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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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§. 134.

In dieser zweiten Form ist der Zufall (vergl. §. 117) zwar in den1
Zusammenhang eines sittlichen Ganzen gerückt, allein es wird eine höhere Form
seiner Aufhebung gefordert, welche nur darin bestehen kann, daß die Schuld mit
dem sittlichen Streben des Hauptsubjects nicht nur durch ein näheres oder ent-
fernteres subjectives Band verknüpft ist, sondern mit ihm in Einem Punkte
zusammenfällt. So ist sie nicht mehr irgend eine Schuld und verletzt nicht mehr
irgend ein Verhältniß, sondern diejenige sittliche Macht, welche mit der andern,
die der Inhalt jenes Strebens ist, in innerer Einheit stände, wenn dieses
Streben nicht schuldig wäre. Nun ist schon in der zweiten Form der reinere
Fall derjenige, wenn die Strafe durch Subjecte kommt, welche schuldig, und
zugleich gegen den Verletzenden im Rechte sind (§. 132 und 133), und die
gesuchte höhere Form des Tragischen wird entstehen, wenn diese, indem sie die
Strafe ausüben, auf dieselbe Weise schuldig werden, wie das erste Subject.
Die Keime dieser Form liegen schon in der zweiten vorbereitet.2

1. Zufällig ist die Schuld auch als Kehrseite der Tugend, wenn nur
das Temperament, das, so wie es ist, zu der Aufnahme des sittlichen
Zwecks geeignet war, gerade auch die natürliche Quelle der damit ver-
bundenen Uebereilungen u. s. w. ist. Egmont z. B. ist leichtsinnig als
Repräsentant genußlustiger niederländischer Art und Weise im Streben
nach Freiheit, aber objectiv liegt in diesem Pathos nicht die Nothwendig-
keit eines solchen Fehlers, Horn ist vorsichtig. Zufällig ist die Strafe
zunächst dadurch, daß gemeinhin sogenannter Zufall eingreift, der aber
zurechenbar ist, wie bei Oedipus wenigstens in dem oben angegebenen
Sinne, ebenso bei Romeo. Hier kann auch die Verwechslung der Rappiere
im Hamlet noch angeführt werden; sie ist ein Zufall, aber Laertes, der
durch diese Verwechslung fällt, muß sie auch auf seine Rechnung nehmen,
weil wer ein tückisches Spiel mit sinnlichen Gegenständen treibt, die dem
Zufall unterworfen sind, sich diesen gefallen lassen muß, wenn er sich
gegen ihn selbst kehrt. Zufällig ist ferner die Strafe, wenn sie zwar
von einem Subjecte kommt, aber einem solchen, das, indem es sie ver-
hängt, nicht im Rechte ist, wie Elisabeth in Maria Stuart. Zufällig
ist aber die Strafe auch wenn das zweite Subject im Rechte ist, sofern
es nämlich von dem schuldigen Hauptsubjecte zwar verletzt war, aber
nicht auf dem Punkte, wo das höchste sittliche Streben seines Lebens liegt,

§. 134.

In dieſer zweiten Form iſt der Zufall (vergl. §. 117) zwar in den1
Zuſammenhang eines ſittlichen Ganzen gerückt, allein es wird eine höhere Form
ſeiner Aufhebung gefordert, welche nur darin beſtehen kann, daß die Schuld mit
dem ſittlichen Streben des Hauptſubjects nicht nur durch ein näheres oder ent-
fernteres ſubjectives Band verknüpft iſt, ſondern mit ihm in Einem Punkte
zuſammenfällt. So iſt ſie nicht mehr irgend eine Schuld und verletzt nicht mehr
irgend ein Verhältniß, ſondern diejenige ſittliche Macht, welche mit der andern,
die der Inhalt jenes Strebens iſt, in innerer Einheit ſtände, wenn dieſes
Streben nicht ſchuldig wäre. Nun iſt ſchon in der zweiten Form der reinere
Fall derjenige, wenn die Strafe durch Subjecte kommt, welche ſchuldig, und
zugleich gegen den Verletzenden im Rechte ſind (§. 132 und 133), und die
geſuchte höhere Form des Tragiſchen wird entſtehen, wenn dieſe, indem ſie die
Strafe ausüben, auf dieſelbe Weiſe ſchuldig werden, wie das erſte Subject.
Die Keime dieſer Form liegen ſchon in der zweiten vorbereitet.2

1. Zufällig iſt die Schuld auch als Kehrſeite der Tugend, wenn nur
das Temperament, das, ſo wie es iſt, zu der Aufnahme des ſittlichen
Zwecks geeignet war, gerade auch die natürliche Quelle der damit ver-
bundenen Uebereilungen u. ſ. w. iſt. Egmont z. B. iſt leichtſinnig als
Repräſentant genußluſtiger niederländiſcher Art und Weiſe im Streben
nach Freiheit, aber objectiv liegt in dieſem Pathos nicht die Nothwendig-
keit eines ſolchen Fehlers, Horn iſt vorſichtig. Zufällig iſt die Strafe
zunächſt dadurch, daß gemeinhin ſogenannter Zufall eingreift, der aber
zurechenbar iſt, wie bei Oedipus wenigſtens in dem oben angegebenen
Sinne, ebenſo bei Romeo. Hier kann auch die Verwechslung der Rappiere
im Hamlet noch angeführt werden; ſie iſt ein Zufall, aber Laertes, der
durch dieſe Verwechslung fällt, muß ſie auch auf ſeine Rechnung nehmen,
weil wer ein tückiſches Spiel mit ſinnlichen Gegenſtänden treibt, die dem
Zufall unterworfen ſind, ſich dieſen gefallen laſſen muß, wenn er ſich
gegen ihn ſelbſt kehrt. Zufällig iſt ferner die Strafe, wenn ſie zwar
von einem Subjecte kommt, aber einem ſolchen, das, indem es ſie ver-
hängt, nicht im Rechte iſt, wie Eliſabeth in Maria Stuart. Zufällig
iſt aber die Strafe auch wenn das zweite Subject im Rechte iſt, ſofern
es nämlich von dem ſchuldigen Hauptſubjecte zwar verletzt war, aber
nicht auf dem Punkte, wo das höchſte ſittliche Streben ſeines Lebens liegt,

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[311/0325] §. 134. In dieſer zweiten Form iſt der Zufall (vergl. §. 117) zwar in den Zuſammenhang eines ſittlichen Ganzen gerückt, allein es wird eine höhere Form ſeiner Aufhebung gefordert, welche nur darin beſtehen kann, daß die Schuld mit dem ſittlichen Streben des Hauptſubjects nicht nur durch ein näheres oder ent- fernteres ſubjectives Band verknüpft iſt, ſondern mit ihm in Einem Punkte zuſammenfällt. So iſt ſie nicht mehr irgend eine Schuld und verletzt nicht mehr irgend ein Verhältniß, ſondern diejenige ſittliche Macht, welche mit der andern, die der Inhalt jenes Strebens iſt, in innerer Einheit ſtände, wenn dieſes Streben nicht ſchuldig wäre. Nun iſt ſchon in der zweiten Form der reinere Fall derjenige, wenn die Strafe durch Subjecte kommt, welche ſchuldig, und zugleich gegen den Verletzenden im Rechte ſind (§. 132 und 133), und die geſuchte höhere Form des Tragiſchen wird entſtehen, wenn dieſe, indem ſie die Strafe ausüben, auf dieſelbe Weiſe ſchuldig werden, wie das erſte Subject. Die Keime dieſer Form liegen ſchon in der zweiten vorbereitet. 1. Zufällig iſt die Schuld auch als Kehrſeite der Tugend, wenn nur das Temperament, das, ſo wie es iſt, zu der Aufnahme des ſittlichen Zwecks geeignet war, gerade auch die natürliche Quelle der damit ver- bundenen Uebereilungen u. ſ. w. iſt. Egmont z. B. iſt leichtſinnig als Repräſentant genußluſtiger niederländiſcher Art und Weiſe im Streben nach Freiheit, aber objectiv liegt in dieſem Pathos nicht die Nothwendig- keit eines ſolchen Fehlers, Horn iſt vorſichtig. Zufällig iſt die Strafe zunächſt dadurch, daß gemeinhin ſogenannter Zufall eingreift, der aber zurechenbar iſt, wie bei Oedipus wenigſtens in dem oben angegebenen Sinne, ebenſo bei Romeo. Hier kann auch die Verwechslung der Rappiere im Hamlet noch angeführt werden; ſie iſt ein Zufall, aber Laertes, der durch dieſe Verwechslung fällt, muß ſie auch auf ſeine Rechnung nehmen, weil wer ein tückiſches Spiel mit ſinnlichen Gegenſtänden treibt, die dem Zufall unterworfen ſind, ſich dieſen gefallen laſſen muß, wenn er ſich gegen ihn ſelbſt kehrt. Zufällig iſt ferner die Strafe, wenn ſie zwar von einem Subjecte kommt, aber einem ſolchen, das, indem es ſie ver- hängt, nicht im Rechte iſt, wie Eliſabeth in Maria Stuart. Zufällig iſt aber die Strafe auch wenn das zweite Subject im Rechte iſt, ſofern es nämlich von dem ſchuldigen Hauptſubjecte zwar verletzt war, aber nicht auf dem Punkte, wo das höchſte ſittliche Streben ſeines Lebens liegt,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/325>, abgerufen am 24.04.2024.