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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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wirklichen Ableitung derselben aus dem Schönen selbst als wesentlicher
Momente seiner inneren Bewegung konnte jedoch früher nicht die Rede
seyn, als bis die Philosophie den Standpunkt der Idee als einer dialektisch
sich bewegenden erreicht und so das Mittel gefunden hatte, den Wider-
spruch in der Einheit zu begreifen. Burke, dem die Theorie des Er-
habenen viel verdankt, hat seine zwei Triebe bereit, den der Selbst-
erhaltung und den der Geselligkeit; das Erhabene erschüttert den ersten,
das Schöne schmeichelt dem zweiten: dies ist die ganze Ableitung. Kant
verrennt sich den Weg des Uebergangs durch die falsche Unterscheidung,
daß das Schöne einen Verstandesbegriff (Zweckmäßigkeit), das Erhabene
einen Vernunftbegriff (Unbegrenztheit) in sich darstelle (a. a. O. §. 23).
Die Zweckmäßigkeit, die als innere sich selbst aufhebt, ist nicht ein Ver-
standesbegriff, sondern ein Vernunftbegriff. Hegel hat das Mittel, das
er in seiner Dialektik besaß, nicht auf diesem Punkte in Bewegung gesetzt,
um das Erhabene und Komische als innere Momente des Schönen an sich
zu entwickeln, sondern er hat diese Formen in die weiteren bestimmten
Theile des Systems zerstreut. Die Hauptgründe dagegen s. in der Schrift
des Verf.: Das Erh. u. Kom. S. 16 u. 17 u. Krit. Gänge Th. II.
S. 348. 349. Noch vor dem Erscheinen der ersteren Schrift hatte Weiße,
mit dessen Verfahren sie selbständig zusammentraf, jene gegensätzlichen Formen
als innere Momente des Schönen überhaupt abgehandelt. Allein gleich in
der Lehre vom Erhabenen bleibt Weiße nicht seinem Versprechen treu.
Das Erhabene erscheint nicht als eine Bewegung im Schönen, sondern als
eine Bewegung über das Schöne hinaus in die Sphäre des Guten und
Göttlichen; das Schöne erhält sich nicht im Erhabenen, sondern wird von
ihm nur vorausgesetzt, um aus seiner eigenen Sphäre heraus in ein
Jenseits gerissen zu werden (Aesth. §. 24). Den umgekehrten Fehler hatte
Solger gemacht. Wenn Weiße das Erhabene an den Ausgang des
Schönen setzt, so hatte er es vor den Anfang desselben gestellt, als
werdende Schönheit gefaßt, und unter den "Gegensätzen und Be-
ziehungen" aufgeführt, "durch welche die Idee des Schönen wirklich wird."
Die Idee "begibt sich durch ihre Thätigkeit in die Welt herab" (Aesth.
S. 84). Diese Stellung des Erhabenen scheint wesentliche Gründe für
sich zu haben. Soll die Erscheinung mit der Idee gesättigt seyn, so muß
die Bewegung von dieser ausgehen; diese Bewegung, dieses "Herein-
brechen" der Idee in die Wirklichkeit ist ein noch formloser Kampf, aus
welchem die klar begrenzte Gestalt sich erst entwickelt, und ebendies scheint
das Erhabene zu seyn. Die Geschichte aller Formen scheint dies zu be-

wirklichen Ableitung derſelben aus dem Schönen ſelbſt als weſentlicher
Momente ſeiner inneren Bewegung konnte jedoch früher nicht die Rede
ſeyn, als bis die Philoſophie den Standpunkt der Idee als einer dialektiſch
ſich bewegenden erreicht und ſo das Mittel gefunden hatte, den Wider-
ſpruch in der Einheit zu begreifen. Burke, dem die Theorie des Er-
habenen viel verdankt, hat ſeine zwei Triebe bereit, den der Selbſt-
erhaltung und den der Geſelligkeit; das Erhabene erſchüttert den erſten,
das Schöne ſchmeichelt dem zweiten: dies iſt die ganze Ableitung. Kant
verrennt ſich den Weg des Uebergangs durch die falſche Unterſcheidung,
daß das Schöne einen Verſtandesbegriff (Zweckmäßigkeit), das Erhabene
einen Vernunftbegriff (Unbegrenztheit) in ſich darſtelle (a. a. O. §. 23).
Die Zweckmäßigkeit, die als innere ſich ſelbſt aufhebt, iſt nicht ein Ver-
ſtandesbegriff, ſondern ein Vernunftbegriff. Hegel hat das Mittel, das
er in ſeiner Dialektik beſaß, nicht auf dieſem Punkte in Bewegung geſetzt,
um das Erhabene und Komiſche als innere Momente des Schönen an ſich
zu entwickeln, ſondern er hat dieſe Formen in die weiteren beſtimmten
Theile des Syſtems zerſtreut. Die Hauptgründe dagegen ſ. in der Schrift
des Verf.: Das Erh. u. Kom. S. 16 u. 17 u. Krit. Gänge Th. II.
S. 348. 349. Noch vor dem Erſcheinen der erſteren Schrift hatte Weiße,
mit deſſen Verfahren ſie ſelbſtändig zuſammentraf, jene gegenſätzlichen Formen
als innere Momente des Schönen überhaupt abgehandelt. Allein gleich in
der Lehre vom Erhabenen bleibt Weiße nicht ſeinem Verſprechen treu.
Das Erhabene erſcheint nicht als eine Bewegung im Schönen, ſondern als
eine Bewegung über das Schöne hinaus in die Sphäre des Guten und
Göttlichen; das Schöne erhält ſich nicht im Erhabenen, ſondern wird von
ihm nur vorausgeſetzt, um aus ſeiner eigenen Sphäre heraus in ein
Jenſeits geriſſen zu werden (Aeſth. §. 24). Den umgekehrten Fehler hatte
Solger gemacht. Wenn Weiße das Erhabene an den Ausgang des
Schönen ſetzt, ſo hatte er es vor den Anfang desſelben geſtellt, als
werdende Schönheit gefaßt, und unter den „Gegenſätzen und Be-
ziehungen“ aufgeführt, „durch welche die Idee des Schönen wirklich wird.“
Die Idee „begibt ſich durch ihre Thätigkeit in die Welt herab“ (Aeſth.
S. 84). Dieſe Stellung des Erhabenen ſcheint weſentliche Gründe für
ſich zu haben. Soll die Erſcheinung mit der Idee geſättigt ſeyn, ſo muß
die Bewegung von dieſer ausgehen; dieſe Bewegung, dieſes „Herein-
brechen“ der Idee in die Wirklichkeit iſt ein noch formloſer Kampf, aus
welchem die klar begrenzte Geſtalt ſich erſt entwickelt, und ebendies ſcheint
das Erhabene zu ſeyn. Die Geſchichte aller Formen ſcheint dies zu be-

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[215/0229] wirklichen Ableitung derſelben aus dem Schönen ſelbſt als weſentlicher Momente ſeiner inneren Bewegung konnte jedoch früher nicht die Rede ſeyn, als bis die Philoſophie den Standpunkt der Idee als einer dialektiſch ſich bewegenden erreicht und ſo das Mittel gefunden hatte, den Wider- ſpruch in der Einheit zu begreifen. Burke, dem die Theorie des Er- habenen viel verdankt, hat ſeine zwei Triebe bereit, den der Selbſt- erhaltung und den der Geſelligkeit; das Erhabene erſchüttert den erſten, das Schöne ſchmeichelt dem zweiten: dies iſt die ganze Ableitung. Kant verrennt ſich den Weg des Uebergangs durch die falſche Unterſcheidung, daß das Schöne einen Verſtandesbegriff (Zweckmäßigkeit), das Erhabene einen Vernunftbegriff (Unbegrenztheit) in ſich darſtelle (a. a. O. §. 23). Die Zweckmäßigkeit, die als innere ſich ſelbſt aufhebt, iſt nicht ein Ver- ſtandesbegriff, ſondern ein Vernunftbegriff. Hegel hat das Mittel, das er in ſeiner Dialektik beſaß, nicht auf dieſem Punkte in Bewegung geſetzt, um das Erhabene und Komiſche als innere Momente des Schönen an ſich zu entwickeln, ſondern er hat dieſe Formen in die weiteren beſtimmten Theile des Syſtems zerſtreut. Die Hauptgründe dagegen ſ. in der Schrift des Verf.: Das Erh. u. Kom. S. 16 u. 17 u. Krit. Gänge Th. II. S. 348. 349. Noch vor dem Erſcheinen der erſteren Schrift hatte Weiße, mit deſſen Verfahren ſie ſelbſtändig zuſammentraf, jene gegenſätzlichen Formen als innere Momente des Schönen überhaupt abgehandelt. Allein gleich in der Lehre vom Erhabenen bleibt Weiße nicht ſeinem Verſprechen treu. Das Erhabene erſcheint nicht als eine Bewegung im Schönen, ſondern als eine Bewegung über das Schöne hinaus in die Sphäre des Guten und Göttlichen; das Schöne erhält ſich nicht im Erhabenen, ſondern wird von ihm nur vorausgeſetzt, um aus ſeiner eigenen Sphäre heraus in ein Jenſeits geriſſen zu werden (Aeſth. §. 24). Den umgekehrten Fehler hatte Solger gemacht. Wenn Weiße das Erhabene an den Ausgang des Schönen ſetzt, ſo hatte er es vor den Anfang desſelben geſtellt, als werdende Schönheit gefaßt, und unter den „Gegenſätzen und Be- ziehungen“ aufgeführt, „durch welche die Idee des Schönen wirklich wird.“ Die Idee „begibt ſich durch ihre Thätigkeit in die Welt herab“ (Aeſth. S. 84). Dieſe Stellung des Erhabenen ſcheint weſentliche Gründe für ſich zu haben. Soll die Erſcheinung mit der Idee geſättigt ſeyn, ſo muß die Bewegung von dieſer ausgehen; dieſe Bewegung, dieſes „Herein- brechen“ der Idee in die Wirklichkeit iſt ein noch formloſer Kampf, aus welchem die klar begrenzte Geſtalt ſich erſt entwickelt, und ebendies ſcheint das Erhabene zu ſeyn. Die Geſchichte aller Formen ſcheint dies zu be-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/229>, abgerufen am 24.04.2024.