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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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und scheint deßwegen zu §. 36 zu gehören. Allein Vollkommenheit
scheint mehr zu sagen, als jener Begriff, der jeder ganz abstracten Art
der Unterordnung des Mannigfaltigen unter der Einheit Raum läßt;
es liegt dies schon in dem Worte; "vollkommen" erinnert an ein völli-
ges Herauskommen der den Gegenstand als seine Architektonik bauenden,
sich in ihm als Organismus durchführenden Idee. "Vollkommen ist
das, was zu seiner Völle gekommen, oder was gänzlich, ohne Mangel
und Ueberfluß, das ist, was es seyn soll" (Sulzer, allg. Theorie d.
sch. K. Th. 4, S. 406). Baumgarten schrieb lateinisch perfectio,
aber der Zusatz: sinnlich angeschaut (phaenomenon s. gustui observabilis.
Metaphys.
§. 662), scheint zu sagen, daß er eben an diese Plastik der
Idee dachte, doch nur dem, der nicht weiß, was schon oben §. 1, 3
vorgebracht ist. Diese ganze Philosophie war formalistisch, die Einheit des
Begriffes war ihr eine reine Abstraction, und so geräth jene Definition
durch ihren ersten Theil in eine fremde Sphäre und durch ihren zweiten
in einen Widerspruch. Vollkommen nämlich in dem Sinne, in welchem
sie das Wort allein verstehen kann, ist eigentlich nur das Werk der
äußeren Zweckmäßigkeit, worin einem von dem Verfertiger hinzugebrach-
ten Begriffe der Stoff, aus seiner ihm immanenten Gattung (Holz etc.)
herausgenommen, äußerlich sich unterordnet. So aber stellte sich die
Wolffische Philosophie allerdings auch das vor, was weit über dem
Begriff der Zweckmäßigkeit liegt, so überhaupt die Welt in ihrem Ver-
hältnisse zu Gott. Gott hat als außerweltliches Wesen den Begriff zu
den Dingen und diese sind nach demselben gemacht, tragen ihn nicht in
sich, führen ihn nicht selbst in sich durch. Wir sollen z. B. nach
Mendelssohn (Ueber die Hauptgrunds. d. schönen Künste u. Wissensch.
Philos. Schr. Th. 2, S. 80) in der Schönheit der Natur die Voll-
kommenheit des Meisters bewundern, der sie hervorgebracht. Die Dinge
sind aber nicht nur nicht wahrhaft selbstthätig, sondern der Begriff, dem sie
mechanisch gehorchen, ist ein bloser Begriff der Nützlichkeit; Wolffs
Teleologie ist ganz äußerlich. Demnach müßte consequenter Weise diese
Philosophie nicht nur auf die Unterscheidung des Schönen vom Zweck-
mäßigen, sondern auf die Erklärung des Schönen überhaupt verzichten.
Die weitere Entwicklung des Begriffs des Schönen wird ferner zeigen,
wie sich das Schöne nicht blos vom Zweckmäßigen, sondern auch von
dem Guten und dem Wahren (im engeren Sinn) unterscheidet. Nun
kann davon abgesehen werden, daß die Wolffische Philosophie auch
diese Sphären formalistisch fassen mußte; es sey vielmehr angenommen,

und ſcheint deßwegen zu §. 36 zu gehören. Allein Vollkommenheit
ſcheint mehr zu ſagen, als jener Begriff, der jeder ganz abſtracten Art
der Unterordnung des Mannigfaltigen unter der Einheit Raum läßt;
es liegt dies ſchon in dem Worte; „vollkommen“ erinnert an ein völli-
ges Herauskommen der den Gegenſtand als ſeine Architektonik bauenden,
ſich in ihm als Organismus durchführenden Idee. „Vollkommen iſt
das, was zu ſeiner Völle gekommen, oder was gänzlich, ohne Mangel
und Ueberfluß, das iſt, was es ſeyn ſoll“ (Sulzer, allg. Theorie d.
ſch. K. Th. 4, S. 406). Baumgarten ſchrieb lateiniſch perfectio,
aber der Zuſatz: ſinnlich angeſchaut (phaenomenon s. gustui observabilis.
Metaphys.
§. 662), ſcheint zu ſagen, daß er eben an dieſe Plaſtik der
Idee dachte, doch nur dem, der nicht weiß, was ſchon oben §. 1, 3
vorgebracht iſt. Dieſe ganze Philoſophie war formaliſtiſch, die Einheit des
Begriffes war ihr eine reine Abſtraction, und ſo geräth jene Definition
durch ihren erſten Theil in eine fremde Sphäre und durch ihren zweiten
in einen Widerſpruch. Vollkommen nämlich in dem Sinne, in welchem
ſie das Wort allein verſtehen kann, iſt eigentlich nur das Werk der
äußeren Zweckmäßigkeit, worin einem von dem Verfertiger hinzugebrach-
ten Begriffe der Stoff, aus ſeiner ihm immanenten Gattung (Holz ꝛc.)
herausgenommen, äußerlich ſich unterordnet. So aber ſtellte ſich die
Wolffiſche Philoſophie allerdings auch das vor, was weit über dem
Begriff der Zweckmäßigkeit liegt, ſo überhaupt die Welt in ihrem Ver-
hältniſſe zu Gott. Gott hat als außerweltliches Weſen den Begriff zu
den Dingen und dieſe ſind nach demſelben gemacht, tragen ihn nicht in
ſich, führen ihn nicht ſelbſt in ſich durch. Wir ſollen z. B. nach
Mendelsſohn (Ueber die Hauptgrundſ. d. ſchönen Künſte u. Wiſſenſch.
Philoſ. Schr. Th. 2, S. 80) in der Schönheit der Natur die Voll-
kommenheit des Meiſters bewundern, der ſie hervorgebracht. Die Dinge
ſind aber nicht nur nicht wahrhaft ſelbſtthätig, ſondern der Begriff, dem ſie
mechaniſch gehorchen, iſt ein bloſer Begriff der Nützlichkeit; Wolffs
Teleologie iſt ganz äußerlich. Demnach müßte conſequenter Weiſe dieſe
Philoſophie nicht nur auf die Unterſcheidung des Schönen vom Zweck-
mäßigen, ſondern auf die Erklärung des Schönen überhaupt verzichten.
Die weitere Entwicklung des Begriffs des Schönen wird ferner zeigen,
wie ſich das Schöne nicht blos vom Zweckmäßigen, ſondern auch von
dem Guten und dem Wahren (im engeren Sinn) unterſcheidet. Nun
kann davon abgeſehen werden, daß die Wolffiſche Philoſophie auch
dieſe Sphären formaliſtiſch faſſen mußte; es ſey vielmehr angenommen,

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[123/0137] und ſcheint deßwegen zu §. 36 zu gehören. Allein Vollkommenheit ſcheint mehr zu ſagen, als jener Begriff, der jeder ganz abſtracten Art der Unterordnung des Mannigfaltigen unter der Einheit Raum läßt; es liegt dies ſchon in dem Worte; „vollkommen“ erinnert an ein völli- ges Herauskommen der den Gegenſtand als ſeine Architektonik bauenden, ſich in ihm als Organismus durchführenden Idee. „Vollkommen iſt das, was zu ſeiner Völle gekommen, oder was gänzlich, ohne Mangel und Ueberfluß, das iſt, was es ſeyn ſoll“ (Sulzer, allg. Theorie d. ſch. K. Th. 4, S. 406). Baumgarten ſchrieb lateiniſch perfectio, aber der Zuſatz: ſinnlich angeſchaut (phaenomenon s. gustui observabilis. Metaphys. §. 662), ſcheint zu ſagen, daß er eben an dieſe Plaſtik der Idee dachte, doch nur dem, der nicht weiß, was ſchon oben §. 1, 3 vorgebracht iſt. Dieſe ganze Philoſophie war formaliſtiſch, die Einheit des Begriffes war ihr eine reine Abſtraction, und ſo geräth jene Definition durch ihren erſten Theil in eine fremde Sphäre und durch ihren zweiten in einen Widerſpruch. Vollkommen nämlich in dem Sinne, in welchem ſie das Wort allein verſtehen kann, iſt eigentlich nur das Werk der äußeren Zweckmäßigkeit, worin einem von dem Verfertiger hinzugebrach- ten Begriffe der Stoff, aus ſeiner ihm immanenten Gattung (Holz ꝛc.) herausgenommen, äußerlich ſich unterordnet. So aber ſtellte ſich die Wolffiſche Philoſophie allerdings auch das vor, was weit über dem Begriff der Zweckmäßigkeit liegt, ſo überhaupt die Welt in ihrem Ver- hältniſſe zu Gott. Gott hat als außerweltliches Weſen den Begriff zu den Dingen und dieſe ſind nach demſelben gemacht, tragen ihn nicht in ſich, führen ihn nicht ſelbſt in ſich durch. Wir ſollen z. B. nach Mendelsſohn (Ueber die Hauptgrundſ. d. ſchönen Künſte u. Wiſſenſch. Philoſ. Schr. Th. 2, S. 80) in der Schönheit der Natur die Voll- kommenheit des Meiſters bewundern, der ſie hervorgebracht. Die Dinge ſind aber nicht nur nicht wahrhaft ſelbſtthätig, ſondern der Begriff, dem ſie mechaniſch gehorchen, iſt ein bloſer Begriff der Nützlichkeit; Wolffs Teleologie iſt ganz äußerlich. Demnach müßte conſequenter Weiſe dieſe Philoſophie nicht nur auf die Unterſcheidung des Schönen vom Zweck- mäßigen, ſondern auf die Erklärung des Schönen überhaupt verzichten. Die weitere Entwicklung des Begriffs des Schönen wird ferner zeigen, wie ſich das Schöne nicht blos vom Zweckmäßigen, ſondern auch von dem Guten und dem Wahren (im engeren Sinn) unterſcheidet. Nun kann davon abgeſehen werden, daß die Wolffiſche Philoſophie auch dieſe Sphären formaliſtiſch faſſen mußte; es ſey vielmehr angenommen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/137>, abgerufen am 25.04.2024.