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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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§. 325.

1

Die schöne Race theilt sich, wie die andern, in Völkergruppen, Völker,
Stämme. Der leiblich geistige Unterschied derselben ist ein durch die gesammte
Natur-Umgebung bestimmter und so wirkt diese, wie sie ursprünglich bildend
eingriff, neben der menschlichen Erscheinung fortbestehend ästhetisch mit: das
ganze unpersönliche Reich des Schönen hat nunmehr im concreteren Sinne seinen
2Mittelpunkt gefunden. Die Schönheit steigt nun in dem Grade, in welchem
ein glücklicher Landstrich dem Menschen ein vertrautes, im Gleichgewichte
zwischen Anstrengung und Genuß schwebendes Zusammenleben mit der Natur
gestattet. Die Grenze des Schönen tritt mit der Erstarrung auf der einen, der
wuchernden Ueppigkeit auf der andern Seite ein.

1. Es kommt hier nur erst darauf an, die allgemeinen Gesetze auf-
zustellen; nachher wird, so weit eingegangen werden kann, von den
bestimmteren Formen der Völkerschönheit die Rede sein. Hier also leuchtet
zunächst im Allgemeinen ein, wie nun erst die ganze Welt des Natur-
schönen bis zum Menschen in ihm ihren Genius erhält, mit ihm zu
bestimmten Charakteren zusammentritt; was in §. 316 vom Menschen
überhaupt gesagt ist, theilt sich in concrete Bilder. Jetzt tritt im heißen
Sonnenlichte, in der reinen Luft und unter den brennenden Farben, am
Fuße mächtiger Hochgebirge in paradiesischen Stromthälern, an der Wüste
und am Meere, unter Palmen, Cedern, Aloen, Mimosen, Riesenblumen,
von Kameelen, Gazellen, Elephanten, Pfauen umwimmelt, von Löwen,
Tigern, Schlangen bedroht der Orientale, im gemäßigteren Klima, in
den von Mittelgebirgen getheilten lieblichen Thälern, an seinem Mittel-
meere, diesem uralten Cultur-Centrum, unter Pinien, Lorbeer, Oelbaum,
Platanen, den plastisch gebildeten silbergrauen Stier mit den breiten
Hörnern an den Pflug spannend, das schlanke Roß tummelnd der Grieche
und Römer, unter dem grauen, neblichen Himmel, am rauh zerklüfteten
Gebirge, in der breiteren Ebene, am wilderen Nordmeere, unter düsteren
Tannen, in dunkeln Laubwäldern, den Ur und Bären bezwingend der
Germane auf; Gestalt, Profil, Farbe u. s. w. stimmt mit der Umgebung
und es baut sich ein Genrebild zusammen.

2. Die allzufreigebige Natur erschlafft und verzieht, die allzu karge
drückt zusammen, reibt auf. Diese Extreme bezeichnen eben die Grenzlinie
der schönen Race. Wir können hier ganz einfach an das Bekannte ver-
weisen, was Geographie und Geschichte sagen, daß und warum nämlich
die gemäßigte Zone der Schauplatz der Weltgeschichte ist, denn die geschicht-
lichen Völker sind eben auch die schönen Völker; wo das Menschliche sich
entwickelt, ist Schönheit. Intensität des Lichts ohne übermäßige Hitze,

§. 325.

1

Die ſchöne Race theilt ſich, wie die andern, in Völkergruppen, Völker,
Stämme. Der leiblich geiſtige Unterſchied derſelben iſt ein durch die geſammte
Natur-Umgebung beſtimmter und ſo wirkt dieſe, wie ſie urſprünglich bildend
eingriff, neben der menſchlichen Erſcheinung fortbeſtehend äſthetiſch mit: das
ganze unperſönliche Reich des Schönen hat nunmehr im concreteren Sinne ſeinen
2Mittelpunkt gefunden. Die Schönheit ſteigt nun in dem Grade, in welchem
ein glücklicher Landſtrich dem Menſchen ein vertrautes, im Gleichgewichte
zwiſchen Anſtrengung und Genuß ſchwebendes Zuſammenleben mit der Natur
geſtattet. Die Grenze des Schönen tritt mit der Erſtarrung auf der einen, der
wuchernden Ueppigkeit auf der andern Seite ein.

1. Es kommt hier nur erſt darauf an, die allgemeinen Geſetze auf-
zuſtellen; nachher wird, ſo weit eingegangen werden kann, von den
beſtimmteren Formen der Völkerſchönheit die Rede ſein. Hier alſo leuchtet
zunächſt im Allgemeinen ein, wie nun erſt die ganze Welt des Natur-
ſchönen bis zum Menſchen in ihm ihren Genius erhält, mit ihm zu
beſtimmten Charakteren zuſammentritt; was in §. 316 vom Menſchen
überhaupt geſagt iſt, theilt ſich in concrete Bilder. Jetzt tritt im heißen
Sonnenlichte, in der reinen Luft und unter den brennenden Farben, am
Fuße mächtiger Hochgebirge in paradieſiſchen Stromthälern, an der Wüſte
und am Meere, unter Palmen, Cedern, Aloen, Mimoſen, Rieſenblumen,
von Kameelen, Gazellen, Elephanten, Pfauen umwimmelt, von Löwen,
Tigern, Schlangen bedroht der Orientale, im gemäßigteren Klima, in
den von Mittelgebirgen getheilten lieblichen Thälern, an ſeinem Mittel-
meere, dieſem uralten Cultur-Centrum, unter Pinien, Lorbeer, Oelbaum,
Platanen, den plaſtiſch gebildeten ſilbergrauen Stier mit den breiten
Hörnern an den Pflug ſpannend, das ſchlanke Roß tummelnd der Grieche
und Römer, unter dem grauen, neblichen Himmel, am rauh zerklüfteten
Gebirge, in der breiteren Ebene, am wilderen Nordmeere, unter düſteren
Tannen, in dunkeln Laubwäldern, den Ur und Bären bezwingend der
Germane auf; Geſtalt, Profil, Farbe u. ſ. w. ſtimmt mit der Umgebung
und es baut ſich ein Genrebild zuſammen.

2. Die allzufreigebige Natur erſchlafft und verzieht, die allzu karge
drückt zuſammen, reibt auf. Dieſe Extreme bezeichnen eben die Grenzlinie
der ſchönen Race. Wir können hier ganz einfach an das Bekannte ver-
weiſen, was Geographie und Geſchichte ſagen, daß und warum nämlich
die gemäßigte Zone der Schauplatz der Weltgeſchichte iſt, denn die geſchicht-
lichen Völker ſind eben auch die ſchönen Völker; wo das Menſchliche ſich
entwickelt, iſt Schönheit. Intenſität des Lichts ohne übermäßige Hitze,

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[178/0190] §. 325. Die ſchöne Race theilt ſich, wie die andern, in Völkergruppen, Völker, Stämme. Der leiblich geiſtige Unterſchied derſelben iſt ein durch die geſammte Natur-Umgebung beſtimmter und ſo wirkt dieſe, wie ſie urſprünglich bildend eingriff, neben der menſchlichen Erſcheinung fortbeſtehend äſthetiſch mit: das ganze unperſönliche Reich des Schönen hat nunmehr im concreteren Sinne ſeinen Mittelpunkt gefunden. Die Schönheit ſteigt nun in dem Grade, in welchem ein glücklicher Landſtrich dem Menſchen ein vertrautes, im Gleichgewichte zwiſchen Anſtrengung und Genuß ſchwebendes Zuſammenleben mit der Natur geſtattet. Die Grenze des Schönen tritt mit der Erſtarrung auf der einen, der wuchernden Ueppigkeit auf der andern Seite ein. 1. Es kommt hier nur erſt darauf an, die allgemeinen Geſetze auf- zuſtellen; nachher wird, ſo weit eingegangen werden kann, von den beſtimmteren Formen der Völkerſchönheit die Rede ſein. Hier alſo leuchtet zunächſt im Allgemeinen ein, wie nun erſt die ganze Welt des Natur- ſchönen bis zum Menſchen in ihm ihren Genius erhält, mit ihm zu beſtimmten Charakteren zuſammentritt; was in §. 316 vom Menſchen überhaupt geſagt iſt, theilt ſich in concrete Bilder. Jetzt tritt im heißen Sonnenlichte, in der reinen Luft und unter den brennenden Farben, am Fuße mächtiger Hochgebirge in paradieſiſchen Stromthälern, an der Wüſte und am Meere, unter Palmen, Cedern, Aloen, Mimoſen, Rieſenblumen, von Kameelen, Gazellen, Elephanten, Pfauen umwimmelt, von Löwen, Tigern, Schlangen bedroht der Orientale, im gemäßigteren Klima, in den von Mittelgebirgen getheilten lieblichen Thälern, an ſeinem Mittel- meere, dieſem uralten Cultur-Centrum, unter Pinien, Lorbeer, Oelbaum, Platanen, den plaſtiſch gebildeten ſilbergrauen Stier mit den breiten Hörnern an den Pflug ſpannend, das ſchlanke Roß tummelnd der Grieche und Römer, unter dem grauen, neblichen Himmel, am rauh zerklüfteten Gebirge, in der breiteren Ebene, am wilderen Nordmeere, unter düſteren Tannen, in dunkeln Laubwäldern, den Ur und Bären bezwingend der Germane auf; Geſtalt, Profil, Farbe u. ſ. w. ſtimmt mit der Umgebung und es baut ſich ein Genrebild zuſammen. 2. Die allzufreigebige Natur erſchlafft und verzieht, die allzu karge drückt zuſammen, reibt auf. Dieſe Extreme bezeichnen eben die Grenzlinie der ſchönen Race. Wir können hier ganz einfach an das Bekannte ver- weiſen, was Geographie und Geſchichte ſagen, daß und warum nämlich die gemäßigte Zone der Schauplatz der Weltgeſchichte iſt, denn die geſchicht- lichen Völker ſind eben auch die ſchönen Völker; wo das Menſchliche ſich entwickelt, iſt Schönheit. Intenſität des Lichts ohne übermäßige Hitze,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/190>, abgerufen am 23.04.2024.