Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

die Lehre von der Kunst. Obgleich nun in dieser adäquatesten Wirklich-
keit des Schönen vorzüglich die Untersuchungen der alten Philosophie sich
bewegten, so ist doch weder über den Grundbegriff der Kunst, noch über
die Gliederung der Künste von ihnen eine zusammenhängende Leistung zu
erwarten; zudem mußten die zwei Künste Malerei und Musik schon des-
wegen in ihrer Betrachtung zu kurz kommen, weil sie wirklich als Künste
selbst noch gar nicht in die Tiefe ihres Wesens gestiegen waren. Großes
und Ganzes konnte hier vielmehr erst die moderne Philosophie ausführen,
denn die Kunst ist subjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen; sie zu
begreifen bedarf es einer Philosophie, deren Prinzip Einheit des Sub-
jectiven und Objectiven und deren Werk Durchführung dieser Einheit ist.
Demnach ist in diesen Theilen wenigstens so viel Parallele zwischen der
Aesthetik und der Geschichte der Aesthetik, daß das subjectivere Gebiet
von der Philosophie des Subjectivismus, dasjenige, welches von da den
Uebergang zum Objectiven darstellt, von den das Speculative ahnenden
Ausläufern dieser Philosophie, dagegen das objektivste und zugleich
subjectivste Gebiet nur von der speculativen Philosophie ergründet werden
konnte. Indem durch diese schließliche Leistung das ganze System sich
vollendet, ist allerdings die Bemerkung zu §. 7 noch dahin näher zu
bestimmen, daß diese systematische Ergründung und Durchführung erst
möglich war, nachdem der Stoff bis auf den Punkt gesammelt, vorlag,
wo eine ganze lange Kunstbildung sammt einer Summe der auf ihre
Beurtheilung gerichteten vereinzelten Leistungen der Kritik und der Kunst-
geschichte abgeschlossen war. Was im Gedanken als ein Ganzes auf-
erstehen soll, muß als Ganzes in der Wirklichkeit abgeblüht seyn. Die
Verwelkung wirft aber neue Blüthen in den empfänglichen Boden; eine
neue Kunstwelt ist, "wenn das schon Gebildete wieder Stoff geworden
seyn wird", in unbestimmter Zukunft zu erwarten und nach ihr eine neue
Aesthetik; die Aesthetik, wie sie jetzt eine fertige Welt abschließt, muß
nur den Ausblick in diese Zukunft der Kunst sowohl als ihrer Wissen-
schaft, wie oben schon bemerkt wurde, offen halten und dies wird einst
ihre Probe seyn.



die Lehre von der Kunſt. Obgleich nun in dieſer adäquateſten Wirklich-
keit des Schönen vorzüglich die Unterſuchungen der alten Philoſophie ſich
bewegten, ſo iſt doch weder über den Grundbegriff der Kunſt, noch über
die Gliederung der Künſte von ihnen eine zuſammenhängende Leiſtung zu
erwarten; zudem mußten die zwei Künſte Malerei und Muſik ſchon des-
wegen in ihrer Betrachtung zu kurz kommen, weil ſie wirklich als Künſte
ſelbſt noch gar nicht in die Tiefe ihres Weſens geſtiegen waren. Großes
und Ganzes konnte hier vielmehr erſt die moderne Philoſophie ausführen,
denn die Kunſt iſt ſubjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen; ſie zu
begreifen bedarf es einer Philoſophie, deren Prinzip Einheit des Sub-
jectiven und Objectiven und deren Werk Durchführung dieſer Einheit iſt.
Demnach iſt in dieſen Theilen wenigſtens ſo viel Parallele zwiſchen der
Aeſthetik und der Geſchichte der Aeſthetik, daß das ſubjectivere Gebiet
von der Philoſophie des Subjectivismus, dasjenige, welches von da den
Uebergang zum Objectiven darſtellt, von den das Speculative ahnenden
Ausläufern dieſer Philoſophie, dagegen das objektivſte und zugleich
ſubjectivſte Gebiet nur von der ſpeculativen Philoſophie ergründet werden
konnte. Indem durch dieſe ſchließliche Leiſtung das ganze Syſtem ſich
vollendet, iſt allerdings die Bemerkung zu §. 7 noch dahin näher zu
beſtimmen, daß dieſe ſyſtematiſche Ergründung und Durchführung erſt
möglich war, nachdem der Stoff bis auf den Punkt geſammelt, vorlag,
wo eine ganze lange Kunſtbildung ſammt einer Summe der auf ihre
Beurtheilung gerichteten vereinzelten Leiſtungen der Kritik und der Kunſt-
geſchichte abgeſchloſſen war. Was im Gedanken als ein Ganzes auf-
erſtehen ſoll, muß als Ganzes in der Wirklichkeit abgeblüht ſeyn. Die
Verwelkung wirft aber neue Blüthen in den empfänglichen Boden; eine
neue Kunſtwelt iſt, „wenn das ſchon Gebildete wieder Stoff geworden
ſeyn wird“, in unbeſtimmter Zukunft zu erwarten und nach ihr eine neue
Aeſthetik; die Aeſthetik, wie ſie jetzt eine fertige Welt abſchließt, muß
nur den Ausblick in dieſe Zukunft der Kunſt ſowohl als ihrer Wiſſen-
ſchaft, wie oben ſchon bemerkt wurde, offen halten und dies wird einſt
ihre Probe ſeyn.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0055" n="41"/>
die Lehre von der Kun&#x017F;t. Obgleich nun in die&#x017F;er adäquate&#x017F;ten Wirklich-<lb/>
keit des Schönen vorzüglich die Unter&#x017F;uchungen der alten Philo&#x017F;ophie &#x017F;ich<lb/>
bewegten, &#x017F;o i&#x017F;t doch weder über den Grundbegriff der Kun&#x017F;t, noch über<lb/>
die Gliederung der Kün&#x017F;te von ihnen eine zu&#x017F;ammenhängende Lei&#x017F;tung zu<lb/>
erwarten; zudem mußten die zwei Kün&#x017F;te Malerei und Mu&#x017F;ik &#x017F;chon des-<lb/>
wegen in ihrer Betrachtung zu kurz kommen, weil &#x017F;ie wirklich als Kün&#x017F;te<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t noch gar nicht in die Tiefe ihres We&#x017F;ens ge&#x017F;tiegen waren. Großes<lb/>
und Ganzes konnte hier vielmehr er&#x017F;t die moderne Philo&#x017F;ophie ausführen,<lb/>
denn die Kun&#x017F;t i&#x017F;t &#x017F;ubjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen; &#x017F;ie zu<lb/>
begreifen bedarf es einer Philo&#x017F;ophie, deren Prinzip Einheit des Sub-<lb/>
jectiven und Objectiven und deren Werk Durchführung die&#x017F;er Einheit i&#x017F;t.<lb/>
Demnach i&#x017F;t in die&#x017F;en Theilen wenig&#x017F;tens &#x017F;o viel Parallele zwi&#x017F;chen der<lb/>
Ae&#x017F;thetik und der Ge&#x017F;chichte der Ae&#x017F;thetik, daß das &#x017F;ubjectivere Gebiet<lb/>
von der Philo&#x017F;ophie des Subjectivismus, dasjenige, welches von da den<lb/>
Uebergang zum Objectiven dar&#x017F;tellt, von den das Speculative ahnenden<lb/>
Ausläufern die&#x017F;er Philo&#x017F;ophie, dagegen das objektiv&#x017F;te und zugleich<lb/>
&#x017F;ubjectiv&#x017F;te Gebiet nur von der &#x017F;peculativen Philo&#x017F;ophie ergründet werden<lb/>
konnte. Indem durch die&#x017F;e &#x017F;chließliche Lei&#x017F;tung das ganze Sy&#x017F;tem &#x017F;ich<lb/>
vollendet, i&#x017F;t allerdings die Bemerkung zu §. 7 noch dahin näher zu<lb/>
be&#x017F;timmen, daß die&#x017F;e &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che Ergründung und Durchführung er&#x017F;t<lb/>
möglich war, nachdem der Stoff bis auf <hi rendition="#g">den</hi> Punkt ge&#x017F;ammelt, vorlag,<lb/>
wo eine ganze lange Kun&#x017F;tbildung &#x017F;ammt einer Summe der auf ihre<lb/>
Beurtheilung gerichteten vereinzelten Lei&#x017F;tungen der Kritik und der Kun&#x017F;t-<lb/>
ge&#x017F;chichte abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en war. Was im Gedanken als ein Ganzes auf-<lb/>
er&#x017F;tehen &#x017F;oll, muß als Ganzes in der Wirklichkeit abgeblüht &#x017F;eyn. Die<lb/>
Verwelkung wirft aber neue Blüthen in den empfänglichen Boden; eine<lb/>
neue Kun&#x017F;twelt i&#x017F;t, &#x201E;wenn das &#x017F;chon Gebildete wieder Stoff geworden<lb/>
&#x017F;eyn wird&#x201C;, in unbe&#x017F;timmter Zukunft zu erwarten und nach ihr eine neue<lb/>
Ae&#x017F;thetik; die Ae&#x017F;thetik, wie &#x017F;ie jetzt eine fertige Welt ab&#x017F;chließt, muß<lb/>
nur den Ausblick in die&#x017F;e Zukunft der Kun&#x017F;t &#x017F;owohl als ihrer Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft, wie oben &#x017F;chon bemerkt wurde, offen halten und dies wird ein&#x017F;t<lb/>
ihre Probe &#x017F;eyn.</hi> </p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0055] die Lehre von der Kunſt. Obgleich nun in dieſer adäquateſten Wirklich- keit des Schönen vorzüglich die Unterſuchungen der alten Philoſophie ſich bewegten, ſo iſt doch weder über den Grundbegriff der Kunſt, noch über die Gliederung der Künſte von ihnen eine zuſammenhängende Leiſtung zu erwarten; zudem mußten die zwei Künſte Malerei und Muſik ſchon des- wegen in ihrer Betrachtung zu kurz kommen, weil ſie wirklich als Künſte ſelbſt noch gar nicht in die Tiefe ihres Weſens geſtiegen waren. Großes und Ganzes konnte hier vielmehr erſt die moderne Philoſophie ausführen, denn die Kunſt iſt ſubjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen; ſie zu begreifen bedarf es einer Philoſophie, deren Prinzip Einheit des Sub- jectiven und Objectiven und deren Werk Durchführung dieſer Einheit iſt. Demnach iſt in dieſen Theilen wenigſtens ſo viel Parallele zwiſchen der Aeſthetik und der Geſchichte der Aeſthetik, daß das ſubjectivere Gebiet von der Philoſophie des Subjectivismus, dasjenige, welches von da den Uebergang zum Objectiven darſtellt, von den das Speculative ahnenden Ausläufern dieſer Philoſophie, dagegen das objektivſte und zugleich ſubjectivſte Gebiet nur von der ſpeculativen Philoſophie ergründet werden konnte. Indem durch dieſe ſchließliche Leiſtung das ganze Syſtem ſich vollendet, iſt allerdings die Bemerkung zu §. 7 noch dahin näher zu beſtimmen, daß dieſe ſyſtematiſche Ergründung und Durchführung erſt möglich war, nachdem der Stoff bis auf den Punkt geſammelt, vorlag, wo eine ganze lange Kunſtbildung ſammt einer Summe der auf ihre Beurtheilung gerichteten vereinzelten Leiſtungen der Kritik und der Kunſt- geſchichte abgeſchloſſen war. Was im Gedanken als ein Ganzes auf- erſtehen ſoll, muß als Ganzes in der Wirklichkeit abgeblüht ſeyn. Die Verwelkung wirft aber neue Blüthen in den empfänglichen Boden; eine neue Kunſtwelt iſt, „wenn das ſchon Gebildete wieder Stoff geworden ſeyn wird“, in unbeſtimmter Zukunft zu erwarten und nach ihr eine neue Aeſthetik; die Aeſthetik, wie ſie jetzt eine fertige Welt abſchließt, muß nur den Ausblick in dieſe Zukunft der Kunſt ſowohl als ihrer Wiſſen- ſchaft, wie oben ſchon bemerkt wurde, offen halten und dies wird einſt ihre Probe ſeyn.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/55
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/55>, abgerufen am 23.04.2024.