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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Daseyn stellen aber nur alle diesem Begriff, d. h. dieser Gattung ange-
hörigen Wesen dar, wie jedes in unendlicher Reihe das andere ergänzt,
die Mängel des vorhergehenden Zustands im folgenden überwindet. Ist
also Idee das Subject im Satze des §. und wird eine gewisse Art der
Wirklichkeit ihr doch abgesprochen, so ist sie in dieser Beziehung blos
gedachte Einheit des Begriffs und der Wirklichkeit, was sogleich her-
vorzuheben ist.

§. 12.

Diese Wirklichkeit der Idee, welche in keinem einzelnen Momente und
an keinem einzelnen Orte je vollendet ist, kann in Wahrheit nur durch den
Gedanken erfaßt werden. Auf zweierlei Weise also ist sie wirklich: im all-
gemeinen, ewigen Weltverlaufe und im zusammenfassenden Geiste des Denkenden.
Zwischen diese beiden Weisen aber tritt eine andere ein. Es beherrscht nämlich
alle Sphären des Geistes das Gesetz des Ausgangs vom Unmittelbaren zum
Vermittelten (vergl. §. 4); dieses Gesetz, dessen Grund und Allgemeinheit als
erwiesen hier aus der gesammten übrigen Philosophie vorauszusetzen ist, fordert
mit Nothwendigkeit, daß auch die absolute Idee, welche in entsprechender
Wahrheit nur durch die Vermittlung des Denkens zu ergreifen ist, zuerst in der
Form der Unmittelbarkeit oder der Anschauung vor dem Geist auftrete.

Es ist unvermeidlich, hier einen neuen Satz aus der Logik, wo er
dialektisch begründet wird, und aus der gesammten übrigen Philosophie,
wo er sich als Gesetz alles Lebens bewährt, als Lehnsatz aufzunehmen, den
zwar die Einl. schon im weiteren Sinne berührt hat in §. 4. Die besondere
Wissenschaft der Aesthetik kann sich auf eine Begründung dieses Gesetzes
nicht einlassen, denn sie würde sich dadurch kein geringeres Geschäft auf-
legen, als eine Recapitulation der ganzen Philosophie. Inzwischen kann
der weniger Bewanderte sich selbst, der Bewanderte dem Schüler mit wenig
Schwierigkeit begreiflich machen, daß alle Bewegung anfängt mit dem,
was, um zu seyn oder begriffen zu werden, nicht erst ein Anderes voraus-
setzt, und dies ist das Unmittelbare; daß sie fortgeht zu dem, was ein
Anderes voraussetzt und was daher von diesem gesetzt ist, was sich also
nur durch dieses Hindurchgehen von dem Einen zum Andern, nur durch
diese Gegenseitigkeit erhält oder begreifen läßt; daß sie endlich schließt
mit dem, worin sich diese Theilung in Eines und Anderes, das einander
setzt und trägt, wieder zur Einheit aufhebt, indem sich zeigt, wie das
Eine im Andern und das Andere im Einen ist und so ihr Gegensatz sich
auflöst. Leicht ist es, dieses Gesetz an jeder Sphäre des Lebens, des

Daſeyn ſtellen aber nur alle dieſem Begriff, d. h. dieſer Gattung ange-
hörigen Weſen dar, wie jedes in unendlicher Reihe das andere ergänzt,
die Mängel des vorhergehenden Zuſtands im folgenden überwindet. Iſt
alſo Idee das Subject im Satze des §. und wird eine gewiſſe Art der
Wirklichkeit ihr doch abgeſprochen, ſo iſt ſie in dieſer Beziehung blos
gedachte Einheit des Begriffs und der Wirklichkeit, was ſogleich her-
vorzuheben iſt.

§. 12.

Dieſe Wirklichkeit der Idee, welche in keinem einzelnen Momente und
an keinem einzelnen Orte je vollendet iſt, kann in Wahrheit nur durch den
Gedanken erfaßt werden. Auf zweierlei Weiſe alſo iſt ſie wirklich: im all-
gemeinen, ewigen Weltverlaufe und im zuſammenfaſſenden Geiſte des Denkenden.
Zwiſchen dieſe beiden Weiſen aber tritt eine andere ein. Es beherrſcht nämlich
alle Sphären des Geiſtes das Geſetz des Ausgangs vom Unmittelbaren zum
Vermittelten (vergl. §. 4); dieſes Geſetz, deſſen Grund und Allgemeinheit als
erwieſen hier aus der geſammten übrigen Philoſophie vorauszuſetzen iſt, fordert
mit Nothwendigkeit, daß auch die abſolute Idee, welche in entſprechender
Wahrheit nur durch die Vermittlung des Denkens zu ergreifen iſt, zuerſt in der
Form der Unmittelbarkeit oder der Anſchauung vor dem Geiſt auftrete.

Es iſt unvermeidlich, hier einen neuen Satz aus der Logik, wo er
dialektiſch begründet wird, und aus der geſammten übrigen Philoſophie,
wo er ſich als Geſetz alles Lebens bewährt, als Lehnſatz aufzunehmen, den
zwar die Einl. ſchon im weiteren Sinne berührt hat in §. 4. Die beſondere
Wiſſenſchaft der Aeſthetik kann ſich auf eine Begründung dieſes Geſetzes
nicht einlaſſen, denn ſie würde ſich dadurch kein geringeres Geſchäft auf-
legen, als eine Recapitulation der ganzen Philoſophie. Inzwiſchen kann
der weniger Bewanderte ſich ſelbſt, der Bewanderte dem Schüler mit wenig
Schwierigkeit begreiflich machen, daß alle Bewegung anfängt mit dem,
was, um zu ſeyn oder begriffen zu werden, nicht erſt ein Anderes voraus-
ſetzt, und dies iſt das Unmittelbare; daß ſie fortgeht zu dem, was ein
Anderes vorausſetzt und was daher von dieſem geſetzt iſt, was ſich alſo
nur durch dieſes Hindurchgehen von dem Einen zum Andern, nur durch
dieſe Gegenſeitigkeit erhält oder begreifen läßt; daß ſie endlich ſchließt
mit dem, worin ſich dieſe Theilung in Eines und Anderes, das einander
ſetzt und trägt, wieder zur Einheit aufhebt, indem ſich zeigt, wie das
Eine im Andern und das Andere im Einen iſt und ſo ihr Gegenſatz ſich
auflöst. Leicht iſt es, dieſes Geſetz an jeder Sphäre des Lebens, des

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[50/0064] Daſeyn ſtellen aber nur alle dieſem Begriff, d. h. dieſer Gattung ange- hörigen Weſen dar, wie jedes in unendlicher Reihe das andere ergänzt, die Mängel des vorhergehenden Zuſtands im folgenden überwindet. Iſt alſo Idee das Subject im Satze des §. und wird eine gewiſſe Art der Wirklichkeit ihr doch abgeſprochen, ſo iſt ſie in dieſer Beziehung blos gedachte Einheit des Begriffs und der Wirklichkeit, was ſogleich her- vorzuheben iſt. §. 12. Dieſe Wirklichkeit der Idee, welche in keinem einzelnen Momente und an keinem einzelnen Orte je vollendet iſt, kann in Wahrheit nur durch den Gedanken erfaßt werden. Auf zweierlei Weiſe alſo iſt ſie wirklich: im all- gemeinen, ewigen Weltverlaufe und im zuſammenfaſſenden Geiſte des Denkenden. Zwiſchen dieſe beiden Weiſen aber tritt eine andere ein. Es beherrſcht nämlich alle Sphären des Geiſtes das Geſetz des Ausgangs vom Unmittelbaren zum Vermittelten (vergl. §. 4); dieſes Geſetz, deſſen Grund und Allgemeinheit als erwieſen hier aus der geſammten übrigen Philoſophie vorauszuſetzen iſt, fordert mit Nothwendigkeit, daß auch die abſolute Idee, welche in entſprechender Wahrheit nur durch die Vermittlung des Denkens zu ergreifen iſt, zuerſt in der Form der Unmittelbarkeit oder der Anſchauung vor dem Geiſt auftrete. Es iſt unvermeidlich, hier einen neuen Satz aus der Logik, wo er dialektiſch begründet wird, und aus der geſammten übrigen Philoſophie, wo er ſich als Geſetz alles Lebens bewährt, als Lehnſatz aufzunehmen, den zwar die Einl. ſchon im weiteren Sinne berührt hat in §. 4. Die beſondere Wiſſenſchaft der Aeſthetik kann ſich auf eine Begründung dieſes Geſetzes nicht einlaſſen, denn ſie würde ſich dadurch kein geringeres Geſchäft auf- legen, als eine Recapitulation der ganzen Philoſophie. Inzwiſchen kann der weniger Bewanderte ſich ſelbſt, der Bewanderte dem Schüler mit wenig Schwierigkeit begreiflich machen, daß alle Bewegung anfängt mit dem, was, um zu ſeyn oder begriffen zu werden, nicht erſt ein Anderes voraus- ſetzt, und dies iſt das Unmittelbare; daß ſie fortgeht zu dem, was ein Anderes vorausſetzt und was daher von dieſem geſetzt iſt, was ſich alſo nur durch dieſes Hindurchgehen von dem Einen zum Andern, nur durch dieſe Gegenſeitigkeit erhält oder begreifen läßt; daß ſie endlich ſchließt mit dem, worin ſich dieſe Theilung in Eines und Anderes, das einander ſetzt und trägt, wieder zur Einheit aufhebt, indem ſich zeigt, wie das Eine im Andern und das Andere im Einen iſt und ſo ihr Gegenſatz ſich auflöst. Leicht iſt es, dieſes Geſetz an jeder Sphäre des Lebens, des

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/64>, abgerufen am 25.04.2024.