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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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als Wirkung einer höhern Idee, welche dadurch gerade ihrem Wesen
gemäß unverkümmert thätig ist; daß dagegen das Komische die Verküm-
merung im größten Umfange zwar aufnimmt, um sie in seiner Weise
aufzuheben, welche eine ganz andere ist, als die, worin im nicht ästhe-
tischen Seyn das Verkümmerte sich aufhebt, nämlich nicht eine Auf-
hebung, welche, wie im einfach Schönen, schon vollendet seyn muß, wenn
der Gegenstand überhaupt ästhetisch seyn soll, sondern welche dem Feinde
des Schönen vielmehr zuerst Spielraum läßt, um ihn im Fortgang auf-
zuheben; aber auch dieser Fortgang muß alsbald und in derselben
Erscheinung eintreten, nicht anderswo oder ein andermal, wie
außer dem Schönen.

2. Hier ist der eigentliche Ort, in welchem der Theismus als Volks-
glaube wurzelt. Beim Eintritt des schädlichen sinnlosen Zufalls wird eine
persönliche Intelligenz angenommen, welche geheime Zwecke haben müsse,
dies zuzulassen, und in diesem Voraussetzen unbekannter Zwecke liegt für
das einfache Bewußtseyn der Trost. Dasselbe erkennt nicht, daß wahrer
Trost nur im Verstehen liegt, und zieht den unendlichen Fluß des Lebens
und Geistes, der die ewige Herstellung und Wechsel-Ergänzung des
Unvollkommenen ist, auf den undurchdringlichen Punkt jener verborgenen
Person zusammen. Es ist aber diese Vorstellung hier nur anzuführen,
um zu zeigen, daß der Theismus den Standpunkt der Aesthetik in
Wahrheit ausschließt. Denn die Aesthetik sucht einen Act, wodurch jene
unendliche Bewegung der Ueberwindung des Zufalls freilich auch auf
Einen Punkt, aber einen rein gegenwärtigen, zusammengezogen wird,
der Theismus aber verlegt diesen Punkt in ein undurchdringliches Jenseits.
Da nun der persönliche Gott nicht abgebildet werden kann (-- vom
Polytheismus ist hier nicht die Rede --) so ist die Schönheit aufgehoben.
Dagegen wenn sich der Theismus mit dem speziellen Offenbarungsglauben
verbindet, scheint er den Punkt als einen präsenten zu besitzen im Leben
des Gottessohns. Allein dann wird ein Individuum als reiner Reprä-
sentant nicht einer bestimmten, sondern unmittelbar der absoluten Idee
gesetzt, was gegen §. 13 und 15 ist. -- Festzuhalten also ist dieses: alle
früher genannten Formen der Zufälligkeit heben sich ohne besonderes
Zuthun auf im Einzelnen selbst und seiner Thätigkeit, also immer in
einem übersichtlich begrenzten Punkte; die letztgenannte aber hebt sich auf
nur im unendlichen Raume, wo jenes Individuum hat, was diesem fehlt,
und sofort in's Unendliche, und in der unendlichen Zeit, wo die Zukunft
herstellt, was in der Gegenwart verkümmert ist, und sofort ins Unend-

als Wirkung einer höhern Idee, welche dadurch gerade ihrem Weſen
gemäß unverkümmert thätig iſt; daß dagegen das Komiſche die Verküm-
merung im größten Umfange zwar aufnimmt, um ſie in ſeiner Weiſe
aufzuheben, welche eine ganz andere iſt, als die, worin im nicht äſthe-
tiſchen Seyn das Verkümmerte ſich aufhebt, nämlich nicht eine Auf-
hebung, welche, wie im einfach Schönen, ſchon vollendet ſeyn muß, wenn
der Gegenſtand überhaupt äſthetiſch ſeyn ſoll, ſondern welche dem Feinde
des Schönen vielmehr zuerſt Spielraum läßt, um ihn im Fortgang auf-
zuheben; aber auch dieſer Fortgang muß alsbald und in derſelben
Erſcheinung eintreten, nicht anderswo oder ein andermal, wie
außer dem Schönen.

2. Hier iſt der eigentliche Ort, in welchem der Theismus als Volks-
glaube wurzelt. Beim Eintritt des ſchädlichen ſinnloſen Zufalls wird eine
perſönliche Intelligenz angenommen, welche geheime Zwecke haben müſſe,
dies zuzulaſſen, und in dieſem Vorausſetzen unbekannter Zwecke liegt für
das einfache Bewußtſeyn der Troſt. Dasſelbe erkennt nicht, daß wahrer
Troſt nur im Verſtehen liegt, und zieht den unendlichen Fluß des Lebens
und Geiſtes, der die ewige Herſtellung und Wechſel-Ergänzung des
Unvollkommenen iſt, auf den undurchdringlichen Punkt jener verborgenen
Perſon zuſammen. Es iſt aber dieſe Vorſtellung hier nur anzuführen,
um zu zeigen, daß der Theismus den Standpunkt der Aeſthetik in
Wahrheit ausſchließt. Denn die Aeſthetik ſucht einen Act, wodurch jene
unendliche Bewegung der Ueberwindung des Zufalls freilich auch auf
Einen Punkt, aber einen rein gegenwärtigen, zuſammengezogen wird,
der Theismus aber verlegt dieſen Punkt in ein undurchdringliches Jenſeits.
Da nun der perſönliche Gott nicht abgebildet werden kann (— vom
Polytheismus iſt hier nicht die Rede —) ſo iſt die Schönheit aufgehoben.
Dagegen wenn ſich der Theismus mit dem ſpeziellen Offenbarungsglauben
verbindet, ſcheint er den Punkt als einen präſenten zu beſitzen im Leben
des Gottesſohns. Allein dann wird ein Individuum als reiner Reprä-
ſentant nicht einer beſtimmten, ſondern unmittelbar der abſoluten Idee
geſetzt, was gegen §. 13 und 15 iſt. — Feſtzuhalten alſo iſt dieſes: alle
früher genannten Formen der Zufälligkeit heben ſich ohne beſonderes
Zuthun auf im Einzelnen ſelbſt und ſeiner Thätigkeit, alſo immer in
einem überſichtlich begrenzten Punkte; die letztgenannte aber hebt ſich auf
nur im unendlichen Raume, wo jenes Individuum hat, was dieſem fehlt,
und ſofort in’s Unendliche, und in der unendlichen Zeit, wo die Zukunft
herſtellt, was in der Gegenwart verkümmert iſt, und ſofort ins Unend-

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[144/0158] als Wirkung einer höhern Idee, welche dadurch gerade ihrem Weſen gemäß unverkümmert thätig iſt; daß dagegen das Komiſche die Verküm- merung im größten Umfange zwar aufnimmt, um ſie in ſeiner Weiſe aufzuheben, welche eine ganz andere iſt, als die, worin im nicht äſthe- tiſchen Seyn das Verkümmerte ſich aufhebt, nämlich nicht eine Auf- hebung, welche, wie im einfach Schönen, ſchon vollendet ſeyn muß, wenn der Gegenſtand überhaupt äſthetiſch ſeyn ſoll, ſondern welche dem Feinde des Schönen vielmehr zuerſt Spielraum läßt, um ihn im Fortgang auf- zuheben; aber auch dieſer Fortgang muß alsbald und in derſelben Erſcheinung eintreten, nicht anderswo oder ein andermal, wie außer dem Schönen. 2. Hier iſt der eigentliche Ort, in welchem der Theismus als Volks- glaube wurzelt. Beim Eintritt des ſchädlichen ſinnloſen Zufalls wird eine perſönliche Intelligenz angenommen, welche geheime Zwecke haben müſſe, dies zuzulaſſen, und in dieſem Vorausſetzen unbekannter Zwecke liegt für das einfache Bewußtſeyn der Troſt. Dasſelbe erkennt nicht, daß wahrer Troſt nur im Verſtehen liegt, und zieht den unendlichen Fluß des Lebens und Geiſtes, der die ewige Herſtellung und Wechſel-Ergänzung des Unvollkommenen iſt, auf den undurchdringlichen Punkt jener verborgenen Perſon zuſammen. Es iſt aber dieſe Vorſtellung hier nur anzuführen, um zu zeigen, daß der Theismus den Standpunkt der Aeſthetik in Wahrheit ausſchließt. Denn die Aeſthetik ſucht einen Act, wodurch jene unendliche Bewegung der Ueberwindung des Zufalls freilich auch auf Einen Punkt, aber einen rein gegenwärtigen, zuſammengezogen wird, der Theismus aber verlegt dieſen Punkt in ein undurchdringliches Jenſeits. Da nun der perſönliche Gott nicht abgebildet werden kann (— vom Polytheismus iſt hier nicht die Rede —) ſo iſt die Schönheit aufgehoben. Dagegen wenn ſich der Theismus mit dem ſpeziellen Offenbarungsglauben verbindet, ſcheint er den Punkt als einen präſenten zu beſitzen im Leben des Gottesſohns. Allein dann wird ein Individuum als reiner Reprä- ſentant nicht einer beſtimmten, ſondern unmittelbar der abſoluten Idee geſetzt, was gegen §. 13 und 15 iſt. — Feſtzuhalten alſo iſt dieſes: alle früher genannten Formen der Zufälligkeit heben ſich ohne beſonderes Zuthun auf im Einzelnen ſelbſt und ſeiner Thätigkeit, alſo immer in einem überſichtlich begrenzten Punkte; die letztgenannte aber hebt ſich auf nur im unendlichen Raume, wo jenes Individuum hat, was dieſem fehlt, und ſofort in’s Unendliche, und in der unendlichen Zeit, wo die Zukunft herſtellt, was in der Gegenwart verkümmert iſt, und ſofort ins Unend-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/158>, abgerufen am 28.03.2024.