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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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wie im Großen die südlichen Völker zeigen, in einem entsprechenden
Ebenmaß der Formen des Körpers ausdrücken. Versteht man darunter
den durch Kampf erworbenen Charakter, so setzt dieser eine widerstrebende
Sinnlichkeit und die ihr entsprechenden gröberen Formen voraus; dagegen
wird sich die errungene Harmonie in den geistig ausdrucksvollsten Theilen
und ihrer Bewegung zeigen, wie dieß im Großen bei den nördlichen
Völkern der Fall ist. Die ganze Frage verliert sich aber, wie schon
diese Andeutungen zeigen, in das weite Gebiet fernerer nothwendiger
Unterscheidungen in der Aesthetik. Die Schönheit hat verschiedene Formen;
der reine Gehalt an innerem sittlichem Werth ist in ihnen verschieden,
wechselt aber auch ebendaher den Ort seiner Erscheinung auf der Ober-
fläche der Form. Ferner aber handelt es sich ja im Schönen nicht blos
von einer einzelnen Persönlichkeit; auch die großen sittlichen Mächte haben
ihren Leib, aber nur in vielen Einzelnen und ihrer Thätigkeit. Hier
nun kann wiederum der Gehalt an sich schon entweder mehr unmittelbar
oder mehr innerlich und danach wird auch seine Erscheinung in diesem
Leibe verschieden seyn: da kommt also der Unterschied der Zeitalter in
Betracht; eine naturwüchsige Bildung wird ein offeneres und greiflicheres
Schauspiel darbieten, als eine reflectirte Bildung. Endlich muß außer
diesem Allem erst der große Unterschied zwischen Naturschönheit und Kunst-
schönheit zur Lösung jener Streitfrage in Erwägung kommen. -- Für die
Kunst aber wird aus dem Inhalt des gegenwärtigen §. ein Satz gefolgert
werden müssen, der schon hier anzukündigen ist: da das Gute nur schön
wird durch die Erscheinung, in die es ununterscheidbar aufgeht, so muß
es seinen Leib an sich selbst haben und für den Künstler schon mitbringen,
sonst entsteht, indem dieser den Gehalt für sich hat und dazu die Form erst
sucht, nothwendig eine Behandlung im unstatthaften Sinne der Tendenz.
Daraus wird folgen, daß große sittliche Bewegungen, wenn sie der
Künstler wahrhaft ästhetisch soll behandeln können, vergangen seyn müssen.

3. Mit dem Guten verbindet sich anhängende Schönheit z. B. in
der Kleidung, sofern sie (neben dem Bedürfniß zugleich) von dem sitt-
lichen Zwecke der Schamhaftigkeit gefordert ist und nun der Schönheits-
sinn einen Ueberfluß hinzufügt. So hat in der Kunst alle tendenzmäßige
und satyrische Poesie zunächst einen sittlichen Zweck und das Schöne ist
beiläufig mit ihr verbunden.


wie im Großen die ſüdlichen Völker zeigen, in einem entſprechenden
Ebenmaß der Formen des Körpers ausdrücken. Verſteht man darunter
den durch Kampf erworbenen Charakter, ſo ſetzt dieſer eine widerſtrebende
Sinnlichkeit und die ihr entſprechenden gröberen Formen voraus; dagegen
wird ſich die errungene Harmonie in den geiſtig ausdrucksvollſten Theilen
und ihrer Bewegung zeigen, wie dieß im Großen bei den nördlichen
Völkern der Fall iſt. Die ganze Frage verliert ſich aber, wie ſchon
dieſe Andeutungen zeigen, in das weite Gebiet fernerer nothwendiger
Unterſcheidungen in der Aeſthetik. Die Schönheit hat verſchiedene Formen;
der reine Gehalt an innerem ſittlichem Werth iſt in ihnen verſchieden,
wechſelt aber auch ebendaher den Ort ſeiner Erſcheinung auf der Ober-
fläche der Form. Ferner aber handelt es ſich ja im Schönen nicht blos
von einer einzelnen Perſönlichkeit; auch die großen ſittlichen Mächte haben
ihren Leib, aber nur in vielen Einzelnen und ihrer Thätigkeit. Hier
nun kann wiederum der Gehalt an ſich ſchon entweder mehr unmittelbar
oder mehr innerlich und danach wird auch ſeine Erſcheinung in dieſem
Leibe verſchieden ſeyn: da kommt alſo der Unterſchied der Zeitalter in
Betracht; eine naturwüchſige Bildung wird ein offeneres und greiflicheres
Schauſpiel darbieten, als eine reflectirte Bildung. Endlich muß außer
dieſem Allem erſt der große Unterſchied zwiſchen Naturſchönheit und Kunſt-
ſchönheit zur Löſung jener Streitfrage in Erwägung kommen. — Für die
Kunſt aber wird aus dem Inhalt des gegenwärtigen §. ein Satz gefolgert
werden müſſen, der ſchon hier anzukündigen iſt: da das Gute nur ſchön
wird durch die Erſcheinung, in die es ununterſcheidbar aufgeht, ſo muß
es ſeinen Leib an ſich ſelbſt haben und für den Künſtler ſchon mitbringen,
ſonſt entſteht, indem dieſer den Gehalt für ſich hat und dazu die Form erſt
ſucht, nothwendig eine Behandlung im unſtatthaften Sinne der Tendenz.
Daraus wird folgen, daß große ſittliche Bewegungen, wenn ſie der
Künſtler wahrhaft äſthetiſch ſoll behandeln können, vergangen ſeyn müſſen.

3. Mit dem Guten verbindet ſich anhängende Schönheit z. B. in
der Kleidung, ſofern ſie (neben dem Bedürfniß zugleich) von dem ſitt-
lichen Zwecke der Schamhaftigkeit gefordert iſt und nun der Schönheits-
ſinn einen Ueberfluß hinzufügt. So hat in der Kunſt alle tendenzmäßige
und ſatyriſche Poeſie zunächſt einen ſittlichen Zweck und das Schöne iſt
beiläufig mit ihr verbunden.


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[158/0172] wie im Großen die ſüdlichen Völker zeigen, in einem entſprechenden Ebenmaß der Formen des Körpers ausdrücken. Verſteht man darunter den durch Kampf erworbenen Charakter, ſo ſetzt dieſer eine widerſtrebende Sinnlichkeit und die ihr entſprechenden gröberen Formen voraus; dagegen wird ſich die errungene Harmonie in den geiſtig ausdrucksvollſten Theilen und ihrer Bewegung zeigen, wie dieß im Großen bei den nördlichen Völkern der Fall iſt. Die ganze Frage verliert ſich aber, wie ſchon dieſe Andeutungen zeigen, in das weite Gebiet fernerer nothwendiger Unterſcheidungen in der Aeſthetik. Die Schönheit hat verſchiedene Formen; der reine Gehalt an innerem ſittlichem Werth iſt in ihnen verſchieden, wechſelt aber auch ebendaher den Ort ſeiner Erſcheinung auf der Ober- fläche der Form. Ferner aber handelt es ſich ja im Schönen nicht blos von einer einzelnen Perſönlichkeit; auch die großen ſittlichen Mächte haben ihren Leib, aber nur in vielen Einzelnen und ihrer Thätigkeit. Hier nun kann wiederum der Gehalt an ſich ſchon entweder mehr unmittelbar oder mehr innerlich und danach wird auch ſeine Erſcheinung in dieſem Leibe verſchieden ſeyn: da kommt alſo der Unterſchied der Zeitalter in Betracht; eine naturwüchſige Bildung wird ein offeneres und greiflicheres Schauſpiel darbieten, als eine reflectirte Bildung. Endlich muß außer dieſem Allem erſt der große Unterſchied zwiſchen Naturſchönheit und Kunſt- ſchönheit zur Löſung jener Streitfrage in Erwägung kommen. — Für die Kunſt aber wird aus dem Inhalt des gegenwärtigen §. ein Satz gefolgert werden müſſen, der ſchon hier anzukündigen iſt: da das Gute nur ſchön wird durch die Erſcheinung, in die es ununterſcheidbar aufgeht, ſo muß es ſeinen Leib an ſich ſelbſt haben und für den Künſtler ſchon mitbringen, ſonſt entſteht, indem dieſer den Gehalt für ſich hat und dazu die Form erſt ſucht, nothwendig eine Behandlung im unſtatthaften Sinne der Tendenz. Daraus wird folgen, daß große ſittliche Bewegungen, wenn ſie der Künſtler wahrhaft äſthetiſch ſoll behandeln können, vergangen ſeyn müſſen. 3. Mit dem Guten verbindet ſich anhängende Schönheit z. B. in der Kleidung, ſofern ſie (neben dem Bedürfniß zugleich) von dem ſitt- lichen Zwecke der Schamhaftigkeit gefordert iſt und nun der Schönheits- ſinn einen Ueberfluß hinzufügt. So hat in der Kunſt alle tendenzmäßige und ſatyriſche Poeſie zunächſt einen ſittlichen Zweck und das Schöne iſt beiläufig mit ihr verbunden.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/172>, abgerufen am 29.03.2024.