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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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gorien der Objectivität, welcher geliehen wird, bilden allerdings den bestim-
menden Unterschied. Es ist also der vorhandene Schein, als ob ein Erhabenes
außer dem selbstbewußten Geiste sey, zuerst einfach festzuhalten.

Es scheint auffallend, daß gerade Kant, der es ausdrücklich aus-
spricht, daß die Natur zwar extensive, aber nicht intensive Unendlichkeit
mit sich führe, daß also die wahre Erhabenheit nur im Gemüthe des
"Urtheilenden", nicht im Naturobjecte gesucht werden müsse, die Er-
habenheit dennoch auf die Natur, ja sogar die unorganische -- "rohe" --
Natur mit Nachdruck beschränkt (a. a. O. §. 26). Als Grund, warum
er die organische Natur ausschließt, gibt er an, daß deren Begriff schon
einen bestimmten Zweck bei sich führe, ("z. B. Thiere von bekannter
Naturbestimmung"). Hier nämlich, meint er, würde statt des Erhabenen
das Ungeheure entstehen, weil der Zweck des Ganzen, der nur mit einem
gewissen Maße der Größe vereinbar ist, vernichtet würde. Also hat ihn
wieder die Kategorie der Zweckmäßigkeit verwirrt. Die Frage aber, ob
denn nicht das Erhabene des Geistes, sinnlich erscheinend, eine eigene
und höhere Form des Erhabenen begründen müsse, wirft er gar nicht
auf. Der geheime Grund davon ist offenbar, daß hier seine psychologische
Theorie von der Subreption, wovon nachher zu sprechen ist, nicht an-
zubringen gewesen wäre; und dies mag ihm als tieferer Grund auch bei
der Ausschließung der organischen Natur schon vorgeschwebt haben, denn
hier ist zwar ein Leihen noch nöthig, aber in ungleich minderem Grade.
Die neuere Aesthetik nun hat den Satz gerade umgekehrt. Ruge ent-
wickelt das Erhabene unmittelbar als den aus seiner Versunkenheit sich
erhebenden Geist und nun hebt er an Kant rühmend hervor, daß nach
ihm die Erhabenheit wahres Eigenthum des Geistes sey (a. a. O. S. 73),
und tadelt Schiller und Jean Paul, daß sie "das Uebergroße und
Uebermächtige da draußen erhaben nennen". Die sogenannten erhabenen
Erscheinungen der Natur gelten ihm daher nur für ein Gleichniß der
wahren Befreiung und der wahren Unendlichkeit, wie sie der Geist erreicht.
Darauf antwortet unser §. -- "Gleichniß" klingt ganz allegorisch. Der Geist
legt ein Gefühl seiner Unendlichkeit in die Erscheinungen der Natur, aber
es ist eben ein Unterschied, ob er sie da hineinlegt oder ob er sie
dort findet, wo sie in adäquater Form ist, und um sie dort hinein-
zulegen, dazu treibt ihn ein Instinct, der guten Grund hat und tiefer
liegt, als ein Vergleichen, ein Instinct des Geistes, der ihm zuflüstert,
daß er in seiner dunkeln Wurzel selbst Natur ist.


gorien der Objectivität, welcher geliehen wird, bilden allerdings den beſtim-
menden Unterſchied. Es iſt alſo der vorhandene Schein, als ob ein Erhabenes
außer dem ſelbſtbewußten Geiſte ſey, zuerſt einfach feſtzuhalten.

Es ſcheint auffallend, daß gerade Kant, der es ausdrücklich aus-
ſpricht, daß die Natur zwar extenſive, aber nicht intenſive Unendlichkeit
mit ſich führe, daß alſo die wahre Erhabenheit nur im Gemüthe des
„Urtheilenden“, nicht im Naturobjecte geſucht werden müſſe, die Er-
habenheit dennoch auf die Natur, ja ſogar die unorganiſche — „rohe“ —
Natur mit Nachdruck beſchränkt (a. a. O. §. 26). Als Grund, warum
er die organiſche Natur ausſchließt, gibt er an, daß deren Begriff ſchon
einen beſtimmten Zweck bei ſich führe, („z. B. Thiere von bekannter
Naturbeſtimmung“). Hier nämlich, meint er, würde ſtatt des Erhabenen
das Ungeheure entſtehen, weil der Zweck des Ganzen, der nur mit einem
gewiſſen Maße der Größe vereinbar iſt, vernichtet würde. Alſo hat ihn
wieder die Kategorie der Zweckmäßigkeit verwirrt. Die Frage aber, ob
denn nicht das Erhabene des Geiſtes, ſinnlich erſcheinend, eine eigene
und höhere Form des Erhabenen begründen müſſe, wirft er gar nicht
auf. Der geheime Grund davon iſt offenbar, daß hier ſeine pſychologiſche
Theorie von der Subreption, wovon nachher zu ſprechen iſt, nicht an-
zubringen geweſen wäre; und dies mag ihm als tieferer Grund auch bei
der Ausſchließung der organiſchen Natur ſchon vorgeſchwebt haben, denn
hier iſt zwar ein Leihen noch nöthig, aber in ungleich minderem Grade.
Die neuere Aeſthetik nun hat den Satz gerade umgekehrt. Ruge ent-
wickelt das Erhabene unmittelbar als den aus ſeiner Verſunkenheit ſich
erhebenden Geiſt und nun hebt er an Kant rühmend hervor, daß nach
ihm die Erhabenheit wahres Eigenthum des Geiſtes ſey (a. a. O. S. 73),
und tadelt Schiller und Jean Paul, daß ſie „das Uebergroße und
Uebermächtige da draußen erhaben nennen“. Die ſogenannten erhabenen
Erſcheinungen der Natur gelten ihm daher nur für ein Gleichniß der
wahren Befreiung und der wahren Unendlichkeit, wie ſie der Geiſt erreicht.
Darauf antwortet unſer §. — „Gleichniß“ klingt ganz allegoriſch. Der Geiſt
legt ein Gefühl ſeiner Unendlichkeit in die Erſcheinungen der Natur, aber
es iſt eben ein Unterſchied, ob er ſie da hineinlegt oder ob er ſie
dort findet, wo ſie in adäquater Form iſt, und um ſie dort hinein-
zulegen, dazu treibt ihn ein Inſtinct, der guten Grund hat und tiefer
liegt, als ein Vergleichen, ein Inſtinct des Geiſtes, der ihm zuflüſtert,
daß er in ſeiner dunkeln Wurzel ſelbſt Natur iſt.


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[232/0246] gorien der Objectivität, welcher geliehen wird, bilden allerdings den beſtim- menden Unterſchied. Es iſt alſo der vorhandene Schein, als ob ein Erhabenes außer dem ſelbſtbewußten Geiſte ſey, zuerſt einfach feſtzuhalten. Es ſcheint auffallend, daß gerade Kant, der es ausdrücklich aus- ſpricht, daß die Natur zwar extenſive, aber nicht intenſive Unendlichkeit mit ſich führe, daß alſo die wahre Erhabenheit nur im Gemüthe des „Urtheilenden“, nicht im Naturobjecte geſucht werden müſſe, die Er- habenheit dennoch auf die Natur, ja ſogar die unorganiſche — „rohe“ — Natur mit Nachdruck beſchränkt (a. a. O. §. 26). Als Grund, warum er die organiſche Natur ausſchließt, gibt er an, daß deren Begriff ſchon einen beſtimmten Zweck bei ſich führe, („z. B. Thiere von bekannter Naturbeſtimmung“). Hier nämlich, meint er, würde ſtatt des Erhabenen das Ungeheure entſtehen, weil der Zweck des Ganzen, der nur mit einem gewiſſen Maße der Größe vereinbar iſt, vernichtet würde. Alſo hat ihn wieder die Kategorie der Zweckmäßigkeit verwirrt. Die Frage aber, ob denn nicht das Erhabene des Geiſtes, ſinnlich erſcheinend, eine eigene und höhere Form des Erhabenen begründen müſſe, wirft er gar nicht auf. Der geheime Grund davon iſt offenbar, daß hier ſeine pſychologiſche Theorie von der Subreption, wovon nachher zu ſprechen iſt, nicht an- zubringen geweſen wäre; und dies mag ihm als tieferer Grund auch bei der Ausſchließung der organiſchen Natur ſchon vorgeſchwebt haben, denn hier iſt zwar ein Leihen noch nöthig, aber in ungleich minderem Grade. Die neuere Aeſthetik nun hat den Satz gerade umgekehrt. Ruge ent- wickelt das Erhabene unmittelbar als den aus ſeiner Verſunkenheit ſich erhebenden Geiſt und nun hebt er an Kant rühmend hervor, daß nach ihm die Erhabenheit wahres Eigenthum des Geiſtes ſey (a. a. O. S. 73), und tadelt Schiller und Jean Paul, daß ſie „das Uebergroße und Uebermächtige da draußen erhaben nennen“. Die ſogenannten erhabenen Erſcheinungen der Natur gelten ihm daher nur für ein Gleichniß der wahren Befreiung und der wahren Unendlichkeit, wie ſie der Geiſt erreicht. Darauf antwortet unſer §. — „Gleichniß“ klingt ganz allegoriſch. Der Geiſt legt ein Gefühl ſeiner Unendlichkeit in die Erſcheinungen der Natur, aber es iſt eben ein Unterſchied, ob er ſie da hineinlegt oder ob er ſie dort findet, wo ſie in adäquater Form iſt, und um ſie dort hinein- zulegen, dazu treibt ihn ein Inſtinct, der guten Grund hat und tiefer liegt, als ein Vergleichen, ein Inſtinct des Geiſtes, der ihm zuflüſtert, daß er in ſeiner dunkeln Wurzel ſelbſt Natur iſt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/246>, abgerufen am 19.04.2024.