Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

als das den Mittelpunkt der Tragödie Bestimmende) so ist auch kein
Schicksal anzuklagen. Positiv aber liegt die Versöhnung nach der objec-
tiven Seite nicht nur darin, daß für den Augenblick wirklich geschehen
ist, was jedes der kämpfenden sittlichen Gesetze forderte, sondern in der
Aussicht, daß die harte Lehre künftig eine Ausgleichung des einen mit
dem andern vor der Vollstreckung eines grausamen Gegenschlags mit sich
führen werde. So wird aus dem Handeln des Kreon vom Chor die
Lehre der Besonnenheit und des Weise-Werdens im Alter gezogen, nur
darf man nicht wie Böckh (Ueber d. Antig. d. Soph. Abh. d. Berl.
Akad. 1824) dies für den Grundgedanken der Tragödie erklären. Kreon
würde, wenn der Fall sich wiederholte, die Todesstrafe verkündigen, aber
nicht vollstrecken. Man könnte einwenden, daraus folge ja eben die
untragische stumpfe Vermittlung, allein es ist ein Anderes, ob dies in
Aussicht gestellt oder in die Tragödie selbst aufgenommen wird. Aller-
dings liegt es der modernen Bildung näher, solche humane Ausgleichung
in den tragischen Gang selbst aufzunehmen, wie im Prinzen Heinrich
von Hessen-Homburg, wo der Churfürst das todesurtheil ankündigt
und nicht vollzieht, wodurch das Ganze glücklich schließt. Man vergesse
aber nicht, daß Heinrich trotzdem durch alle Schrecken des Todes hin-
durch muß; man erwäge ferner, daß ein Conflict zwischen Kampfwuth
und Subordination eine schonendere Lösung duldet, als zwischen so großen
Mächten wie Staatswohl und Familienliebe. Doch auch die Humanität
der Bildung mit in Rechnung genommen ist das Tragische tiefer, wenn
ihr schonendes Thun nur in Aussicht gestellt ist. Allerdings liegt nun
darin ein Widerspruch: schonende Ausgleichung ist in Aussicht gestellt,
und der Zuschauer weiß doch: daß, sobald ein Fall des Conflicts wieder-
kehren wird, so fordert das tragische Gesetz wieder den blutigen Kampf.
Dies ist ein Widerspruch, der nicht zu läugnen ist und daher die Aesthe-
tik über das Erhabene hinaustreibt in eine andere Sphäre.

3. Dem Subjecte, das sein Pathos mit Gründen verfochten hat,
kann die Helle des Gedankens nicht ferne liegen, um, durch Leiden be-
lehrt, es auch mit dem entgegensetzten in Einer gerechten Erwägung zu-
sammenzufassen, seine Schuld zu erkennen, zur Reinheit der Contempla-
tion zurückzukehren, den Haß zu opfern, wie Tasso und Antonio (die
freilich beide am Leben bleiben, weil überhaupt in dieser Tragödie zu
wenig geschieht) und dem Feinde vereint über den Gräbern als die geistige
Gestalt des Einen Mannes zu schweben, von dem Leonore spricht.


Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 21

als das den Mittelpunkt der Tragödie Beſtimmende) ſo iſt auch kein
Schickſal anzuklagen. Poſitiv aber liegt die Verſöhnung nach der objec-
tiven Seite nicht nur darin, daß für den Augenblick wirklich geſchehen
iſt, was jedes der kämpfenden ſittlichen Geſetze forderte, ſondern in der
Ausſicht, daß die harte Lehre künftig eine Ausgleichung des einen mit
dem andern vor der Vollſtreckung eines grauſamen Gegenſchlags mit ſich
führen werde. So wird aus dem Handeln des Kreon vom Chor die
Lehre der Beſonnenheit und des Weiſe-Werdens im Alter gezogen, nur
darf man nicht wie Böckh (Ueber d. Antig. d. Soph. Abh. d. Berl.
Akad. 1824) dies für den Grundgedanken der Tragödie erklären. Kreon
würde, wenn der Fall ſich wiederholte, die Todesſtrafe verkündigen, aber
nicht vollſtrecken. Man könnte einwenden, daraus folge ja eben die
untragiſche ſtumpfe Vermittlung, allein es iſt ein Anderes, ob dies in
Ausſicht geſtellt oder in die Tragödie ſelbſt aufgenommen wird. Aller-
dings liegt es der modernen Bildung näher, ſolche humane Ausgleichung
in den tragiſchen Gang ſelbſt aufzunehmen, wie im Prinzen Heinrich
von Heſſen-Homburg, wo der Churfürſt das todesurtheil ankündigt
und nicht vollzieht, wodurch das Ganze glücklich ſchließt. Man vergeſſe
aber nicht, daß Heinrich trotzdem durch alle Schrecken des Todes hin-
durch muß; man erwäge ferner, daß ein Conflict zwiſchen Kampfwuth
und Subordination eine ſchonendere Löſung duldet, als zwiſchen ſo großen
Mächten wie Staatswohl und Familienliebe. Doch auch die Humanität
der Bildung mit in Rechnung genommen iſt das Tragiſche tiefer, wenn
ihr ſchonendes Thun nur in Ausſicht geſtellt iſt. Allerdings liegt nun
darin ein Widerſpruch: ſchonende Ausgleichung iſt in Ausſicht geſtellt,
und der Zuſchauer weiß doch: daß, ſobald ein Fall des Conflicts wieder-
kehren wird, ſo fordert das tragiſche Geſetz wieder den blutigen Kampf.
Dies iſt ein Widerſpruch, der nicht zu läugnen iſt und daher die Aeſthe-
tik über das Erhabene hinaustreibt in eine andere Sphäre.

3. Dem Subjecte, das ſein Pathos mit Gründen verfochten hat,
kann die Helle des Gedankens nicht ferne liegen, um, durch Leiden be-
lehrt, es auch mit dem entgegenſetzten in Einer gerechten Erwägung zu-
ſammenzufaſſen, ſeine Schuld zu erkennen, zur Reinheit der Contempla-
tion zurückzukehren, den Haß zu opfern, wie Taſſo und Antonio (die
freilich beide am Leben bleiben, weil überhaupt in dieſer Tragödie zu
wenig geſchieht) und dem Feinde vereint über den Gräbern als die geiſtige
Geſtalt des Einen Mannes zu ſchweben, von dem Leonore ſpricht.


Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0335" n="321"/>
als das den Mittelpunkt der Tragödie Be&#x017F;timmende) &#x017F;o i&#x017F;t auch kein<lb/>
Schick&#x017F;al anzuklagen. Po&#x017F;itiv aber liegt die Ver&#x017F;öhnung nach der objec-<lb/>
tiven Seite nicht nur darin, daß für den Augenblick wirklich ge&#x017F;chehen<lb/>
i&#x017F;t, was jedes der kämpfenden &#x017F;ittlichen Ge&#x017F;etze forderte, &#x017F;ondern in der<lb/>
Aus&#x017F;icht, daß die harte Lehre künftig eine Ausgleichung des einen mit<lb/>
dem andern vor der Voll&#x017F;treckung eines grau&#x017F;amen Gegen&#x017F;chlags mit &#x017F;ich<lb/>
führen werde. So wird aus dem Handeln des Kreon vom Chor die<lb/>
Lehre der Be&#x017F;onnenheit und des Wei&#x017F;e-Werdens im Alter gezogen, nur<lb/>
darf man nicht wie <hi rendition="#g">Böckh</hi> (Ueber d. Antig. d. Soph. Abh. d. Berl.<lb/>
Akad. 1824) dies für den Grundgedanken der Tragödie erklären. Kreon<lb/>
würde, wenn der Fall &#x017F;ich wiederholte, die Todes&#x017F;trafe verkündigen, aber<lb/>
nicht voll&#x017F;trecken. Man könnte einwenden, daraus folge ja eben die<lb/>
untragi&#x017F;che &#x017F;tumpfe Vermittlung, allein es i&#x017F;t ein Anderes, ob dies in<lb/>
Aus&#x017F;icht ge&#x017F;tellt oder in die Tragödie &#x017F;elb&#x017F;t aufgenommen wird. Aller-<lb/>
dings liegt es der modernen Bildung näher, &#x017F;olche humane Ausgleichung<lb/>
in den tragi&#x017F;chen Gang &#x017F;elb&#x017F;t aufzunehmen, wie im Prinzen Heinrich<lb/>
von He&#x017F;&#x017F;en-Homburg, wo der Churfür&#x017F;t das todesurtheil ankündigt<lb/>
und nicht vollzieht, wodurch das Ganze glücklich &#x017F;chließt. Man verge&#x017F;&#x017F;e<lb/>
aber nicht, daß Heinrich trotzdem durch alle Schrecken des Todes hin-<lb/>
durch muß; man erwäge ferner, daß ein Conflict zwi&#x017F;chen Kampfwuth<lb/>
und Subordination eine &#x017F;chonendere Lö&#x017F;ung duldet, als zwi&#x017F;chen &#x017F;o großen<lb/>
Mächten wie Staatswohl und Familienliebe. Doch auch die Humanität<lb/>
der Bildung mit in Rechnung genommen i&#x017F;t das Tragi&#x017F;che tiefer, wenn<lb/>
ihr &#x017F;chonendes Thun nur in Aus&#x017F;icht ge&#x017F;tellt i&#x017F;t. Allerdings liegt nun<lb/>
darin ein Wider&#x017F;pruch: &#x017F;chonende Ausgleichung i&#x017F;t in Aus&#x017F;icht ge&#x017F;tellt,<lb/>
und der Zu&#x017F;chauer weiß doch: daß, &#x017F;obald ein Fall des Conflicts wieder-<lb/>
kehren wird, &#x017F;o fordert das tragi&#x017F;che Ge&#x017F;etz wieder den blutigen Kampf.<lb/>
Dies i&#x017F;t ein Wider&#x017F;pruch, der nicht zu läugnen i&#x017F;t und daher die Ae&#x017F;the-<lb/>
tik über das Erhabene hinaustreibt in eine andere Sphäre.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">3. Dem Subjecte, das &#x017F;ein Pathos mit Gründen verfochten hat,<lb/>
kann die Helle des Gedankens nicht ferne liegen, um, durch Leiden be-<lb/>
lehrt, es auch mit dem entgegen&#x017F;etzten in Einer gerechten Erwägung zu-<lb/>
&#x017F;ammenzufa&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;eine Schuld zu erkennen, zur Reinheit der Contempla-<lb/>
tion zurückzukehren, den Haß zu opfern, wie Ta&#x017F;&#x017F;o und Antonio (die<lb/>
freilich beide am Leben bleiben, weil überhaupt in die&#x017F;er Tragödie zu<lb/>
wenig ge&#x017F;chieht) und dem Feinde vereint über den Gräbern als die gei&#x017F;tige<lb/>
Ge&#x017F;talt des Einen Mannes zu &#x017F;chweben, von dem Leonore &#x017F;pricht.</hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Vi&#x017F;cher&#x2019;s</hi> Ae&#x017F;thetik. 1. Bd. 21</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[321/0335] als das den Mittelpunkt der Tragödie Beſtimmende) ſo iſt auch kein Schickſal anzuklagen. Poſitiv aber liegt die Verſöhnung nach der objec- tiven Seite nicht nur darin, daß für den Augenblick wirklich geſchehen iſt, was jedes der kämpfenden ſittlichen Geſetze forderte, ſondern in der Ausſicht, daß die harte Lehre künftig eine Ausgleichung des einen mit dem andern vor der Vollſtreckung eines grauſamen Gegenſchlags mit ſich führen werde. So wird aus dem Handeln des Kreon vom Chor die Lehre der Beſonnenheit und des Weiſe-Werdens im Alter gezogen, nur darf man nicht wie Böckh (Ueber d. Antig. d. Soph. Abh. d. Berl. Akad. 1824) dies für den Grundgedanken der Tragödie erklären. Kreon würde, wenn der Fall ſich wiederholte, die Todesſtrafe verkündigen, aber nicht vollſtrecken. Man könnte einwenden, daraus folge ja eben die untragiſche ſtumpfe Vermittlung, allein es iſt ein Anderes, ob dies in Ausſicht geſtellt oder in die Tragödie ſelbſt aufgenommen wird. Aller- dings liegt es der modernen Bildung näher, ſolche humane Ausgleichung in den tragiſchen Gang ſelbſt aufzunehmen, wie im Prinzen Heinrich von Heſſen-Homburg, wo der Churfürſt das todesurtheil ankündigt und nicht vollzieht, wodurch das Ganze glücklich ſchließt. Man vergeſſe aber nicht, daß Heinrich trotzdem durch alle Schrecken des Todes hin- durch muß; man erwäge ferner, daß ein Conflict zwiſchen Kampfwuth und Subordination eine ſchonendere Löſung duldet, als zwiſchen ſo großen Mächten wie Staatswohl und Familienliebe. Doch auch die Humanität der Bildung mit in Rechnung genommen iſt das Tragiſche tiefer, wenn ihr ſchonendes Thun nur in Ausſicht geſtellt iſt. Allerdings liegt nun darin ein Widerſpruch: ſchonende Ausgleichung iſt in Ausſicht geſtellt, und der Zuſchauer weiß doch: daß, ſobald ein Fall des Conflicts wieder- kehren wird, ſo fordert das tragiſche Geſetz wieder den blutigen Kampf. Dies iſt ein Widerſpruch, der nicht zu läugnen iſt und daher die Aeſthe- tik über das Erhabene hinaustreibt in eine andere Sphäre. 3. Dem Subjecte, das ſein Pathos mit Gründen verfochten hat, kann die Helle des Gedankens nicht ferne liegen, um, durch Leiden be- lehrt, es auch mit dem entgegenſetzten in Einer gerechten Erwägung zu- ſammenzufaſſen, ſeine Schuld zu erkennen, zur Reinheit der Contempla- tion zurückzukehren, den Haß zu opfern, wie Taſſo und Antonio (die freilich beide am Leben bleiben, weil überhaupt in dieſer Tragödie zu wenig geſchieht) und dem Feinde vereint über den Gräbern als die geiſtige Geſtalt des Einen Mannes zu ſchweben, von dem Leonore ſpricht. Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 21

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/335
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/335>, abgerufen am 19.04.2024.