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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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sönlichkeit geworden, in das Element der Unmittelbarkeit zurückgetreten seyn;
wir sprechen aber noch nicht von dieser Befreiung, sondern vom Wider-
spruche des sittlichen Pathos mit der Erfahrung, und um diesen in seiner
Allgemeinheit zum Bewußtseyn zu bringen, dazu ist eigentliches Denken
nöthig. So hat J. Paul über den Staat gedacht und durchschaut die
Verdorbenheit des öffentlichen Lebens mit strengem, grausamen Blicke.
Er ist es, in welchem der sentimentale Humor, der jetzt als blose Hälfte
auf die eine Seite tritt, mit dem härtesten Realismus und radikalsten
Hasse der Schlechtigkeit der öffentlichen Zustände zu einer widersprechenden
Einheit zusammenfällt. Zunächst erscheint dieser herbe Geist, dieser
Nordpol seines Ich, als gesundes und heilsames Gegengift gegen seine
Empfindsamkeit und stille, allzuweiche Heimlichkeit. Zieht man einen
Theil der letzteren, das unendliche Mitleiden mit den Armen und Ge-
drückten, aber mit Weglassung der Auflösung, die er diesem Schmerze
durch das Bild lächelnder Zufriedenheit gibt, herüber zu dieser herben
Seite, so steht ein Republikaner, ein Communist, ein Demokrat vor
uns. Demokratisch, nicht blos in diesem bestimmten, sondern im weitesten
Sinne, ist alles Komische.

§. 222.

Erst nachdem dieses Denken die letzten Haltpunkte einer blos objectiven
absoluten Erhabenheit, bei der sich die mystische Innerlichkeit des empfindsamen
Humors, unfähig die Consequenzen des Komischen völlig zu ziehen, beruhigt,
als vollendete Kritik zerstört und so, wie es scheint, die Verzweiflung auf ihre
Spitze geführt hat, so kann, und zwar gerade dadurch, die Befreiung eintreten.
Denn die Reflexion wendet sich jetzt einfach auf das Ganze, das vorliegt, und
hat nun dies vor sich, daß das eigene Subject, in die allgemeine Unreinheit
und ihr Schicksal verwickelt, eben durch seinen unendlichen Schmerz unendlich
darüber steht, gerade durch den Selbstverlust zu sich zurückkehrt, und daß ebenso
im ganzen Umfange der Geschichte durch den Reiz und Schmerz des Wider-
spruchs ihr großer Zweck sich herausarbeitet. Nun erst, da nichts ausgenommen
wird und doch in der allgemeinen Verwicklung das Verwickelte sich rein zu sich
zurückbewegt und dieser Bewegung zuschaut, kann die Subjectivität, welcher auch
jenes strenge Denken zum innersten Besitze und zur geläufigen Unmittelbarkeit
geworden, diese ewige Rückkehr in jedem Momente als vollendet antizipiren und
sich so den Genuß ihrer unendlichen Freiheit geben.


ſönlichkeit geworden, in das Element der Unmittelbarkeit zurückgetreten ſeyn;
wir ſprechen aber noch nicht von dieſer Befreiung, ſondern vom Wider-
ſpruche des ſittlichen Pathos mit der Erfahrung, und um dieſen in ſeiner
Allgemeinheit zum Bewußtſeyn zu bringen, dazu iſt eigentliches Denken
nöthig. So hat J. Paul über den Staat gedacht und durchſchaut die
Verdorbenheit des öffentlichen Lebens mit ſtrengem, grauſamen Blicke.
Er iſt es, in welchem der ſentimentale Humor, der jetzt als bloſe Hälfte
auf die eine Seite tritt, mit dem härteſten Realismus und radikalſten
Haſſe der Schlechtigkeit der öffentlichen Zuſtände zu einer widerſprechenden
Einheit zuſammenfällt. Zunächſt erſcheint dieſer herbe Geiſt, dieſer
Nordpol ſeines Ich, als geſundes und heilſames Gegengift gegen ſeine
Empfindſamkeit und ſtille, allzuweiche Heimlichkeit. Zieht man einen
Theil der letzteren, das unendliche Mitleiden mit den Armen und Ge-
drückten, aber mit Weglaſſung der Auflöſung, die er dieſem Schmerze
durch das Bild lächelnder Zufriedenheit gibt, herüber zu dieſer herben
Seite, ſo ſteht ein Republikaner, ein Communiſt, ein Demokrat vor
uns. Demokratiſch, nicht blos in dieſem beſtimmten, ſondern im weiteſten
Sinne, iſt alles Komiſche.

§. 222.

Erſt nachdem dieſes Denken die letzten Haltpunkte einer blos objectiven
abſoluten Erhabenheit, bei der ſich die myſtiſche Innerlichkeit des empfindſamen
Humors, unfähig die Conſequenzen des Komiſchen völlig zu ziehen, beruhigt,
als vollendete Kritik zerſtört und ſo, wie es ſcheint, die Verzweiflung auf ihre
Spitze geführt hat, ſo kann, und zwar gerade dadurch, die Befreiung eintreten.
Denn die Reflexion wendet ſich jetzt einfach auf das Ganze, das vorliegt, und
hat nun dies vor ſich, daß das eigene Subject, in die allgemeine Unreinheit
und ihr Schickſal verwickelt, eben durch ſeinen unendlichen Schmerz unendlich
darüber ſteht, gerade durch den Selbſtverluſt zu ſich zurückkehrt, und daß ebenſo
im ganzen Umfange der Geſchichte durch den Reiz und Schmerz des Wider-
ſpruchs ihr großer Zweck ſich herausarbeitet. Nun erſt, da nichts ausgenommen
wird und doch in der allgemeinen Verwicklung das Verwickelte ſich rein zu ſich
zurückbewegt und dieſer Bewegung zuſchaut, kann die Subjectivität, welcher auch
jenes ſtrenge Denken zum innerſten Beſitze und zur geläufigen Unmittelbarkeit
geworden, dieſe ewige Rückkehr in jedem Momente als vollendet antizipiren und
ſich ſo den Genuß ihrer unendlichen Freiheit geben.


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[470/0484] ſönlichkeit geworden, in das Element der Unmittelbarkeit zurückgetreten ſeyn; wir ſprechen aber noch nicht von dieſer Befreiung, ſondern vom Wider- ſpruche des ſittlichen Pathos mit der Erfahrung, und um dieſen in ſeiner Allgemeinheit zum Bewußtſeyn zu bringen, dazu iſt eigentliches Denken nöthig. So hat J. Paul über den Staat gedacht und durchſchaut die Verdorbenheit des öffentlichen Lebens mit ſtrengem, grauſamen Blicke. Er iſt es, in welchem der ſentimentale Humor, der jetzt als bloſe Hälfte auf die eine Seite tritt, mit dem härteſten Realismus und radikalſten Haſſe der Schlechtigkeit der öffentlichen Zuſtände zu einer widerſprechenden Einheit zuſammenfällt. Zunächſt erſcheint dieſer herbe Geiſt, dieſer Nordpol ſeines Ich, als geſundes und heilſames Gegengift gegen ſeine Empfindſamkeit und ſtille, allzuweiche Heimlichkeit. Zieht man einen Theil der letzteren, das unendliche Mitleiden mit den Armen und Ge- drückten, aber mit Weglaſſung der Auflöſung, die er dieſem Schmerze durch das Bild lächelnder Zufriedenheit gibt, herüber zu dieſer herben Seite, ſo ſteht ein Republikaner, ein Communiſt, ein Demokrat vor uns. Demokratiſch, nicht blos in dieſem beſtimmten, ſondern im weiteſten Sinne, iſt alles Komiſche. §. 222. Erſt nachdem dieſes Denken die letzten Haltpunkte einer blos objectiven abſoluten Erhabenheit, bei der ſich die myſtiſche Innerlichkeit des empfindſamen Humors, unfähig die Conſequenzen des Komiſchen völlig zu ziehen, beruhigt, als vollendete Kritik zerſtört und ſo, wie es ſcheint, die Verzweiflung auf ihre Spitze geführt hat, ſo kann, und zwar gerade dadurch, die Befreiung eintreten. Denn die Reflexion wendet ſich jetzt einfach auf das Ganze, das vorliegt, und hat nun dies vor ſich, daß das eigene Subject, in die allgemeine Unreinheit und ihr Schickſal verwickelt, eben durch ſeinen unendlichen Schmerz unendlich darüber ſteht, gerade durch den Selbſtverluſt zu ſich zurückkehrt, und daß ebenſo im ganzen Umfange der Geſchichte durch den Reiz und Schmerz des Wider- ſpruchs ihr großer Zweck ſich herausarbeitet. Nun erſt, da nichts ausgenommen wird und doch in der allgemeinen Verwicklung das Verwickelte ſich rein zu ſich zurückbewegt und dieſer Bewegung zuſchaut, kann die Subjectivität, welcher auch jenes ſtrenge Denken zum innerſten Beſitze und zur geläufigen Unmittelbarkeit geworden, dieſe ewige Rückkehr in jedem Momente als vollendet antizipiren und ſich ſo den Genuß ihrer unendlichen Freiheit geben.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/484>, abgerufen am 28.03.2024.