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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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des großen Mannes; eine oder die andere Grundkraft hebt sich aus
dem Kreise der persönlichen Kräfte heraus, wir schwindeln vor dem
Unerschöpflichen, das jede gegebene Form hinter sich läßt und die
Grenzen des Individuums zur Gattung zu erweitern scheint. Allein
das Individuum bleibt Individuum, kehrt zur Begrenztheit und selbst
Bedürftigkeit zurück und nun erst, wenn wir ausrufen können: so klein
und doch so groß! ist der Eindruck des Erhabenen vollendet. -- Da-
gegen stellt sich ein anderes Verhältniß dar, wenn die Form als Grenze
eines Gegenstands, wie sie aus seiner Gattung fließt, eingehalten, aber
in dieser Einhaltung überall erweitert ist. Man denke an die weiche Linie
des Vesuv, der doch als Ganzes erhaben ist, an eine nicht rohe, sondern
rein künstlerisch ausgeführte Collossalstatue, an eine große Persönlichkeit,
welche überall Maß in ihrem Thun beobachtet. Die Erweiterung allein
macht hier, wie Weiße richtig bemerkt, noch nicht das Erhabene, wohl
aber die Erweiterung zusammenwirkend mit ihrer nothwendigen Folge, daß
die untergeordneten Einzeltheile verschwinden. Die Kunst, um sie vor-
läufig als Beispiel zu erwähnen, bewerkstelligt dies durch die Art der
Behandlung; sie läßt sich z. B. als hoher Styl der Plastik nicht so tief
in die Einzelheiten der Muskulatur, der Adern u. s. w. ein, sondern
hebt mit keckem Meißel nur das Wesentliche hervor. Abgesehen aber von
der Kunst bewerkstelligt dies unser Auge und unsere Beobachtung über-
haupt, welche, wo die Umrisse des Ganzen sehr weit gezogen sind, das
untergeordnete Einzelne nicht mehr aufzufassen vermögen. Es erhellt jedoch,
daß das Erhabene dieser Art immer noch als ein Schönes erscheinen
würde, wenn nicht der Abstand von den Umgebungen wäre, der als ein
unendlicher erscheint. Dies ist ein durchaus wesentlicher Punkt. Auch
eine Kraftäußerung z. B. kann an sich immer noch so mild seyn, daß sie
nicht erhaben hieße, wenn nicht ihr Verhältniß zu andern ungleich ge-
ringern Kraft-Aeußerungen das, was Kraft in ihr ist, in den Vorder-
grund stellte und zwar als unendliche Kraft. Uebrigens erhellt, daß
die schroffere Art dem negativ Erhabenen näher steht, als die mildere;
es wird sich hieran ein Unterschied der Ideale hängen, zu dessen Er-
zeugung schon die umgebende schroffere oder mildere Natur mitwirkt.

Dieser Widerspruch in der Form bei beiden Arten ist dunkel zu
nennen, und alles Erhabene ist daher dunkel. Wie sehr beide von
sinnlichem Dunkel oder Helldunkel unterstützt werden, so daß selbst ein an
sich nicht erhabener Gegenstand durch das Verschwimmen der Umrisse und
der Einzeltheile erhaben wird, davon nachher an seinem Orte. Das

des großen Mannes; eine oder die andere Grundkraft hebt ſich aus
dem Kreiſe der perſönlichen Kräfte heraus, wir ſchwindeln vor dem
Unerſchöpflichen, das jede gegebene Form hinter ſich läßt und die
Grenzen des Individuums zur Gattung zu erweitern ſcheint. Allein
das Individuum bleibt Individuum, kehrt zur Begrenztheit und ſelbſt
Bedürftigkeit zurück und nun erſt, wenn wir ausrufen können: ſo klein
und doch ſo groß! iſt der Eindruck des Erhabenen vollendet. — Da-
gegen ſtellt ſich ein anderes Verhältniß dar, wenn die Form als Grenze
eines Gegenſtands, wie ſie aus ſeiner Gattung fließt, eingehalten, aber
in dieſer Einhaltung überall erweitert iſt. Man denke an die weiche Linie
des Veſuv, der doch als Ganzes erhaben iſt, an eine nicht rohe, ſondern
rein künſtleriſch ausgeführte Colloſſalſtatue, an eine große Perſönlichkeit,
welche überall Maß in ihrem Thun beobachtet. Die Erweiterung allein
macht hier, wie Weiße richtig bemerkt, noch nicht das Erhabene, wohl
aber die Erweiterung zuſammenwirkend mit ihrer nothwendigen Folge, daß
die untergeordneten Einzeltheile verſchwinden. Die Kunſt, um ſie vor-
läufig als Beiſpiel zu erwähnen, bewerkſtelligt dies durch die Art der
Behandlung; ſie läßt ſich z. B. als hoher Styl der Plaſtik nicht ſo tief
in die Einzelheiten der Muskulatur, der Adern u. ſ. w. ein, ſondern
hebt mit keckem Meißel nur das Weſentliche hervor. Abgeſehen aber von
der Kunſt bewerkſtelligt dies unſer Auge und unſere Beobachtung über-
haupt, welche, wo die Umriſſe des Ganzen ſehr weit gezogen ſind, das
untergeordnete Einzelne nicht mehr aufzufaſſen vermögen. Es erhellt jedoch,
daß das Erhabene dieſer Art immer noch als ein Schönes erſcheinen
würde, wenn nicht der Abſtand von den Umgebungen wäre, der als ein
unendlicher erſcheint. Dies iſt ein durchaus weſentlicher Punkt. Auch
eine Kraftäußerung z. B. kann an ſich immer noch ſo mild ſeyn, daß ſie
nicht erhaben hieße, wenn nicht ihr Verhältniß zu andern ungleich ge-
ringern Kraft-Aeußerungen das, was Kraft in ihr iſt, in den Vorder-
grund ſtellte und zwar als unendliche Kraft. Uebrigens erhellt, daß
die ſchroffere Art dem negativ Erhabenen näher ſteht, als die mildere;
es wird ſich hieran ein Unterſchied der Ideale hängen, zu deſſen Er-
zeugung ſchon die umgebende ſchroffere oder mildere Natur mitwirkt.

Dieſer Widerſpruch in der Form bei beiden Arten iſt dunkel zu
nennen, und alles Erhabene iſt daher dunkel. Wie ſehr beide von
ſinnlichem Dunkel oder Helldunkel unterſtützt werden, ſo daß ſelbſt ein an
ſich nicht erhabener Gegenſtand durch das Verſchwimmen der Umriſſe und
der Einzeltheile erhaben wird, davon nachher an ſeinem Orte. Das

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[229/0243] des großen Mannes; eine oder die andere Grundkraft hebt ſich aus dem Kreiſe der perſönlichen Kräfte heraus, wir ſchwindeln vor dem Unerſchöpflichen, das jede gegebene Form hinter ſich läßt und die Grenzen des Individuums zur Gattung zu erweitern ſcheint. Allein das Individuum bleibt Individuum, kehrt zur Begrenztheit und ſelbſt Bedürftigkeit zurück und nun erſt, wenn wir ausrufen können: ſo klein und doch ſo groß! iſt der Eindruck des Erhabenen vollendet. — Da- gegen ſtellt ſich ein anderes Verhältniß dar, wenn die Form als Grenze eines Gegenſtands, wie ſie aus ſeiner Gattung fließt, eingehalten, aber in dieſer Einhaltung überall erweitert iſt. Man denke an die weiche Linie des Veſuv, der doch als Ganzes erhaben iſt, an eine nicht rohe, ſondern rein künſtleriſch ausgeführte Colloſſalſtatue, an eine große Perſönlichkeit, welche überall Maß in ihrem Thun beobachtet. Die Erweiterung allein macht hier, wie Weiße richtig bemerkt, noch nicht das Erhabene, wohl aber die Erweiterung zuſammenwirkend mit ihrer nothwendigen Folge, daß die untergeordneten Einzeltheile verſchwinden. Die Kunſt, um ſie vor- läufig als Beiſpiel zu erwähnen, bewerkſtelligt dies durch die Art der Behandlung; ſie läßt ſich z. B. als hoher Styl der Plaſtik nicht ſo tief in die Einzelheiten der Muskulatur, der Adern u. ſ. w. ein, ſondern hebt mit keckem Meißel nur das Weſentliche hervor. Abgeſehen aber von der Kunſt bewerkſtelligt dies unſer Auge und unſere Beobachtung über- haupt, welche, wo die Umriſſe des Ganzen ſehr weit gezogen ſind, das untergeordnete Einzelne nicht mehr aufzufaſſen vermögen. Es erhellt jedoch, daß das Erhabene dieſer Art immer noch als ein Schönes erſcheinen würde, wenn nicht der Abſtand von den Umgebungen wäre, der als ein unendlicher erſcheint. Dies iſt ein durchaus weſentlicher Punkt. Auch eine Kraftäußerung z. B. kann an ſich immer noch ſo mild ſeyn, daß ſie nicht erhaben hieße, wenn nicht ihr Verhältniß zu andern ungleich ge- ringern Kraft-Aeußerungen das, was Kraft in ihr iſt, in den Vorder- grund ſtellte und zwar als unendliche Kraft. Uebrigens erhellt, daß die ſchroffere Art dem negativ Erhabenen näher ſteht, als die mildere; es wird ſich hieran ein Unterſchied der Ideale hängen, zu deſſen Er- zeugung ſchon die umgebende ſchroffere oder mildere Natur mitwirkt. Dieſer Widerſpruch in der Form bei beiden Arten iſt dunkel zu nennen, und alles Erhabene iſt daher dunkel. Wie ſehr beide von ſinnlichem Dunkel oder Helldunkel unterſtützt werden, ſo daß ſelbſt ein an ſich nicht erhabener Gegenſtand durch das Verſchwimmen der Umriſſe und der Einzeltheile erhaben wird, davon nachher an ſeinem Orte. Das

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/243>, abgerufen am 29.03.2024.