#x017F;t eine Form des unbewußten Seyns, die in &#x017F;ich ge&#x017F;etzmäßig,<lb/>
al&#x017F;o auch ein Werk der im Univer&#x017F;um thätigen Vernunft und nothwendig<lb/>
i&#x017F;t an ihrem Orte. Alle belebten We&#x017F;en athmen in ihr, auch der Men&#x017F;ch.<lb/>
Nun unternimmt ein Men&#x017F;ch oder eine Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft von Men&#x017F;chen ein<lb/>
&#x017F;ittliches Werk, ein &#x017F;olches al&#x017F;o, das ganz einer andern Welt angehört,<lb/>
als der phy&#x017F;i&#x017F;chen; aber durch eine plötzliche Veränderung der Atmo&#x017F;phäre,<lb/>
welche nicht vorauszu&#x017F;ehen war und gegen welche &#x017F;ich nicht ge&#x017F;chützt zu<lb/>
haben al&#x017F;o auch dem Men&#x017F;chen nicht zum Vorwurf gereichen kann, wird<lb/>
das Werk vereitelt. Nun i&#x017F;t darin wohl Vernunft, daß der Men&#x017F;ch<lb/>
zu &#x017F;einer Exi&#x017F;tenz die Natur bedarf; aber in <hi rendition="#g">die&#x017F;er</hi> Colli&#x017F;ion i&#x017F;t keine<lb/>
Vernunft, es i&#x017F;t reiner, roher Zufall. Die Atmo&#x017F;phäre hat ihre Zwecke,<lb/>
welche blinde Ge&#x017F;etze &#x017F;ind, vollführt und dabei wußte &#x017F;ie um die &#x017F;ittlichen<lb/>
Zwecke jenes Werkes nicht, und in die&#x017F;em Werk war zwar bewußter<lb/>
Gei&#x017F;t, er <hi rendition="#g">konnte</hi> aber <hi rendition="#g">jene</hi> Störung nicht voraus in Rechnung nehmen,<lb/>
denn wer dieß thäte, könnte überhaupt gar nichts unternehmen. Die<lb/>
Handlung al&#x017F;o hat jetzt etwas in ihre Mitte bekommen, was rein nicht<lb/>
hineingehört, etwas Fremdes, einen Feind, der &#x017F;ie &#x017F;prengt. Eben&#x017F;o<lb/>
aber ge&#x017F;chieht es umgekehrt, wenn der Gei&#x017F;t einen Zweck verfolgt, wobei<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[114/0128] Guten im Sinne von §. 22, 2 und des Guts §. 23 erſcheint als Widerſpruch zwiſchen der Gattung und ihrer Wirklichkeit in den Individuen. 1. Es iſt davon noch nicht die Rede geweſen, wie ſich zu den §. 31—33 aufgeführten Formen der Zufälligkeit die Macht der Gattung verhalte. Das Verhältniß zwiſchen dieſer und jener iſt §. 35 als ein Gegenſatz, aber nicht als ein Widerſpruch bezeichnet und der Voraus- ſetzung Raum gelaſſen, daß die Gattung den Zufall in ſich aufzunehmen und zu bezwingen vermöge; worauf aber erſt unter C. einzugehen iſt. Eigentlich iſt durch jene Sätze noch gar nicht ausgeſprochen, daß ſolches in die Gattung eindringe, was ihr fremd iſt oder fremd bleibt. 2. Es geht aber aus dem Zuſammenſeyn jeder einzelnen Gattung mit allen andern in demſelben Raume und derſelben Zeit nothwendig eine Colliſion hervor, wodurch Fremdes und unüberwindlich Feindſeliges in ihre Wirklichkeit eindringt. Jede Gattung iſt in ſich und als Stufe des Ganzen vernünftig, aber dieß iſt ihr ewiges, außerzeitliches Seyn als Idee. In ihrer Verwirklichung geräth ſie in jenes Gedränge, worin neben dieſem Stufenſyſtem ein ganz anderes Verhältniß, ein Ver- hältniß außer der Linie und ein unvernünftiger Zuſammenſtoß entſteht. Ein Beiſpiel wird dieß ſogleich beleuchten. Die Atmoſphäre unſeres Planeten iſt eine Form des unbewußten Seyns, die in ſich geſetzmäßig, alſo auch ein Werk der im Univerſum thätigen Vernunft und nothwendig iſt an ihrem Orte. Alle belebten Weſen athmen in ihr, auch der Menſch. Nun unternimmt ein Menſch oder eine Geſellſchaft von Menſchen ein ſittliches Werk, ein ſolches alſo, das ganz einer andern Welt angehört, als der phyſiſchen; aber durch eine plötzliche Veränderung der Atmoſphäre, welche nicht vorauszuſehen war und gegen welche ſich nicht geſchützt zu haben alſo auch dem Menſchen nicht zum Vorwurf gereichen kann, wird das Werk vereitelt. Nun iſt darin wohl Vernunft, daß der Menſch zu ſeiner Exiſtenz die Natur bedarf; aber in dieſer Colliſion iſt keine Vernunft, es iſt reiner, roher Zufall. Die Atmoſphäre hat ihre Zwecke, welche blinde Geſetze ſind, vollführt und dabei wußte ſie um die ſittlichen Zwecke jenes Werkes nicht, und in dieſem Werk war zwar bewußter Geiſt, er konnte aber jene Störung nicht voraus in Rechnung nehmen, denn wer dieß thäte, könnte überhaupt gar nichts unternehmen. Die Handlung alſo hat jetzt etwas in ihre Mitte bekommen, was rein nicht hineingehört, etwas Fremdes, einen Feind, der ſie ſprengt. Ebenſo aber geſchieht es umgekehrt, wenn der Geiſt einen Zweck verfolgt, wobei

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/128
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/128>, abgerufen am 18.04.2024.