Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

2. Wir wissen noch nicht, wo das Wesen des Schönen in seiner
Reinheit erscheint, wir wissen es auch vom Komischen noch nicht. Die
hergebrachten Unterscheidungen zwischen Lachen und Verlachen, zwischen
Lächerlich und Komisch werden erst da ihre Stelle finden, wo zu zeigen
ist, wie in der Natur, d. h. in der durch Phantasie und Kunst nicht
idealisirten unmittelbaren Existenz des Schönen, auch das Komische vermischt
auftritt mit einem Reste von Bitterkeit und gemeinem Egoismus. Ferner
wird sich zeigen, daß aus anderen Gründen eine unreine Form des Komi-
schen eintritt in die Welt der Phantasie oder richtiger eine falsche
Ausdehnung des Standpunkts, der nur in der Komik Recht hat, auf
das ganze Schöne: es ist die sogenannte Ironie der Romantiker, woge-
gen Hegel so sehr eifert. Dies bringt dann kranke Producte in der
Kunst hervor. Aber wieder aus andern Gründen tritt eine besondere
Kunstgattung ein, welche zu den Anhängen gewisser Künste, besonders der
Poesie, gehört, wo sich Prosa und freie Schönheit vermischt: die Satyre
nämlich.

3. Der letzte im §. genannte Schutzgrund für die Freiheit der Komik
ist schon so eben unter 2 geschichtlich angedeutet und als logischer hier
noch besonders hervorzuheben. Hegel ist es vorzüglich, der ihn verkennt
und daher, um mit jenem seinem Eifer nicht in Widerspruch zu gerathen,
an andern Orten wieder zurücknimmt, was er über die Komödie zuge-
standen. So in der Aesthetik Th. 3, S. 536. 537. Hier sagt er, die
Komödie dürfe nicht das wahrhaft Vernünftige zu ihrem Gegenstande
machen, sondern nur dessen verkehrte Gestalt. Allein dies ist es eben,
darauf gründet sich eben das Komische, daß auch das wahrhaft Vernünftige
sich dem Uebergang in Verkehrung nicht entziehen kann. Das gediegene
sittliche Leben der Griechen, dessen Verfall Aristophanes geiselt, war an
sich selbst, nicht an etwas Anderem erkrankt. Es ist nicht wahr, daß
Aristophanes über "die ächte Philosophie, den wahren Götterglauben"
sich nicht lustig macht. Es ist in allem Götterglauben etwas Wahres, aber
es gibt keinen wahren Götterglauben und Aristophanes travestirt aller-
dings den Götterglauben selbst, dessen alte Einfalt er zugleich preist, weil
er den reinen Gottesdienst des allgemeinen Geistes, der vielmehr allein
von ihm als Wahrheit übrig bleibt, nicht kennt. Ebenso verspottet er die
ächte Philosophie in Sokrates, welche freilich gegen das altgriechische Leben be-
rechtigt unberechtigt war, und wenn Hegel das Schicksal des Sokrates (Gesch.
d. Philos. Th. 2, S. 48) tragisch nennt, weil zwei berechtigte geistige Mächte
in Collision traten, so ist es nur eben deswegen ächt komisch, weil beide in

2. Wir wiſſen noch nicht, wo das Weſen des Schönen in ſeiner
Reinheit erſcheint, wir wiſſen es auch vom Komiſchen noch nicht. Die
hergebrachten Unterſcheidungen zwiſchen Lachen und Verlachen, zwiſchen
Lächerlich und Komiſch werden erſt da ihre Stelle finden, wo zu zeigen
iſt, wie in der Natur, d. h. in der durch Phantaſie und Kunſt nicht
idealiſirten unmittelbaren Exiſtenz des Schönen, auch das Komiſche vermiſcht
auftritt mit einem Reſte von Bitterkeit und gemeinem Egoismus. Ferner
wird ſich zeigen, daß aus anderen Gründen eine unreine Form des Komi-
ſchen eintritt in die Welt der Phantaſie oder richtiger eine falſche
Ausdehnung des Standpunkts, der nur in der Komik Recht hat, auf
das ganze Schöne: es iſt die ſogenannte Ironie der Romantiker, woge-
gen Hegel ſo ſehr eifert. Dies bringt dann kranke Producte in der
Kunſt hervor. Aber wieder aus andern Gründen tritt eine beſondere
Kunſtgattung ein, welche zu den Anhängen gewiſſer Künſte, beſonders der
Poeſie, gehört, wo ſich Proſa und freie Schönheit vermiſcht: die Satyre
nämlich.

3. Der letzte im §. genannte Schutzgrund für die Freiheit der Komik
iſt ſchon ſo eben unter 2 geſchichtlich angedeutet und als logiſcher hier
noch beſonders hervorzuheben. Hegel iſt es vorzüglich, der ihn verkennt
und daher, um mit jenem ſeinem Eifer nicht in Widerſpruch zu gerathen,
an andern Orten wieder zurücknimmt, was er über die Komödie zuge-
ſtanden. So in der Aeſthetik Th. 3, S. 536. 537. Hier ſagt er, die
Komödie dürfe nicht das wahrhaft Vernünftige zu ihrem Gegenſtande
machen, ſondern nur deſſen verkehrte Geſtalt. Allein dies iſt es eben,
darauf gründet ſich eben das Komiſche, daß auch das wahrhaft Vernünftige
ſich dem Uebergang in Verkehrung nicht entziehen kann. Das gediegene
ſittliche Leben der Griechen, deſſen Verfall Ariſtophanes geiſelt, war an
ſich ſelbſt, nicht an etwas Anderem erkrankt. Es iſt nicht wahr, daß
Ariſtophanes über „die ächte Philoſophie, den wahren Götterglauben“
ſich nicht luſtig macht. Es iſt in allem Götterglauben etwas Wahres, aber
es gibt keinen wahren Götterglauben und Ariſtophanes traveſtirt aller-
dings den Götterglauben ſelbſt, deſſen alte Einfalt er zugleich preist, weil
er den reinen Gottesdienſt des allgemeinen Geiſtes, der vielmehr allein
von ihm als Wahrheit übrig bleibt, nicht kennt. Ebenſo verſpottet er die
ächte Philoſophie in Sokrates, welche freilich gegen das altgriechiſche Leben be-
rechtigt unberechtigt war, und wenn Hegel das Schickſal des Sokrates (Geſch.
d. Philoſ. Th. 2, S. 48) tragiſch nennt, weil zwei berechtigte geiſtige Mächte
in Colliſion traten, ſo iſt es nur eben deswegen ächt komiſch, weil beide in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0420" n="406"/>
                <p> <hi rendition="#et">2. Wir wi&#x017F;&#x017F;en noch nicht, wo das We&#x017F;en des Schönen in &#x017F;einer<lb/>
Reinheit er&#x017F;cheint, wir wi&#x017F;&#x017F;en es auch vom Komi&#x017F;chen noch nicht. Die<lb/>
hergebrachten Unter&#x017F;cheidungen zwi&#x017F;chen Lachen und Verlachen, zwi&#x017F;chen<lb/>
Lächerlich und Komi&#x017F;ch werden er&#x017F;t da ihre Stelle finden, wo zu zeigen<lb/>
i&#x017F;t, wie in der Natur, d. h. in der durch Phanta&#x017F;ie und Kun&#x017F;t nicht<lb/>
ideali&#x017F;irten unmittelbaren Exi&#x017F;tenz des Schönen, auch das Komi&#x017F;che vermi&#x017F;cht<lb/>
auftritt mit einem Re&#x017F;te von Bitterkeit und gemeinem Egoismus. Ferner<lb/>
wird &#x017F;ich zeigen, daß aus anderen Gründen eine unreine Form des Komi-<lb/>
&#x017F;chen eintritt in die Welt der Phanta&#x017F;ie oder richtiger eine fal&#x017F;che<lb/>
Ausdehnung des Standpunkts, der nur in der Komik Recht hat, auf<lb/>
das ganze Schöne: es i&#x017F;t die &#x017F;ogenannte Ironie der Romantiker, woge-<lb/>
gen <hi rendition="#g">Hegel</hi> &#x017F;o &#x017F;ehr eifert. Dies bringt dann kranke Producte in der<lb/>
Kun&#x017F;t hervor. Aber wieder aus andern Gründen tritt eine be&#x017F;ondere<lb/>
Kun&#x017F;tgattung ein, welche zu den Anhängen gewi&#x017F;&#x017F;er Kün&#x017F;te, be&#x017F;onders der<lb/>
Poe&#x017F;ie, gehört, wo &#x017F;ich Pro&#x017F;a und freie Schönheit vermi&#x017F;cht: die Satyre<lb/>
nämlich.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">3. Der letzte im §. genannte Schutzgrund für die Freiheit der Komik<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;chon &#x017F;o eben unter <hi rendition="#sub">2</hi> ge&#x017F;chichtlich angedeutet und als logi&#x017F;cher hier<lb/>
noch be&#x017F;onders hervorzuheben. <hi rendition="#g">Hegel</hi> i&#x017F;t es vorzüglich, der ihn verkennt<lb/>
und daher, um mit jenem &#x017F;einem Eifer nicht in Wider&#x017F;pruch zu gerathen,<lb/>
an andern Orten wieder zurücknimmt, was er über die Komödie zuge-<lb/>
&#x017F;tanden. So in der Ae&#x017F;thetik Th. 3, S. 536. 537. Hier &#x017F;agt er, die<lb/>
Komödie dürfe nicht das wahrhaft Vernünftige zu ihrem Gegen&#x017F;tande<lb/>
machen, &#x017F;ondern nur de&#x017F;&#x017F;en verkehrte Ge&#x017F;talt. Allein dies i&#x017F;t es eben,<lb/>
darauf gründet &#x017F;ich eben das Komi&#x017F;che, daß auch das wahrhaft Vernünftige<lb/>
&#x017F;ich dem Uebergang in Verkehrung nicht entziehen kann. Das gediegene<lb/>
&#x017F;ittliche Leben der Griechen, de&#x017F;&#x017F;en Verfall <hi rendition="#g">Ari&#x017F;tophanes</hi> gei&#x017F;elt, war an<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, nicht an etwas Anderem erkrankt. Es i&#x017F;t nicht wahr, daß<lb/><hi rendition="#g">Ari&#x017F;tophanes</hi> über &#x201E;die ächte Philo&#x017F;ophie, den wahren Götterglauben&#x201C;<lb/>
&#x017F;ich nicht lu&#x017F;tig macht. Es i&#x017F;t in allem Götterglauben etwas Wahres, aber<lb/>
es gibt keinen wahren Götterglauben und <hi rendition="#g">Ari&#x017F;tophanes</hi> trave&#x017F;tirt aller-<lb/>
dings den Götterglauben &#x017F;elb&#x017F;t, de&#x017F;&#x017F;en alte Einfalt er zugleich preist, weil<lb/>
er den reinen Gottesdien&#x017F;t des allgemeinen Gei&#x017F;tes, der vielmehr allein<lb/>
von ihm als Wahrheit übrig bleibt, nicht kennt. Eben&#x017F;o ver&#x017F;pottet er die<lb/>
ächte Philo&#x017F;ophie in Sokrates, welche freilich gegen das altgriechi&#x017F;che Leben be-<lb/>
rechtigt unberechtigt war, und wenn <hi rendition="#g">Hegel</hi> das Schick&#x017F;al des Sokrates (Ge&#x017F;ch.<lb/>
d. Philo&#x017F;. Th. 2, S. 48) tragi&#x017F;ch nennt, weil zwei berechtigte gei&#x017F;tige Mächte<lb/>
in Colli&#x017F;ion traten, &#x017F;o i&#x017F;t es nur eben deswegen ächt komi&#x017F;ch, weil beide in<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[406/0420] 2. Wir wiſſen noch nicht, wo das Weſen des Schönen in ſeiner Reinheit erſcheint, wir wiſſen es auch vom Komiſchen noch nicht. Die hergebrachten Unterſcheidungen zwiſchen Lachen und Verlachen, zwiſchen Lächerlich und Komiſch werden erſt da ihre Stelle finden, wo zu zeigen iſt, wie in der Natur, d. h. in der durch Phantaſie und Kunſt nicht idealiſirten unmittelbaren Exiſtenz des Schönen, auch das Komiſche vermiſcht auftritt mit einem Reſte von Bitterkeit und gemeinem Egoismus. Ferner wird ſich zeigen, daß aus anderen Gründen eine unreine Form des Komi- ſchen eintritt in die Welt der Phantaſie oder richtiger eine falſche Ausdehnung des Standpunkts, der nur in der Komik Recht hat, auf das ganze Schöne: es iſt die ſogenannte Ironie der Romantiker, woge- gen Hegel ſo ſehr eifert. Dies bringt dann kranke Producte in der Kunſt hervor. Aber wieder aus andern Gründen tritt eine beſondere Kunſtgattung ein, welche zu den Anhängen gewiſſer Künſte, beſonders der Poeſie, gehört, wo ſich Proſa und freie Schönheit vermiſcht: die Satyre nämlich. 3. Der letzte im §. genannte Schutzgrund für die Freiheit der Komik iſt ſchon ſo eben unter 2 geſchichtlich angedeutet und als logiſcher hier noch beſonders hervorzuheben. Hegel iſt es vorzüglich, der ihn verkennt und daher, um mit jenem ſeinem Eifer nicht in Widerſpruch zu gerathen, an andern Orten wieder zurücknimmt, was er über die Komödie zuge- ſtanden. So in der Aeſthetik Th. 3, S. 536. 537. Hier ſagt er, die Komödie dürfe nicht das wahrhaft Vernünftige zu ihrem Gegenſtande machen, ſondern nur deſſen verkehrte Geſtalt. Allein dies iſt es eben, darauf gründet ſich eben das Komiſche, daß auch das wahrhaft Vernünftige ſich dem Uebergang in Verkehrung nicht entziehen kann. Das gediegene ſittliche Leben der Griechen, deſſen Verfall Ariſtophanes geiſelt, war an ſich ſelbſt, nicht an etwas Anderem erkrankt. Es iſt nicht wahr, daß Ariſtophanes über „die ächte Philoſophie, den wahren Götterglauben“ ſich nicht luſtig macht. Es iſt in allem Götterglauben etwas Wahres, aber es gibt keinen wahren Götterglauben und Ariſtophanes traveſtirt aller- dings den Götterglauben ſelbſt, deſſen alte Einfalt er zugleich preist, weil er den reinen Gottesdienſt des allgemeinen Geiſtes, der vielmehr allein von ihm als Wahrheit übrig bleibt, nicht kennt. Ebenſo verſpottet er die ächte Philoſophie in Sokrates, welche freilich gegen das altgriechiſche Leben be- rechtigt unberechtigt war, und wenn Hegel das Schickſal des Sokrates (Geſch. d. Philoſ. Th. 2, S. 48) tragiſch nennt, weil zwei berechtigte geiſtige Mächte in Colliſion traten, ſo iſt es nur eben deswegen ächt komiſch, weil beide in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/420
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/420>, abgerufen am 19.04.2024.