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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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sie gebunden, mag nun diese Negation eine wirkliche Ueberwindung der
Naturgrenzen oder eine freie Anerkennung derselben seyn, denn Negation
ist in beiden Acten. Schon darum ist der Naturgrund zugleich mit dem
sittlichen Leben heilig und ehrwürdig. Ich soll z. B. meine Eltern
ehren nicht nur weil sie mich erzogen haben, sondern weil in meiner
Natur-Abstammung von ihnen der geheimnißvolle Schooß meiner Kräfte
und Eigenheit liegt, worauf mein sittliches Wollen als seiner Basis ruht.
Zweitens das auf diesem Grunde sich verwirklichende sittliche Leben stößt in
unberechenbaren Zufällen wieder mit der Natur-Nothwendigkeit außer
ihm zusammen; diese ist Reiz, Quelle, Stoff der Thätigkeit, unendliche
Sollicitation und auch darum ist sie mit jenem heilig. Der Wille kann
und soll gegen sie kämpfen, aber ihre Gesetze nicht verachten und es ist
daher tragische Vermessenheit, wenn Xerxes den Hellespont geiselt. Allein
die Verwirklichung der Einheit dieser zwei großen Gesetze kann sich nur
in dem Prozesse einer Bewegung darstellen, worin ihre Collision und
die daraus erwachsende Schuld sich erzeugt und aufhebt.

2. Das Ganze der Nothwendigkeit muß natürlich dem ästhetischen
Gesetze gemäß als begrenzter Fall in einem Volke, einer Sphäre der
Gesellschaft erscheinen. Der Ausschnitt des Ganzen repräsentirt das
Ganze, die Völker, die Gattung und diese in ihrem Gesammtverhältniß
zu allem Seyn. Es bleibt bei dem, was in §. 53 aufgestellt ist, daß
der störende Zufall, der abgesehen vom Schönen sich nur im unendlichen
Verlaufe aufhebt, im Schönen aufgehoben auf Einem Punkte erscheinen
muß. Nun ist zwar die absolute Idee in jeder ästhetischen Erscheinung,
also auch einer einfach schönen, der Hintergrund, auf den die Anschauung
durch die dargestellte bestimmte Idee hindurchsieht; aber sie ist es im
Tragischen auf andere Weise, als im einfach Schönen. Das Einzelne
verschwindet in sie, auf welche Weise wird sich weiter zeigen. Wenn
daher eine unendliche Perspektive zum Wesen aller Schönheit gehört, so
muß in dieser Form der Schönheit der ganze Nachdruck auf dieser
Unendlichkeit als einem unabsehlichen Dunkel und Abgrund liegen, aus
welchem Alles kommt und der Alles in sich zurückschlingt. Die Perspec-
tive ist negativ, daher liegt der Accent auf dem Dunkel. Das Prinzip
dieser unabsehlichen Ordnung ist klar und hell, aber sie vollführt sich in
unendlich unberechenbarer Wechselverflechtung, und dies macht, daß die
Grenzen verschwimmen, daß die Umrisse wie in einem Helldunkel ver-
zittern, in welches unbestimmbar weit ein Licht hineindämmert. Wir
haben auch hier die "grenzlose Grenze" von §. 84. Das absolute

ſie gebunden, mag nun dieſe Negation eine wirkliche Ueberwindung der
Naturgrenzen oder eine freie Anerkennung derſelben ſeyn, denn Negation
iſt in beiden Acten. Schon darum iſt der Naturgrund zugleich mit dem
ſittlichen Leben heilig und ehrwürdig. Ich ſoll z. B. meine Eltern
ehren nicht nur weil ſie mich erzogen haben, ſondern weil in meiner
Natur-Abſtammung von ihnen der geheimnißvolle Schooß meiner Kräfte
und Eigenheit liegt, worauf mein ſittliches Wollen als ſeiner Baſis ruht.
Zweitens das auf dieſem Grunde ſich verwirklichende ſittliche Leben ſtößt in
unberechenbaren Zufällen wieder mit der Natur-Nothwendigkeit außer
ihm zuſammen; dieſe iſt Reiz, Quelle, Stoff der Thätigkeit, unendliche
Sollicitation und auch darum iſt ſie mit jenem heilig. Der Wille kann
und ſoll gegen ſie kämpfen, aber ihre Geſetze nicht verachten und es iſt
daher tragiſche Vermeſſenheit, wenn Xerxes den Helleſpont geiſelt. Allein
die Verwirklichung der Einheit dieſer zwei großen Geſetze kann ſich nur
in dem Prozeſſe einer Bewegung darſtellen, worin ihre Colliſion und
die daraus erwachſende Schuld ſich erzeugt und aufhebt.

2. Das Ganze der Nothwendigkeit muß natürlich dem äſthetiſchen
Geſetze gemäß als begrenzter Fall in einem Volke, einer Sphäre der
Geſellſchaft erſcheinen. Der Ausſchnitt des Ganzen repräſentirt das
Ganze, die Völker, die Gattung und dieſe in ihrem Geſammtverhältniß
zu allem Seyn. Es bleibt bei dem, was in §. 53 aufgeſtellt iſt, daß
der ſtörende Zufall, der abgeſehen vom Schönen ſich nur im unendlichen
Verlaufe aufhebt, im Schönen aufgehoben auf Einem Punkte erſcheinen
muß. Nun iſt zwar die abſolute Idee in jeder äſthetiſchen Erſcheinung,
alſo auch einer einfach ſchönen, der Hintergrund, auf den die Anſchauung
durch die dargeſtellte beſtimmte Idee hindurchſieht; aber ſie iſt es im
Tragiſchen auf andere Weiſe, als im einfach Schönen. Das Einzelne
verſchwindet in ſie, auf welche Weiſe wird ſich weiter zeigen. Wenn
daher eine unendliche Perſpektive zum Weſen aller Schönheit gehört, ſo
muß in dieſer Form der Schönheit der ganze Nachdruck auf dieſer
Unendlichkeit als einem unabſehlichen Dunkel und Abgrund liegen, aus
welchem Alles kommt und der Alles in ſich zurückſchlingt. Die Perſpec-
tive iſt negativ, daher liegt der Accent auf dem Dunkel. Das Prinzip
dieſer unabſehlichen Ordnung iſt klar und hell, aber ſie vollführt ſich in
unendlich unberechenbarer Wechſelverflechtung, und dies macht, daß die
Grenzen verſchwimmen, daß die Umriſſe wie in einem Helldunkel ver-
zittern, in welches unbeſtimmbar weit ein Licht hineindämmert. Wir
haben auch hier die „grenzloſe Grenze“ von §. 84. Das abſolute

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[283/0297] ſie gebunden, mag nun dieſe Negation eine wirkliche Ueberwindung der Naturgrenzen oder eine freie Anerkennung derſelben ſeyn, denn Negation iſt in beiden Acten. Schon darum iſt der Naturgrund zugleich mit dem ſittlichen Leben heilig und ehrwürdig. Ich ſoll z. B. meine Eltern ehren nicht nur weil ſie mich erzogen haben, ſondern weil in meiner Natur-Abſtammung von ihnen der geheimnißvolle Schooß meiner Kräfte und Eigenheit liegt, worauf mein ſittliches Wollen als ſeiner Baſis ruht. Zweitens das auf dieſem Grunde ſich verwirklichende ſittliche Leben ſtößt in unberechenbaren Zufällen wieder mit der Natur-Nothwendigkeit außer ihm zuſammen; dieſe iſt Reiz, Quelle, Stoff der Thätigkeit, unendliche Sollicitation und auch darum iſt ſie mit jenem heilig. Der Wille kann und ſoll gegen ſie kämpfen, aber ihre Geſetze nicht verachten und es iſt daher tragiſche Vermeſſenheit, wenn Xerxes den Helleſpont geiſelt. Allein die Verwirklichung der Einheit dieſer zwei großen Geſetze kann ſich nur in dem Prozeſſe einer Bewegung darſtellen, worin ihre Colliſion und die daraus erwachſende Schuld ſich erzeugt und aufhebt. 2. Das Ganze der Nothwendigkeit muß natürlich dem äſthetiſchen Geſetze gemäß als begrenzter Fall in einem Volke, einer Sphäre der Geſellſchaft erſcheinen. Der Ausſchnitt des Ganzen repräſentirt das Ganze, die Völker, die Gattung und dieſe in ihrem Geſammtverhältniß zu allem Seyn. Es bleibt bei dem, was in §. 53 aufgeſtellt iſt, daß der ſtörende Zufall, der abgeſehen vom Schönen ſich nur im unendlichen Verlaufe aufhebt, im Schönen aufgehoben auf Einem Punkte erſcheinen muß. Nun iſt zwar die abſolute Idee in jeder äſthetiſchen Erſcheinung, alſo auch einer einfach ſchönen, der Hintergrund, auf den die Anſchauung durch die dargeſtellte beſtimmte Idee hindurchſieht; aber ſie iſt es im Tragiſchen auf andere Weiſe, als im einfach Schönen. Das Einzelne verſchwindet in ſie, auf welche Weiſe wird ſich weiter zeigen. Wenn daher eine unendliche Perſpektive zum Weſen aller Schönheit gehört, ſo muß in dieſer Form der Schönheit der ganze Nachdruck auf dieſer Unendlichkeit als einem unabſehlichen Dunkel und Abgrund liegen, aus welchem Alles kommt und der Alles in ſich zurückſchlingt. Die Perſpec- tive iſt negativ, daher liegt der Accent auf dem Dunkel. Das Prinzip dieſer unabſehlichen Ordnung iſt klar und hell, aber ſie vollführt ſich in unendlich unberechenbarer Wechſelverflechtung, und dies macht, daß die Grenzen verſchwimmen, daß die Umriſſe wie in einem Helldunkel ver- zittern, in welches unbeſtimmbar weit ein Licht hineindämmert. Wir haben auch hier die „grenzloſe Grenze“ von §. 84. Das abſolute

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/297>, abgerufen am 24.04.2024.