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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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§. 340.

Die ausdrucksvollen Bewegungen werden durch Gewohnheit feste Züge.1
Diese Züge durchdringen sich mit den angeborenen und so erst vollendet sich das
in §. 338 unvollständig entworfene physiognomische Gebiet, indem die
durchgearbeitete Erscheinung des Charakterbilds auftritt. Diese Durchdringung2
kann eine entsprechende sein oder eine widersprechende; in beiden Fällen ist sie
nicht durch wissenschaftliche Sätze im Voraus bestimmbar.

1. Das durch Gewohnheit habituell gewordene setzt sich vorzüglich
in den weichen und beweglichen Theilen des Angesichts fest; die Falte und
der entsprechende Hügel ist der wichtigste Niederschlag des Charakters.
Im Auge wird ebenfalls die Gewohnheit des Charakterblicks zum stehenden
Ausdruck. Auch die Farbe des Angesichts wird zum Ausdruck der Ge-
wöhnung, theils mehr unmittelbar verschuldet, wie die Röthe des Zornigen,
theils mehr mittelbar durch Wirkungen auf die Gesundheit vom Willen
herbeigeführt, wie die frische Gesundheitsfarbe des harmonischen und
mäßigen Menschen, die Erdfarbe des neidischen, die Bleifarbe des lieder-
lichen, die rothe Nase des Trinkers u. s. w. Der Ton der Stimme,
besonders Klang und Tempo des Lachens, die Gebärde, der Gang, die
ganze Haltung, selbst die Schlaffheit oder Strammheit und Frische der
Haut, Alles erscheint jetzt als feste Schrift des Willens, seines Verdienstes
oder seiner Schuld. Die durchgearbeiteten, gefurchten Köpfe und Gestalten
treten vor uns. Die Schönheit der Jugendblüthe ist weg, aber sie will
auch nichts heißen gegen diese Charakterbilder.

2. Die Durchdringung der angebornen Züge mit den Charakterzügen
ist entsprechend, wenn dieser die Naturanlage entweder aus Schuld
gewähren und einwurzeln ließ oder, da ihm die zusagende sittliche Sphäre
sich aufthat, mit Recht ausbildete und nur bis an eine Grenze bekämpfte,
wie der Kriegerische, wenn er Krieger wurde; widersprechend, wenn die
Bestimmung des Individuums einen Kampf mit der Naturanlage forderte,
wie wenn der Sanfte zum strengen Richter, der Strenge, der Heftige zum
Erzieher, zum Philosophen sich auszubilden hatte. Die Ineinander-
arbeitung des Angebornen und Habituellen selbst nimmt aber in jedem
Individuum wieder ihre anderen Wege, so daß auch abgesehen vom
unbekannten Zufall sich abermals nichts bestimmen läßt, sondern man
warten muß je bis ein Mensch vor uns tritt und durch eine Totalität
verschiedener Erscheinungsmittel, vor Allem Rede und That uns
zeigt, wer er sei, wodurch wir zu den Anfangssatz in §. 338 zurück-
kehren.


§. 340.

Die ausdrucksvollen Bewegungen werden durch Gewohnheit feſte Züge.1
Dieſe Züge durchdringen ſich mit den angeborenen und ſo erſt vollendet ſich das
in §. 338 unvollſtändig entworfene phyſiognomiſche Gebiet, indem die
durchgearbeitete Erſcheinung des Charakterbilds auftritt. Dieſe Durchdringung2
kann eine entſprechende ſein oder eine widerſprechende; in beiden Fällen iſt ſie
nicht durch wiſſenſchaftliche Sätze im Voraus beſtimmbar.

1. Das durch Gewohnheit habituell gewordene ſetzt ſich vorzüglich
in den weichen und beweglichen Theilen des Angeſichts feſt; die Falte und
der entſprechende Hügel iſt der wichtigſte Niederſchlag des Charakters.
Im Auge wird ebenfalls die Gewohnheit des Charakterblicks zum ſtehenden
Ausdruck. Auch die Farbe des Angeſichts wird zum Ausdruck der Ge-
wöhnung, theils mehr unmittelbar verſchuldet, wie die Röthe des Zornigen,
theils mehr mittelbar durch Wirkungen auf die Geſundheit vom Willen
herbeigeführt, wie die friſche Geſundheitsfarbe des harmoniſchen und
mäßigen Menſchen, die Erdfarbe des neidiſchen, die Bleifarbe des lieder-
lichen, die rothe Naſe des Trinkers u. ſ. w. Der Ton der Stimme,
beſonders Klang und Tempo des Lachens, die Gebärde, der Gang, die
ganze Haltung, ſelbſt die Schlaffheit oder Strammheit und Friſche der
Haut, Alles erſcheint jetzt als feſte Schrift des Willens, ſeines Verdienſtes
oder ſeiner Schuld. Die durchgearbeiteten, gefurchten Köpfe und Geſtalten
treten vor uns. Die Schönheit der Jugendblüthe iſt weg, aber ſie will
auch nichts heißen gegen dieſe Charakterbilder.

2. Die Durchdringung der angebornen Züge mit den Charakterzügen
iſt entſprechend, wenn dieſer die Naturanlage entweder aus Schuld
gewähren und einwurzeln ließ oder, da ihm die zuſagende ſittliche Sphäre
ſich aufthat, mit Recht ausbildete und nur bis an eine Grenze bekämpfte,
wie der Kriegeriſche, wenn er Krieger wurde; widerſprechend, wenn die
Beſtimmung des Individuums einen Kampf mit der Naturanlage forderte,
wie wenn der Sanfte zum ſtrengen Richter, der Strenge, der Heftige zum
Erzieher, zum Philoſophen ſich auszubilden hatte. Die Ineinander-
arbeitung des Angebornen und Habituellen ſelbſt nimmt aber in jedem
Individuum wieder ihre anderen Wege, ſo daß auch abgeſehen vom
unbekannten Zufall ſich abermals nichts beſtimmen läßt, ſondern man
warten muß je bis ein Menſch vor uns tritt und durch eine Totalität
verſchiedener Erſcheinungsmittel, vor Allem Rede und That uns
zeigt, wer er ſei, wodurch wir zu den Anfangsſatz in §. 338 zurück-
kehren.


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[219/0231] §. 340. Die ausdrucksvollen Bewegungen werden durch Gewohnheit feſte Züge. Dieſe Züge durchdringen ſich mit den angeborenen und ſo erſt vollendet ſich das in §. 338 unvollſtändig entworfene phyſiognomiſche Gebiet, indem die durchgearbeitete Erſcheinung des Charakterbilds auftritt. Dieſe Durchdringung kann eine entſprechende ſein oder eine widerſprechende; in beiden Fällen iſt ſie nicht durch wiſſenſchaftliche Sätze im Voraus beſtimmbar. 1. Das durch Gewohnheit habituell gewordene ſetzt ſich vorzüglich in den weichen und beweglichen Theilen des Angeſichts feſt; die Falte und der entſprechende Hügel iſt der wichtigſte Niederſchlag des Charakters. Im Auge wird ebenfalls die Gewohnheit des Charakterblicks zum ſtehenden Ausdruck. Auch die Farbe des Angeſichts wird zum Ausdruck der Ge- wöhnung, theils mehr unmittelbar verſchuldet, wie die Röthe des Zornigen, theils mehr mittelbar durch Wirkungen auf die Geſundheit vom Willen herbeigeführt, wie die friſche Geſundheitsfarbe des harmoniſchen und mäßigen Menſchen, die Erdfarbe des neidiſchen, die Bleifarbe des lieder- lichen, die rothe Naſe des Trinkers u. ſ. w. Der Ton der Stimme, beſonders Klang und Tempo des Lachens, die Gebärde, der Gang, die ganze Haltung, ſelbſt die Schlaffheit oder Strammheit und Friſche der Haut, Alles erſcheint jetzt als feſte Schrift des Willens, ſeines Verdienſtes oder ſeiner Schuld. Die durchgearbeiteten, gefurchten Köpfe und Geſtalten treten vor uns. Die Schönheit der Jugendblüthe iſt weg, aber ſie will auch nichts heißen gegen dieſe Charakterbilder. 2. Die Durchdringung der angebornen Züge mit den Charakterzügen iſt entſprechend, wenn dieſer die Naturanlage entweder aus Schuld gewähren und einwurzeln ließ oder, da ihm die zuſagende ſittliche Sphäre ſich aufthat, mit Recht ausbildete und nur bis an eine Grenze bekämpfte, wie der Kriegeriſche, wenn er Krieger wurde; widerſprechend, wenn die Beſtimmung des Individuums einen Kampf mit der Naturanlage forderte, wie wenn der Sanfte zum ſtrengen Richter, der Strenge, der Heftige zum Erzieher, zum Philoſophen ſich auszubilden hatte. Die Ineinander- arbeitung des Angebornen und Habituellen ſelbſt nimmt aber in jedem Individuum wieder ihre anderen Wege, ſo daß auch abgeſehen vom unbekannten Zufall ſich abermals nichts beſtimmen läßt, ſondern man warten muß je bis ein Menſch vor uns tritt und durch eine Totalität verſchiedener Erſcheinungsmittel, vor Allem Rede und That uns zeigt, wer er ſei, wodurch wir zu den Anfangsſatz in §. 338 zurück- kehren.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/231>, abgerufen am 23.04.2024.