Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite
a
Das Alterthum.
§. 342.

In der Welt des Alterthums treten die Gruppen der Völker auf, deren
Geist sich in unmittelbarer Einheit mit der Natur bewegt, deren Bildung Natur
bleibt. Die Gunst des Himmelstrichs bedingt ungehemmte Ergießung des inneren
Lebens, die Mischungen der Völker verschmelzen nur Verwandtes mit Ver-
wandtem und die Sittigung hat keine völlig fremde Elemente zu überwinden.
Diese naturwüchsige Entwicklung, welche sowohl den Bruch zwischen dem
Innern und Aeußern im Subjecte, als zwischen dem Individuum und dem
Ganzen des Staates ausschließt, ist wesentlich als objective Lebensform
zu bezeichnen.

Es sind die Menschen aus Einem Gusse, welche zuerst vor uns auf-
treten, die Menschen des Alterthums. Von Indien gehen wir herüber
und verweilen an den Küsten des mittelländischen Meeres. Hier ist
überall eine Natur, welche den Menschen nicht in das Innere zurückwirft,
hier ist überall, wie manche Arbeit das Bedürfniß auflegen mag, leicht
leben, das Bewußtsein tritt nicht aus der leiblichen Existenz und ihrem
Gesammtgefühle zur Reflexion in sich zurück. Auch das Ganze der
Nationen bleibt Ein Stück, die Bildung rund und national. Gegensätze
bleiben nicht aus; in Indien wohnen die Reste unterjochter Völker mit den
Herrschern zusammen, Persien dehnt sein ungeheures Reich über fremde
Völker aus, in Aegypten mischt sich äthiopisches und semitisches Blut, in
Griechenland Dorier und Jonier, in Rom die verschiedenen Völker
Italiens mit den Etruskern; aber alle diese Mischungen sind etwas ganz
Anderes, als das Eindringen germanischen Bluts in lateinische und
latinisirte Nationen, als die absolut neue Aufgabe der nordischen Völker,
sich die klassische Bildung anzueignen. Aus beiden Ursachen, wegen
des vertrauten und unbefangenen Lebens in der Natur sowohl als
wegen dieses vom Eindringen fremdartiger Bildung ungestörten Wachs-
thums bleiben diese Völker frei von dem Bruche des Bewußtseins,
von der Negativität, die wir in den nördlichen Völkern werden auf-
treten sehen. Diese Negativität bedingt zugleich jene Vereinzelung des
Individuums gegen das Allgemeine, welche den Uebergang in geordnete
Staatenbildung diesen Völkern so sehr erschwert hat, wogegen im Alter-
thum der Einzelne flüssig im Allgemeinen des Volks und Staats sich
bewegt.


α
Das Alterthum.
§. 342.

In der Welt des Alterthums treten die Gruppen der Völker auf, deren
Geiſt ſich in unmittelbarer Einheit mit der Natur bewegt, deren Bildung Natur
bleibt. Die Gunſt des Himmelſtrichs bedingt ungehemmte Ergießung des inneren
Lebens, die Miſchungen der Völker verſchmelzen nur Verwandtes mit Ver-
wandtem und die Sittigung hat keine völlig fremde Elemente zu überwinden.
Dieſe naturwüchſige Entwicklung, welche ſowohl den Bruch zwiſchen dem
Innern und Aeußern im Subjecte, als zwiſchen dem Individuum und dem
Ganzen des Staates ausſchließt, iſt weſentlich als objective Lebensform
zu bezeichnen.

Es ſind die Menſchen aus Einem Guſſe, welche zuerſt vor uns auf-
treten, die Menſchen des Alterthums. Von Indien gehen wir herüber
und verweilen an den Küſten des mittelländiſchen Meeres. Hier iſt
überall eine Natur, welche den Menſchen nicht in das Innere zurückwirft,
hier iſt überall, wie manche Arbeit das Bedürfniß auflegen mag, leicht
leben, das Bewußtſein tritt nicht aus der leiblichen Exiſtenz und ihrem
Geſammtgefühle zur Reflexion in ſich zurück. Auch das Ganze der
Nationen bleibt Ein Stück, die Bildung rund und national. Gegenſätze
bleiben nicht aus; in Indien wohnen die Reſte unterjochter Völker mit den
Herrſchern zuſammen, Perſien dehnt ſein ungeheures Reich über fremde
Völker aus, in Aegypten miſcht ſich äthiopiſches und ſemitiſches Blut, in
Griechenland Dorier und Jonier, in Rom die verſchiedenen Völker
Italiens mit den Etruskern; aber alle dieſe Miſchungen ſind etwas ganz
Anderes, als das Eindringen germaniſchen Bluts in lateiniſche und
latiniſirte Nationen, als die abſolut neue Aufgabe der nordiſchen Völker,
ſich die klaſſiſche Bildung anzueignen. Aus beiden Urſachen, wegen
des vertrauten und unbefangenen Lebens in der Natur ſowohl als
wegen dieſes vom Eindringen fremdartiger Bildung ungeſtörten Wachs-
thums bleiben dieſe Völker frei von dem Bruche des Bewußtſeins,
von der Negativität, die wir in den nördlichen Völkern werden auf-
treten ſehen. Dieſe Negativität bedingt zugleich jene Vereinzelung des
Individuums gegen das Allgemeine, welche den Uebergang in geordnete
Staatenbildung dieſen Völkern ſo ſehr erſchwert hat, wogegen im Alter-
thum der Einzelne flüſſig im Allgemeinen des Volks und Staats ſich
bewegt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0234" n="222"/>
              <div n="5">
                <head><hi rendition="#i">&#x03B1;</hi><lb/><hi rendition="#g">Das Alterthum</hi>.</head><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 342.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">In der Welt des Alterthums treten die Gruppen der Völker auf, deren<lb/>
Gei&#x017F;t &#x017F;ich in unmittelbarer Einheit mit der Natur bewegt, deren Bildung Natur<lb/>
bleibt. Die Gun&#x017F;t des Himmel&#x017F;trichs bedingt ungehemmte Ergießung des inneren<lb/>
Lebens, die Mi&#x017F;chungen der Völker ver&#x017F;chmelzen nur Verwandtes mit Ver-<lb/>
wandtem und die Sittigung hat keine völlig fremde Elemente zu überwinden.<lb/>
Die&#x017F;e naturwüch&#x017F;ige Entwicklung, welche &#x017F;owohl den Bruch zwi&#x017F;chen dem<lb/>
Innern und Aeußern im Subjecte, als zwi&#x017F;chen dem Individuum und dem<lb/>
Ganzen des Staates aus&#x017F;chließt, i&#x017F;t we&#x017F;entlich als <hi rendition="#g">objective</hi> Lebensform<lb/>
zu bezeichnen.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Es &#x017F;ind die Men&#x017F;chen aus Einem Gu&#x017F;&#x017F;e, welche zuer&#x017F;t vor uns auf-<lb/>
treten, die Men&#x017F;chen des Alterthums. Von Indien gehen wir herüber<lb/>
und verweilen an den Kü&#x017F;ten des mittelländi&#x017F;chen Meeres. Hier i&#x017F;t<lb/>
überall eine Natur, welche den Men&#x017F;chen nicht in das Innere zurückwirft,<lb/>
hier i&#x017F;t überall, wie manche Arbeit das Bedürfniß auflegen mag, leicht<lb/>
leben, das Bewußt&#x017F;ein tritt nicht aus der leiblichen Exi&#x017F;tenz und ihrem<lb/>
Ge&#x017F;ammtgefühle zur Reflexion in &#x017F;ich zurück. Auch das Ganze der<lb/>
Nationen bleibt Ein Stück, die Bildung rund und national. Gegen&#x017F;ätze<lb/>
bleiben nicht aus; in Indien wohnen die Re&#x017F;te unterjochter Völker mit den<lb/>
Herr&#x017F;chern zu&#x017F;ammen, Per&#x017F;ien dehnt &#x017F;ein ungeheures Reich über fremde<lb/>
Völker aus, in Aegypten mi&#x017F;cht &#x017F;ich äthiopi&#x017F;ches und &#x017F;emiti&#x017F;ches Blut, in<lb/>
Griechenland Dorier und Jonier, in Rom die ver&#x017F;chiedenen Völker<lb/>
Italiens mit den Etruskern; aber alle die&#x017F;e Mi&#x017F;chungen &#x017F;ind etwas ganz<lb/>
Anderes, als das Eindringen germani&#x017F;chen Bluts in lateini&#x017F;che und<lb/>
latini&#x017F;irte Nationen, als die ab&#x017F;olut neue Aufgabe der nordi&#x017F;chen Völker,<lb/>
&#x017F;ich die kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Bildung anzueignen. Aus beiden Ur&#x017F;achen, wegen<lb/>
des vertrauten und unbefangenen Lebens in der Natur &#x017F;owohl als<lb/>
wegen die&#x017F;es vom Eindringen fremdartiger Bildung unge&#x017F;törten Wachs-<lb/>
thums bleiben die&#x017F;e Völker frei von dem Bruche des Bewußt&#x017F;eins,<lb/>
von der Negativität, die wir in den nördlichen Völkern werden auf-<lb/>
treten &#x017F;ehen. Die&#x017F;e Negativität bedingt zugleich jene Vereinzelung des<lb/>
Individuums gegen das Allgemeine, welche den Uebergang in geordnete<lb/>
Staatenbildung die&#x017F;en Völkern &#x017F;o &#x017F;ehr er&#x017F;chwert hat, wogegen im Alter-<lb/>
thum der Einzelne flü&#x017F;&#x017F;ig im Allgemeinen des Volks und Staats &#x017F;ich<lb/>
bewegt.</hi> </p>
                </div><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[222/0234] α Das Alterthum. §. 342. In der Welt des Alterthums treten die Gruppen der Völker auf, deren Geiſt ſich in unmittelbarer Einheit mit der Natur bewegt, deren Bildung Natur bleibt. Die Gunſt des Himmelſtrichs bedingt ungehemmte Ergießung des inneren Lebens, die Miſchungen der Völker verſchmelzen nur Verwandtes mit Ver- wandtem und die Sittigung hat keine völlig fremde Elemente zu überwinden. Dieſe naturwüchſige Entwicklung, welche ſowohl den Bruch zwiſchen dem Innern und Aeußern im Subjecte, als zwiſchen dem Individuum und dem Ganzen des Staates ausſchließt, iſt weſentlich als objective Lebensform zu bezeichnen. Es ſind die Menſchen aus Einem Guſſe, welche zuerſt vor uns auf- treten, die Menſchen des Alterthums. Von Indien gehen wir herüber und verweilen an den Küſten des mittelländiſchen Meeres. Hier iſt überall eine Natur, welche den Menſchen nicht in das Innere zurückwirft, hier iſt überall, wie manche Arbeit das Bedürfniß auflegen mag, leicht leben, das Bewußtſein tritt nicht aus der leiblichen Exiſtenz und ihrem Geſammtgefühle zur Reflexion in ſich zurück. Auch das Ganze der Nationen bleibt Ein Stück, die Bildung rund und national. Gegenſätze bleiben nicht aus; in Indien wohnen die Reſte unterjochter Völker mit den Herrſchern zuſammen, Perſien dehnt ſein ungeheures Reich über fremde Völker aus, in Aegypten miſcht ſich äthiopiſches und ſemitiſches Blut, in Griechenland Dorier und Jonier, in Rom die verſchiedenen Völker Italiens mit den Etruskern; aber alle dieſe Miſchungen ſind etwas ganz Anderes, als das Eindringen germaniſchen Bluts in lateiniſche und latiniſirte Nationen, als die abſolut neue Aufgabe der nordiſchen Völker, ſich die klaſſiſche Bildung anzueignen. Aus beiden Urſachen, wegen des vertrauten und unbefangenen Lebens in der Natur ſowohl als wegen dieſes vom Eindringen fremdartiger Bildung ungeſtörten Wachs- thums bleiben dieſe Völker frei von dem Bruche des Bewußtſeins, von der Negativität, die wir in den nördlichen Völkern werden auf- treten ſehen. Dieſe Negativität bedingt zugleich jene Vereinzelung des Individuums gegen das Allgemeine, welche den Uebergang in geordnete Staatenbildung dieſen Völkern ſo ſehr erſchwert hat, wogegen im Alter- thum der Einzelne flüſſig im Allgemeinen des Volks und Staats ſich bewegt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/234
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/234>, abgerufen am 28.03.2024.