Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Die oben erwähnte Andeutung Schleiermachers über eine in der
Aesthetik erforderliche Rückbeziehung auf die höhere Einheit der Physik
und Ethik gehört um so weniger hieher, als er dieselbe auf alle Disci-
plinen der Ethik ausdehnt. Wohl aber ist hier der verworrene, wie-
wohl in anderer Beziehung bedeutungsvolle Versuch Kants darzustellen.

Kant hat eine "unübersehbare Kluft" zwischen der Sphäre des Ver-
standes und der Vernunft und zwischen dem Boden ihrer Gesetzgebung,
der Natur und der Freiheit, befestigt. So lauten bei Kant die Gegen-
sätze; eigentlich ist es eine Kluft zwischen der Idee und ihrer Wirklichkeit.
Kant sucht eine Einheit, einen nachträglichen Uebergang; da er aber
die Idee nur in der Form der sittlichen Gesetzgebung oder des Freiheits-
begriffs anerkennt, so meint er, diesen Uebergang nur zu bedürfen, da-
mit die Natur als empfänglich erkannt werde, die Wirkungen der prak-
tischen Vernunft in sich aufzunehmen, damit sie als bestimmbar durch
das intellectuale Vermögen erscheine. Er muß daher das übersinnliche
Substrat, das der Verstand in der Natur voraussetzt, aber völlig un-
bestimmt läßt, näher bestimmen, um eine solche Empfänglichkeit der Natur
begreiflich zu machen; er muß immanenten Geist in der Natur annehmen.
An dieser Stelle drängt sich eine Ahnung hervor, durch welche er über
seinen eigenen Dualismus sich erhebt, die er aber, indem er sie aus-
spricht, wieder erstickt, indem er sie nur für etwas Subjectives, für
einen bloßen "Uebergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der
einen (Welt) zu der nach Prinzipien der andern" erklärt. Diesen Ueber-
gang zu finden nimmt er (Kritik der Urtheilskr. Einl.) die verschrobene
Wendung, die Urtheilskraft, nachdem ihr in der Kritik der reinen
Vernunft schon ihr Gebiet angewiesen ist, in einer neuen Form aufzu-
führen. Der Begriff der Urtheilskraft als "des Vermögens, das Be-
sondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken" hätte ihn frei-
lich schon dort auf ganz andere Einsichten führen können, als auf jene
skeptische Mitte zwischen Dualismus und subjectivem Idealismus, die sein
Standpunkt ist; nun aber nimmt er dieses Vermögen noch einmal auf
und unterscheidet zwischen einer bestimmenden und einer reflecti-
renden
Urtheilskraft. Bestimmend ist sie, wenn das Allgemeine (die
Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben ist, worunter sie das Be-
sondere subsumirt. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das
Allgemeine finden soll, so ist sie bloß reflectirend. Die bestimmende
Urtheilskraft ist unzureichend, weil so mannigfaltige Formen in der
Natur sind, welche durch jene Gesetze, die der reine Verstand a priori

Die oben erwähnte Andeutung Schleiermachers über eine in der
Aeſthetik erforderliche Rückbeziehung auf die höhere Einheit der Phyſik
und Ethik gehört um ſo weniger hieher, als er dieſelbe auf alle Diſci-
plinen der Ethik ausdehnt. Wohl aber iſt hier der verworrene, wie-
wohl in anderer Beziehung bedeutungsvolle Verſuch Kants darzuſtellen.

Kant hat eine „unüberſehbare Kluft“ zwiſchen der Sphäre des Ver-
ſtandes und der Vernunft und zwiſchen dem Boden ihrer Geſetzgebung,
der Natur und der Freiheit, befeſtigt. So lauten bei Kant die Gegen-
ſätze; eigentlich iſt es eine Kluft zwiſchen der Idee und ihrer Wirklichkeit.
Kant ſucht eine Einheit, einen nachträglichen Uebergang; da er aber
die Idee nur in der Form der ſittlichen Geſetzgebung oder des Freiheits-
begriffs anerkennt, ſo meint er, dieſen Uebergang nur zu bedürfen, da-
mit die Natur als empfänglich erkannt werde, die Wirkungen der prak-
tiſchen Vernunft in ſich aufzunehmen, damit ſie als beſtimmbar durch
das intellectuale Vermögen erſcheine. Er muß daher das überſinnliche
Subſtrat, das der Verſtand in der Natur vorausſetzt, aber völlig un-
beſtimmt läßt, näher beſtimmen, um eine ſolche Empfänglichkeit der Natur
begreiflich zu machen; er muß immanenten Geiſt in der Natur annehmen.
An dieſer Stelle drängt ſich eine Ahnung hervor, durch welche er über
ſeinen eigenen Dualiſmus ſich erhebt, die er aber, indem er ſie aus-
ſpricht, wieder erſtickt, indem er ſie nur für etwas Subjectives, für
einen bloßen „Uebergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der
einen (Welt) zu der nach Prinzipien der andern“ erklärt. Dieſen Ueber-
gang zu finden nimmt er (Kritik der Urtheilskr. Einl.) die verſchrobene
Wendung, die Urtheilskraft, nachdem ihr in der Kritik der reinen
Vernunft ſchon ihr Gebiet angewieſen iſt, in einer neuen Form aufzu-
führen. Der Begriff der Urtheilskraft als „des Vermögens, das Be-
ſondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ hätte ihn frei-
lich ſchon dort auf ganz andere Einſichten führen können, als auf jene
ſkeptiſche Mitte zwiſchen Dualiſmus und ſubjectivem Idealiſmus, die ſein
Standpunkt iſt; nun aber nimmt er dieſes Vermögen noch einmal auf
und unterſcheidet zwiſchen einer beſtimmenden und einer reflecti-
renden
Urtheilskraft. Beſtimmend iſt ſie, wenn das Allgemeine (die
Regel, das Prinzip, das Geſetz) gegeben iſt, worunter ſie das Be-
ſondere ſubſumirt. Iſt aber nur das Beſondere gegeben, wozu ſie das
Allgemeine finden ſoll, ſo iſt ſie bloß reflectirend. Die beſtimmende
Urtheilskraft iſt unzureichend, weil ſo mannigfaltige Formen in der
Natur ſind, welche durch jene Geſetze, die der reine Verſtand a priori

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0028" n="14"/>
          <p> <hi rendition="#et">Die oben erwähnte Andeutung <hi rendition="#g">Schleiermachers</hi> über eine in der<lb/>
Ae&#x017F;thetik erforderliche Rückbeziehung auf die höhere Einheit der Phy&#x017F;ik<lb/>
und Ethik gehört um &#x017F;o weniger hieher, als er die&#x017F;elbe auf alle Di&#x017F;ci-<lb/>
plinen der Ethik ausdehnt. Wohl aber i&#x017F;t hier der verworrene, wie-<lb/>
wohl in anderer Beziehung bedeutungsvolle Ver&#x017F;uch <hi rendition="#g">Kants</hi> darzu&#x017F;tellen.</hi> </p><lb/>
          <p> <hi rendition="#et"><hi rendition="#g">Kant</hi> hat eine &#x201E;unüber&#x017F;ehbare Kluft&#x201C; zwi&#x017F;chen der Sphäre des Ver-<lb/>
&#x017F;tandes und der Vernunft und zwi&#x017F;chen dem Boden ihrer Ge&#x017F;etzgebung,<lb/>
der Natur und der Freiheit, befe&#x017F;tigt. So lauten bei <hi rendition="#g">Kant</hi> die Gegen-<lb/>
&#x017F;ätze; eigentlich i&#x017F;t es eine Kluft zwi&#x017F;chen der Idee und ihrer Wirklichkeit.<lb/><hi rendition="#g">Kant</hi> &#x017F;ucht eine Einheit, einen nachträglichen Uebergang; da er aber<lb/>
die Idee nur in der Form der &#x017F;ittlichen Ge&#x017F;etzgebung oder des Freiheits-<lb/>
begriffs anerkennt, &#x017F;o meint er, die&#x017F;en Uebergang nur zu bedürfen, da-<lb/>
mit die Natur als empfänglich erkannt werde, die Wirkungen der prak-<lb/>
ti&#x017F;chen Vernunft in &#x017F;ich aufzunehmen, damit &#x017F;ie als be&#x017F;timmbar durch<lb/>
das <choice><sic>intellcctuale</sic><corr>intellectuale</corr></choice> Vermögen er&#x017F;cheine. Er muß daher das über&#x017F;innliche<lb/>
Sub&#x017F;trat, das der Ver&#x017F;tand in der Natur voraus&#x017F;etzt, aber völlig un-<lb/>
be&#x017F;timmt läßt, näher be&#x017F;timmen, um eine &#x017F;olche Empfänglichkeit der Natur<lb/>
begreiflich zu machen; er muß immanenten Gei&#x017F;t in der Natur annehmen.<lb/>
An die&#x017F;er Stelle drängt &#x017F;ich eine Ahnung hervor, durch welche er über<lb/>
&#x017F;einen eigenen Duali&#x017F;mus &#x017F;ich erhebt, die er aber, indem er &#x017F;ie aus-<lb/>
&#x017F;pricht, wieder er&#x017F;tickt, indem er &#x017F;ie nur für etwas Subjectives, für<lb/>
einen bloßen &#x201E;Uebergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der<lb/>
einen (Welt) zu der nach Prinzipien der andern&#x201C; erklärt. Die&#x017F;en Ueber-<lb/>
gang zu finden nimmt er (Kritik der Urtheilskr. Einl.) die ver&#x017F;chrobene<lb/>
Wendung, die <hi rendition="#g">Urtheilskraft</hi>, nachdem ihr in der Kritik der reinen<lb/>
Vernunft &#x017F;chon ihr Gebiet angewie&#x017F;en i&#x017F;t, in einer neuen Form aufzu-<lb/>
führen. Der Begriff der Urtheilskraft als &#x201E;des Vermögens, das Be-<lb/>
&#x017F;ondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken&#x201C; hätte ihn frei-<lb/>
lich &#x017F;chon dort auf ganz andere Ein&#x017F;ichten führen können, als auf jene<lb/>
&#x017F;kepti&#x017F;che Mitte zwi&#x017F;chen Duali&#x017F;mus und &#x017F;ubjectivem Ideali&#x017F;mus, die &#x017F;ein<lb/>
Standpunkt i&#x017F;t; nun aber nimmt er die&#x017F;es Vermögen noch einmal auf<lb/>
und unter&#x017F;cheidet zwi&#x017F;chen einer <hi rendition="#g">be&#x017F;timmenden</hi> und einer <hi rendition="#g">reflecti-<lb/>
renden</hi> Urtheilskraft. <hi rendition="#g">Be&#x017F;timmend</hi> i&#x017F;t &#x017F;ie, wenn das Allgemeine (die<lb/>
Regel, das Prinzip, das Ge&#x017F;etz) gegeben i&#x017F;t, worunter &#x017F;ie das Be-<lb/>
&#x017F;ondere &#x017F;ub&#x017F;umirt. I&#x017F;t aber nur das Be&#x017F;ondere gegeben, wozu &#x017F;ie das<lb/>
Allgemeine finden &#x017F;oll, &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ie bloß reflectirend. Die be&#x017F;timmende<lb/>
Urtheilskraft i&#x017F;t unzureichend, weil &#x017F;o mannigfaltige Formen in der<lb/>
Natur &#x017F;ind, welche durch jene Ge&#x017F;etze, die der reine Ver&#x017F;tand <hi rendition="#aq">a priori</hi><lb/></hi> </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0028] Die oben erwähnte Andeutung Schleiermachers über eine in der Aeſthetik erforderliche Rückbeziehung auf die höhere Einheit der Phyſik und Ethik gehört um ſo weniger hieher, als er dieſelbe auf alle Diſci- plinen der Ethik ausdehnt. Wohl aber iſt hier der verworrene, wie- wohl in anderer Beziehung bedeutungsvolle Verſuch Kants darzuſtellen. Kant hat eine „unüberſehbare Kluft“ zwiſchen der Sphäre des Ver- ſtandes und der Vernunft und zwiſchen dem Boden ihrer Geſetzgebung, der Natur und der Freiheit, befeſtigt. So lauten bei Kant die Gegen- ſätze; eigentlich iſt es eine Kluft zwiſchen der Idee und ihrer Wirklichkeit. Kant ſucht eine Einheit, einen nachträglichen Uebergang; da er aber die Idee nur in der Form der ſittlichen Geſetzgebung oder des Freiheits- begriffs anerkennt, ſo meint er, dieſen Uebergang nur zu bedürfen, da- mit die Natur als empfänglich erkannt werde, die Wirkungen der prak- tiſchen Vernunft in ſich aufzunehmen, damit ſie als beſtimmbar durch das intellectuale Vermögen erſcheine. Er muß daher das überſinnliche Subſtrat, das der Verſtand in der Natur vorausſetzt, aber völlig un- beſtimmt läßt, näher beſtimmen, um eine ſolche Empfänglichkeit der Natur begreiflich zu machen; er muß immanenten Geiſt in der Natur annehmen. An dieſer Stelle drängt ſich eine Ahnung hervor, durch welche er über ſeinen eigenen Dualiſmus ſich erhebt, die er aber, indem er ſie aus- ſpricht, wieder erſtickt, indem er ſie nur für etwas Subjectives, für einen bloßen „Uebergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen (Welt) zu der nach Prinzipien der andern“ erklärt. Dieſen Ueber- gang zu finden nimmt er (Kritik der Urtheilskr. Einl.) die verſchrobene Wendung, die Urtheilskraft, nachdem ihr in der Kritik der reinen Vernunft ſchon ihr Gebiet angewieſen iſt, in einer neuen Form aufzu- führen. Der Begriff der Urtheilskraft als „des Vermögens, das Be- ſondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ hätte ihn frei- lich ſchon dort auf ganz andere Einſichten führen können, als auf jene ſkeptiſche Mitte zwiſchen Dualiſmus und ſubjectivem Idealiſmus, die ſein Standpunkt iſt; nun aber nimmt er dieſes Vermögen noch einmal auf und unterſcheidet zwiſchen einer beſtimmenden und einer reflecti- renden Urtheilskraft. Beſtimmend iſt ſie, wenn das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Geſetz) gegeben iſt, worunter ſie das Be- ſondere ſubſumirt. Iſt aber nur das Beſondere gegeben, wozu ſie das Allgemeine finden ſoll, ſo iſt ſie bloß reflectirend. Die beſtimmende Urtheilskraft iſt unzureichend, weil ſo mannigfaltige Formen in der Natur ſind, welche durch jene Geſetze, die der reine Verſtand a priori

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/28
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/28>, abgerufen am 29.03.2024.