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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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gezauberten Gegenglieds und zugleich der Zauber der Einheit in die Augen
springt. Hauptmittel dieser Wirkung ist Kürze und Schnelligkeit: diese läßt
alle Zwischenglieder weg, welche an sich -- denn nichts in der Welt ist ohne
Zusammenhang -- auch das Entfernteste mit dem Entferntesten verbinden
(vergl. §. 169), und bringt dadurch den Zusammenstoß hervor. J. Paul
nennt dies (a. a. O. §. 45) Wegschneiden der Nebengedanken. In demselben
Augenblick aber, wo sie sich abstoßen, ziehen sich die Glieder an und fallen
in den Zauberschein einer Einheit: Sinn im Unsinn, Unsinn im Sinn.
Dies ist es, was J. Paul durch die in dem §. aufgenommenen Worte
(a. a. O. §. 44), worin er das Wesen des Witzes ungleich richtiger
aufdeckt als in seiner Vergleichungstheorie, so treffend ausspricht. Wirkt
daher alles Komische durch Plötzlichkeit, so am meisten der Witz, welchem
die Spitze der Kürze durchaus wesentlich ist und nichts weher thut,
als wenn man ihn erklären muß, die Pointe verfehlt oder durch Zwi-
schenglieder der Auseinandersetzung schwächt. Geistreich nennt J. Paul
(ebenda) den Witz den verkleideten Priester, der jedes Paar copulirt.
Er ist aber der Schmied zu Gretna-Green, der lauter Paare traut, deren
Trauung die Verwandten (der methodische wahre Zusammenhang) nicht
dulden wollen. J. Paul berührt aber auch die tiefere Befreiung, welche sich
durch den Witz die Subjectivität gibt, und auf welche Ruge, nur mit Weg-
lassung näherer Darstellung des Verfahrens im Witze, hindringt, durch die
tiefe Bemerkung (§. 54): "der Witz gibt uns Freiheit, indem er Gleich-
heit
vorhergibt." Dies will zunächst sagen, daß der Witz "ein freies Be-
schauen ist, welches sich nicht in den Gegenstand oder dessen Zeichen einge-
kerkert verliert und vertieft"; der Kopf wird zu "einem Polterabend der
Brautnacht, es herrscht eine Gemeinschaft der Ideen wie der Weiber in
Platons Republik und zeugend verbinden sich alle." Allein hier sitzt noch eine
wichtige Frage, die nämlich über den eigentlichen Gehalt des Witzes, oder
richtiger, ob er überhaupt einen hat: wovon im folgenden §. zu handeln ist.

3. Witz ist eine psychologische Benennung und es scheint hier ent-
schieden ein Vorgriff in die Lehre von der Phantasie Statt zu finden,
wie denn der Verf. in s. Schr. über d. Erh. u. Kom. (S. 188. 190)
noch meinte, die ganze Eintheilung des Komischen gehöre eigentlich da-
hin. Der Witz muß nun allerdings in der Psychologie vorkommen und
demnach sollte er, so scheint es, auch in der Aesthetik jedenfalls in der
Lehre von der Phantasie seine Stelle finden. Allein in diesem Zusammen-
hang wäre die Untersuchung ganz abstract; es würde nämlich völlig ab-
gesehen von der Gestaltung des Erhabenen, aus dem wir jetzt kommen,

gezauberten Gegenglieds und zugleich der Zauber der Einheit in die Augen
ſpringt. Hauptmittel dieſer Wirkung iſt Kürze und Schnelligkeit: dieſe läßt
alle Zwiſchenglieder weg, welche an ſich — denn nichts in der Welt iſt ohne
Zuſammenhang — auch das Entfernteſte mit dem Entfernteſten verbinden
(vergl. §. 169), und bringt dadurch den Zuſammenſtoß hervor. J. Paul
nennt dies (a. a. O. §. 45) Wegſchneiden der Nebengedanken. In demſelben
Augenblick aber, wo ſie ſich abſtoßen, ziehen ſich die Glieder an und fallen
in den Zauberſchein einer Einheit: Sinn im Unſinn, Unſinn im Sinn.
Dies iſt es, was J. Paul durch die in dem §. aufgenommenen Worte
(a. a. O. §. 44), worin er das Weſen des Witzes ungleich richtiger
aufdeckt als in ſeiner Vergleichungstheorie, ſo treffend ausſpricht. Wirkt
daher alles Komiſche durch Plötzlichkeit, ſo am meiſten der Witz, welchem
die Spitze der Kürze durchaus weſentlich iſt und nichts weher thut,
als wenn man ihn erklären muß, die Pointe verfehlt oder durch Zwi-
ſchenglieder der Auseinanderſetzung ſchwächt. Geiſtreich nennt J. Paul
(ebenda) den Witz den verkleideten Prieſter, der jedes Paar copulirt.
Er iſt aber der Schmied zu Gretna-Green, der lauter Paare traut, deren
Trauung die Verwandten (der methodiſche wahre Zuſammenhang) nicht
dulden wollen. J. Paul berührt aber auch die tiefere Befreiung, welche ſich
durch den Witz die Subjectivität gibt, und auf welche Ruge, nur mit Weg-
laſſung näherer Darſtellung des Verfahrens im Witze, hindringt, durch die
tiefe Bemerkung (§. 54): „der Witz gibt uns Freiheit, indem er Gleich-
heit
vorhergibt.“ Dies will zunächſt ſagen, daß der Witz „ein freies Be-
ſchauen iſt, welches ſich nicht in den Gegenſtand oder deſſen Zeichen einge-
kerkert verliert und vertieft“; der Kopf wird zu „einem Polterabend der
Brautnacht, es herrſcht eine Gemeinſchaft der Ideen wie der Weiber in
Platons Republik und zeugend verbinden ſich alle.“ Allein hier ſitzt noch eine
wichtige Frage, die nämlich über den eigentlichen Gehalt des Witzes, oder
richtiger, ob er überhaupt einen hat: wovon im folgenden §. zu handeln iſt.

3. Witz iſt eine pſychologiſche Benennung und es ſcheint hier ent-
ſchieden ein Vorgriff in die Lehre von der Phantaſie Statt zu finden,
wie denn der Verf. in ſ. Schr. über d. Erh. u. Kom. (S. 188. 190)
noch meinte, die ganze Eintheilung des Komiſchen gehöre eigentlich da-
hin. Der Witz muß nun allerdings in der Pſychologie vorkommen und
demnach ſollte er, ſo ſcheint es, auch in der Aeſthetik jedenfalls in der
Lehre von der Phantaſie ſeine Stelle finden. Allein in dieſem Zuſammen-
hang wäre die Unterſuchung ganz abſtract; es würde nämlich völlig ab-
geſehen von der Geſtaltung des Erhabenen, aus dem wir jetzt kommen,

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[422/0436] gezauberten Gegenglieds und zugleich der Zauber der Einheit in die Augen ſpringt. Hauptmittel dieſer Wirkung iſt Kürze und Schnelligkeit: dieſe läßt alle Zwiſchenglieder weg, welche an ſich — denn nichts in der Welt iſt ohne Zuſammenhang — auch das Entfernteſte mit dem Entfernteſten verbinden (vergl. §. 169), und bringt dadurch den Zuſammenſtoß hervor. J. Paul nennt dies (a. a. O. §. 45) Wegſchneiden der Nebengedanken. In demſelben Augenblick aber, wo ſie ſich abſtoßen, ziehen ſich die Glieder an und fallen in den Zauberſchein einer Einheit: Sinn im Unſinn, Unſinn im Sinn. Dies iſt es, was J. Paul durch die in dem §. aufgenommenen Worte (a. a. O. §. 44), worin er das Weſen des Witzes ungleich richtiger aufdeckt als in ſeiner Vergleichungstheorie, ſo treffend ausſpricht. Wirkt daher alles Komiſche durch Plötzlichkeit, ſo am meiſten der Witz, welchem die Spitze der Kürze durchaus weſentlich iſt und nichts weher thut, als wenn man ihn erklären muß, die Pointe verfehlt oder durch Zwi- ſchenglieder der Auseinanderſetzung ſchwächt. Geiſtreich nennt J. Paul (ebenda) den Witz den verkleideten Prieſter, der jedes Paar copulirt. Er iſt aber der Schmied zu Gretna-Green, der lauter Paare traut, deren Trauung die Verwandten (der methodiſche wahre Zuſammenhang) nicht dulden wollen. J. Paul berührt aber auch die tiefere Befreiung, welche ſich durch den Witz die Subjectivität gibt, und auf welche Ruge, nur mit Weg- laſſung näherer Darſtellung des Verfahrens im Witze, hindringt, durch die tiefe Bemerkung (§. 54): „der Witz gibt uns Freiheit, indem er Gleich- heit vorhergibt.“ Dies will zunächſt ſagen, daß der Witz „ein freies Be- ſchauen iſt, welches ſich nicht in den Gegenſtand oder deſſen Zeichen einge- kerkert verliert und vertieft“; der Kopf wird zu „einem Polterabend der Brautnacht, es herrſcht eine Gemeinſchaft der Ideen wie der Weiber in Platons Republik und zeugend verbinden ſich alle.“ Allein hier ſitzt noch eine wichtige Frage, die nämlich über den eigentlichen Gehalt des Witzes, oder richtiger, ob er überhaupt einen hat: wovon im folgenden §. zu handeln iſt. 3. Witz iſt eine pſychologiſche Benennung und es ſcheint hier ent- ſchieden ein Vorgriff in die Lehre von der Phantaſie Statt zu finden, wie denn der Verf. in ſ. Schr. über d. Erh. u. Kom. (S. 188. 190) noch meinte, die ganze Eintheilung des Komiſchen gehöre eigentlich da- hin. Der Witz muß nun allerdings in der Pſychologie vorkommen und demnach ſollte er, ſo ſcheint es, auch in der Aeſthetik jedenfalls in der Lehre von der Phantaſie ſeine Stelle finden. Allein in dieſem Zuſammen- hang wäre die Unterſuchung ganz abſtract; es würde nämlich völlig ab- geſehen von der Geſtaltung des Erhabenen, aus dem wir jetzt kommen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/436>, abgerufen am 28.03.2024.