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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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ausgesetzt ist, nicht nach Belieben ihre Sitze verlassen kann. Die Grenz-
Linie zwischen dem nicht störenden und dem schlechtweg störenden Zufalle
ist aber um so weniger zu finden, da ebendas, was sonst wesentliche
Bedingung oder Voraussetzung des Lebens ist, wie z. B. das Gesetz
der Schwere, zugleich zahllose Verstümmlungen und Todesfälle da ver-
ursacht, wo nicht etwa mögliche, aber versäumte Vorsicht, also eine
Schuld oder durch einen sittlichen Zweck gebotene Uebernahme der
Gefahr solchen Störungen Sinn und Zusammenhang giebt, wo sie also
rein zufällig sind. -- Wo nun solcher Zufall eindringt, sucht die Gattung
ihr Individuum durch ihre Heilkraft zu retten, so gut es geht; sie
vermag es aber nicht ohne vorübergehende oder dauernde Verkümmerung
oder Verstümmlung der Gestalt, oder sie vermag es gar nicht, sie muß
es Preis geben. Nun könnte man einwenden, daß die Trübungen, welche
aus diesem Herrschen des Zufalls fließen, doch auch ästhetisch brauchbar
seyn müssen und daß doch kein Grund sey, hier plötzlich eine ästhetische
Grenzlinie zu ziehen, wo sich abgesehen von der Aesthetik keine ziehen
läßt. Aus dieser Einwendung macht auch der Naturalismus in der
Kunst wirklichen Ernst. Vergl. Diderots Versuch über die Malerei,
übersetzt und mit Anm. begl. von Göthe. 1. Cap. Hier heißt es, ein
Buckliger sey eine in sich ganz vollkommene und zusammengehörige
Gestalt, nur nach den armen Regeln der Menschen sey er übel gemacht,
aber nach der Natur beurtheilt werde es anders klingen. Eine solche
Ansicht ist jedoch als durch unsere ganze Begründung widerlegt anzusehen;
denn die Regel, die in der Gattung liegt, soll ja die Abweichungen
des Individuums als frei umspielende Linie zwar zulassen, aber solche
Abnormitäten stören sie in ihren Grundgesetzen. Ferner ist in §. 40 schon
hervorgehoben, daß durch die hier aufgeführte Form der Zufälligkeit die
vorgenannten, berechtigten selbst getrübt werden. Z. B. die physiogno-
mische Eigenthümlichkeit eines Kopfes mag bis nahe an die Grenze der
Abnormität und Häßlichkeit gehen und doch ästhetisch ganz brauchbar
seyn. Den Grund aller individuellen Eigenheit haben wir auch wirklich
in der Naturbasis des Zufalls gesucht. Allein nun ist von Trübungen
die Rede, durch welche dem Individuum diese seine Eigenheit selbst ver-
kümmert und gedrückt wird, so daß es sich selbst nicht gleich ist, und das
unregelmäßige Angesicht erscheint nun so, daß diese Unregelmäßigkeit selbst
in ihrer Bedeutung nicht hervortreten kann. Um hier, wie in §. 40, 2
das Erhabene und Komische zum voraus in Rechnung zu nehmen, so erwäge
man, daß das Erhabene zwar Verkümmerung zuläßt, ja fordert, aber

ausgeſetzt iſt, nicht nach Belieben ihre Sitze verlaſſen kann. Die Grenz-
Linie zwiſchen dem nicht ſtörenden und dem ſchlechtweg ſtörenden Zufalle
iſt aber um ſo weniger zu finden, da ebendas, was ſonſt weſentliche
Bedingung oder Vorausſetzung des Lebens iſt, wie z. B. das Geſetz
der Schwere, zugleich zahlloſe Verſtümmlungen und Todesfälle da ver-
urſacht, wo nicht etwa mögliche, aber verſäumte Vorſicht, alſo eine
Schuld oder durch einen ſittlichen Zweck gebotene Uebernahme der
Gefahr ſolchen Störungen Sinn und Zuſammenhang giebt, wo ſie alſo
rein zufällig ſind. — Wo nun ſolcher Zufall eindringt, ſucht die Gattung
ihr Individuum durch ihre Heilkraft zu retten, ſo gut es geht; ſie
vermag es aber nicht ohne vorübergehende oder dauernde Verkümmerung
oder Verſtümmlung der Geſtalt, oder ſie vermag es gar nicht, ſie muß
es Preis geben. Nun könnte man einwenden, daß die Trübungen, welche
aus dieſem Herrſchen des Zufalls fließen, doch auch äſthetiſch brauchbar
ſeyn müſſen und daß doch kein Grund ſey, hier plötzlich eine äſthetiſche
Grenzlinie zu ziehen, wo ſich abgeſehen von der Aeſthetik keine ziehen
läßt. Aus dieſer Einwendung macht auch der Naturalismus in der
Kunſt wirklichen Ernſt. Vergl. Diderots Verſuch über die Malerei,
überſetzt und mit Anm. begl. von Göthe. 1. Cap. Hier heißt es, ein
Buckliger ſey eine in ſich ganz vollkommene und zuſammengehörige
Geſtalt, nur nach den armen Regeln der Menſchen ſey er übel gemacht,
aber nach der Natur beurtheilt werde es anders klingen. Eine ſolche
Anſicht iſt jedoch als durch unſere ganze Begründung widerlegt anzuſehen;
denn die Regel, die in der Gattung liegt, ſoll ja die Abweichungen
des Individuums als frei umſpielende Linie zwar zulaſſen, aber ſolche
Abnormitäten ſtören ſie in ihren Grundgeſetzen. Ferner iſt in §. 40 ſchon
hervorgehoben, daß durch die hier aufgeführte Form der Zufälligkeit die
vorgenannten, berechtigten ſelbſt getrübt werden. Z. B. die phyſiogno-
miſche Eigenthümlichkeit eines Kopfes mag bis nahe an die Grenze der
Abnormität und Häßlichkeit gehen und doch äſthetiſch ganz brauchbar
ſeyn. Den Grund aller individuellen Eigenheit haben wir auch wirklich
in der Naturbaſis des Zufalls geſucht. Allein nun iſt von Trübungen
die Rede, durch welche dem Individuum dieſe ſeine Eigenheit ſelbſt ver-
kümmert und gedrückt wird, ſo daß es ſich ſelbſt nicht gleich iſt, und das
unregelmäßige Angeſicht erſcheint nun ſo, daß dieſe Unregelmäßigkeit ſelbſt
in ihrer Bedeutung nicht hervortreten kann. Um hier, wie in §. 40, 2
das Erhabene und Komiſche zum voraus in Rechnung zu nehmen, ſo erwäge
man, daß das Erhabene zwar Verkümmerung zuläßt, ja fordert, aber

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[143/0157] ausgeſetzt iſt, nicht nach Belieben ihre Sitze verlaſſen kann. Die Grenz- Linie zwiſchen dem nicht ſtörenden und dem ſchlechtweg ſtörenden Zufalle iſt aber um ſo weniger zu finden, da ebendas, was ſonſt weſentliche Bedingung oder Vorausſetzung des Lebens iſt, wie z. B. das Geſetz der Schwere, zugleich zahlloſe Verſtümmlungen und Todesfälle da ver- urſacht, wo nicht etwa mögliche, aber verſäumte Vorſicht, alſo eine Schuld oder durch einen ſittlichen Zweck gebotene Uebernahme der Gefahr ſolchen Störungen Sinn und Zuſammenhang giebt, wo ſie alſo rein zufällig ſind. — Wo nun ſolcher Zufall eindringt, ſucht die Gattung ihr Individuum durch ihre Heilkraft zu retten, ſo gut es geht; ſie vermag es aber nicht ohne vorübergehende oder dauernde Verkümmerung oder Verſtümmlung der Geſtalt, oder ſie vermag es gar nicht, ſie muß es Preis geben. Nun könnte man einwenden, daß die Trübungen, welche aus dieſem Herrſchen des Zufalls fließen, doch auch äſthetiſch brauchbar ſeyn müſſen und daß doch kein Grund ſey, hier plötzlich eine äſthetiſche Grenzlinie zu ziehen, wo ſich abgeſehen von der Aeſthetik keine ziehen läßt. Aus dieſer Einwendung macht auch der Naturalismus in der Kunſt wirklichen Ernſt. Vergl. Diderots Verſuch über die Malerei, überſetzt und mit Anm. begl. von Göthe. 1. Cap. Hier heißt es, ein Buckliger ſey eine in ſich ganz vollkommene und zuſammengehörige Geſtalt, nur nach den armen Regeln der Menſchen ſey er übel gemacht, aber nach der Natur beurtheilt werde es anders klingen. Eine ſolche Anſicht iſt jedoch als durch unſere ganze Begründung widerlegt anzuſehen; denn die Regel, die in der Gattung liegt, ſoll ja die Abweichungen des Individuums als frei umſpielende Linie zwar zulaſſen, aber ſolche Abnormitäten ſtören ſie in ihren Grundgeſetzen. Ferner iſt in §. 40 ſchon hervorgehoben, daß durch die hier aufgeführte Form der Zufälligkeit die vorgenannten, berechtigten ſelbſt getrübt werden. Z. B. die phyſiogno- miſche Eigenthümlichkeit eines Kopfes mag bis nahe an die Grenze der Abnormität und Häßlichkeit gehen und doch äſthetiſch ganz brauchbar ſeyn. Den Grund aller individuellen Eigenheit haben wir auch wirklich in der Naturbaſis des Zufalls geſucht. Allein nun iſt von Trübungen die Rede, durch welche dem Individuum dieſe ſeine Eigenheit ſelbſt ver- kümmert und gedrückt wird, ſo daß es ſich ſelbſt nicht gleich iſt, und das unregelmäßige Angeſicht erſcheint nun ſo, daß dieſe Unregelmäßigkeit ſelbſt in ihrer Bedeutung nicht hervortreten kann. Um hier, wie in §. 40, 2 das Erhabene und Komiſche zum voraus in Rechnung zu nehmen, ſo erwäge man, daß das Erhabene zwar Verkümmerung zuläßt, ja fordert, aber

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/157>, abgerufen am 28.03.2024.