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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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er verräth die widerwärtige Gemüthsart schon im Geschrei, welches den
Ausdruck des widerlichsten, nachdrückenden Eigensinns hat. Freilich ist dieses
Thier verkommen, der wilde Esel ist eine gewaltigere Erscheinung.

§. 311.

Der geschlossene und scharf gezeichnete Typus der Hufthiere löst sich
wieder in eine weichere, feinere und weniger große Gestalt auf; dieß ist durch
die tastfähige Pfote ausgesprochen, in deren fünf mit Klauen gewaffnete Zehen
der Huf sich wieder aufblättert, während das vollkommene Gebiß anzeigt, daß
der Maustypus in höherer Ausbildung zurückkehrt. Diese dritte Stufe, die
1obersten Landthiere umfassend, beginnt aber wieder von unten und taucht in
erster Ordnung ihr fischartiges Gebilde in's Wasser: die mißgestalteten, aber
2sinnigen Robben. Auf diese letzte und höchste Analogie des Amphibiums
folgt in zweiter Ordnung, eingeleitet durch die noch schwimmfüßige Fisch-Otter,
dann das schleichende, diebische und blutdürftige Geschlecht der Marder, den
höhlenbewohnenden Dachs, der Bär, der plumpe, zottige, melancholische,
brummende, aber gelehrige und drollige Sohlengänger mit der verlängerten,
beweglichen Schnauze, welcher, in's Große und Furchtbare gezogen, aber ent-
3schieden wieder die Mausform darstellt; in dritter Ordnung aber das merk-
würdige Geschlecht der Katzen und Hunde.

1. Die Robben (Seehunde, Seelöwen, Wallrosse) knüpfen an die
Wale an, gehören aber schlechtweg in eine entfernte, höhere Ordnung,
denn sie sind behaart, mit vollkommenen Zähnen versehen, treten aus dem
Wasser, stellen sich und gehen aufrecht auf den vorderen Schwimmfüßen oder
Finnen, während sie mit den hinteren, mehr floßenartigen, den walzigen
Leib nachschleppen. Diese seltsamen Thiere haben durch ihre Menschen-
ähnlichkeit zu vielen Fabeln Veranlassung gegeben; so niedrig sie in der
höchsten Thierwelt stehen, so ersetzen sie doch die offenbare Häßlichkeit der
Gestalt durch ziemlich bedeutende Eigenschaften der Thierseele: sie sind
munter zum Spiele, neugierig, lieben die Jungen sehr zärtlich und ver-
theidigen sie furchtbar, übrigens sind sie sanft und schließen sich sogar auf
rührende Weise an den Menschen an.

2. Die Fischottern und das Marder- oder Wieselgeschlecht mit dem
Dachse stellt Oken wegen ihres schlanken, wurmförmigen Leibs mit sehr
kurzen und liegenden Füßen und meist verbundenen Zehen, wodurch das
Kriechende des Gangs bedingt ist, noch mit den Robben zusammen. Die
Fischotter mit ihren Schwimmhäuten erinnert an den Biber, also an das
Mäusegeschlecht, so alle diese Thiere, die den Uebergang zum Bären
machen, sammt diesem; sie sind aber sämmtlich länger gestreckt, als die

er verräth die widerwärtige Gemüthsart ſchon im Geſchrei, welches den
Ausdruck des widerlichſten, nachdrückenden Eigenſinns hat. Freilich iſt dieſes
Thier verkommen, der wilde Eſel iſt eine gewaltigere Erſcheinung.

§. 311.

Der geſchloſſene und ſcharf gezeichnete Typus der Hufthiere löst ſich
wieder in eine weichere, feinere und weniger große Geſtalt auf; dieß iſt durch
die taſtfähige Pfote ausgeſprochen, in deren fünf mit Klauen gewaffnete Zehen
der Huf ſich wieder aufblättert, während das vollkommene Gebiß anzeigt, daß
der Maustypus in höherer Ausbildung zurückkehrt. Dieſe dritte Stufe, die
1oberſten Landthiere umfaſſend, beginnt aber wieder von unten und taucht in
erſter Ordnung ihr fiſchartiges Gebilde in’s Waſſer: die mißgeſtalteten, aber
2ſinnigen Robben. Auf dieſe letzte und höchſte Analogie des Amphibiums
folgt in zweiter Ordnung, eingeleitet durch die noch ſchwimmfüßige Fiſch-Otter,
dann das ſchleichende, diebiſche und blutdürftige Geſchlecht der Marder, den
höhlenbewohnenden Dachs, der Bär, der plumpe, zottige, melancholiſche,
brummende, aber gelehrige und drollige Sohlengänger mit der verlängerten,
beweglichen Schnauze, welcher, in’s Große und Furchtbare gezogen, aber ent-
3ſchieden wieder die Mausform darſtellt; in dritter Ordnung aber das merk-
würdige Geſchlecht der Katzen und Hunde.

1. Die Robben (Seehunde, Seelöwen, Wallroſſe) knüpfen an die
Wale an, gehören aber ſchlechtweg in eine entfernte, höhere Ordnung,
denn ſie ſind behaart, mit vollkommenen Zähnen verſehen, treten aus dem
Waſſer, ſtellen ſich und gehen aufrecht auf den vorderen Schwimmfüßen oder
Finnen, während ſie mit den hinteren, mehr floßenartigen, den walzigen
Leib nachſchleppen. Dieſe ſeltſamen Thiere haben durch ihre Menſchen-
ähnlichkeit zu vielen Fabeln Veranlaſſung gegeben; ſo niedrig ſie in der
höchſten Thierwelt ſtehen, ſo erſetzen ſie doch die offenbare Häßlichkeit der
Geſtalt durch ziemlich bedeutende Eigenſchaften der Thierſeele: ſie ſind
munter zum Spiele, neugierig, lieben die Jungen ſehr zärtlich und ver-
theidigen ſie furchtbar, übrigens ſind ſie ſanft und ſchließen ſich ſogar auf
rührende Weiſe an den Menſchen an.

2. Die Fiſchottern und das Marder- oder Wieſelgeſchlecht mit dem
Dachſe ſtellt Oken wegen ihres ſchlanken, wurmförmigen Leibs mit ſehr
kurzen und liegenden Füßen und meiſt verbundenen Zehen, wodurch das
Kriechende des Gangs bedingt iſt, noch mit den Robben zuſammen. Die
Fiſchotter mit ihren Schwimmhäuten erinnert an den Biber, alſo an das
Mäuſegeſchlecht, ſo alle dieſe Thiere, die den Uebergang zum Bären
machen, ſammt dieſem; ſie ſind aber ſämmtlich länger geſtreckt, als die

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[150/0162] er verräth die widerwärtige Gemüthsart ſchon im Geſchrei, welches den Ausdruck des widerlichſten, nachdrückenden Eigenſinns hat. Freilich iſt dieſes Thier verkommen, der wilde Eſel iſt eine gewaltigere Erſcheinung. §. 311. Der geſchloſſene und ſcharf gezeichnete Typus der Hufthiere löst ſich wieder in eine weichere, feinere und weniger große Geſtalt auf; dieß iſt durch die taſtfähige Pfote ausgeſprochen, in deren fünf mit Klauen gewaffnete Zehen der Huf ſich wieder aufblättert, während das vollkommene Gebiß anzeigt, daß der Maustypus in höherer Ausbildung zurückkehrt. Dieſe dritte Stufe, die oberſten Landthiere umfaſſend, beginnt aber wieder von unten und taucht in erſter Ordnung ihr fiſchartiges Gebilde in’s Waſſer: die mißgeſtalteten, aber ſinnigen Robben. Auf dieſe letzte und höchſte Analogie des Amphibiums folgt in zweiter Ordnung, eingeleitet durch die noch ſchwimmfüßige Fiſch-Otter, dann das ſchleichende, diebiſche und blutdürftige Geſchlecht der Marder, den höhlenbewohnenden Dachs, der Bär, der plumpe, zottige, melancholiſche, brummende, aber gelehrige und drollige Sohlengänger mit der verlängerten, beweglichen Schnauze, welcher, in’s Große und Furchtbare gezogen, aber ent- ſchieden wieder die Mausform darſtellt; in dritter Ordnung aber das merk- würdige Geſchlecht der Katzen und Hunde. 1. Die Robben (Seehunde, Seelöwen, Wallroſſe) knüpfen an die Wale an, gehören aber ſchlechtweg in eine entfernte, höhere Ordnung, denn ſie ſind behaart, mit vollkommenen Zähnen verſehen, treten aus dem Waſſer, ſtellen ſich und gehen aufrecht auf den vorderen Schwimmfüßen oder Finnen, während ſie mit den hinteren, mehr floßenartigen, den walzigen Leib nachſchleppen. Dieſe ſeltſamen Thiere haben durch ihre Menſchen- ähnlichkeit zu vielen Fabeln Veranlaſſung gegeben; ſo niedrig ſie in der höchſten Thierwelt ſtehen, ſo erſetzen ſie doch die offenbare Häßlichkeit der Geſtalt durch ziemlich bedeutende Eigenſchaften der Thierſeele: ſie ſind munter zum Spiele, neugierig, lieben die Jungen ſehr zärtlich und ver- theidigen ſie furchtbar, übrigens ſind ſie ſanft und ſchließen ſich ſogar auf rührende Weiſe an den Menſchen an. 2. Die Fiſchottern und das Marder- oder Wieſelgeſchlecht mit dem Dachſe ſtellt Oken wegen ihres ſchlanken, wurmförmigen Leibs mit ſehr kurzen und liegenden Füßen und meiſt verbundenen Zehen, wodurch das Kriechende des Gangs bedingt iſt, noch mit den Robben zuſammen. Die Fiſchotter mit ihren Schwimmhäuten erinnert an den Biber, alſo an das Mäuſegeſchlecht, ſo alle dieſe Thiere, die den Uebergang zum Bären machen, ſammt dieſem; ſie ſind aber ſämmtlich länger geſtreckt, als die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/162>, abgerufen am 18.04.2024.