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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Vorstufe.
§. 343.

Die Vorstufe dieser Lebensform ist die Welt des Morgenlands.
Die geschichtlichen Völker Asiens bringen es noch nicht zu der klaren Ruhe
jener unmittelbaren Einheit. Die umgebende Natur, die den Gegensatz des
Geden und Harten und des Ueppigen colossal nebeneinanderstellt, bedingt ein1
von Phlegma und Melancholie in sanguinische Zerstreuung und cholerischen Zorn
überstürzendes Temperament, wirft den Geist zwischen brütendem Insichsein,
unbewegter Würde, feierlicher und geheimnißvoller Gemessenheit und trunkener
Ausgelassenheit, wilder Betäubung dualistisch hin und her. Der leibliche
Typus erscheint weich, beschaulich und kühn vorstrebend zugleich. Die Tracht2
und alle Formen des Zweckmäßigen und Angenehmen sind theils dürftig, eng,
nackt, theils ausschweifend in Pracht, der Krieg wild und ungeordnet. Dem3
ganzen Leben fehlt die ethische Einheit, also die Persönlichkeit; aus der Er-
drückung erhebt sich der Mensch, um sich in Selbstvergessenheit zu vernichten.

1. Das Oede und Harte sind die unfruchtbaren Steingebirge, die
dürren Steppen-Ebenen, die glühende Wüste, worüber ein unerbittlich
wolkenloser Himmel versengend sich ausbreitet, dazwischen die üppigen,
wuchernden, weiten Strom-Ebenen, die lieblichen kleineren Alpenthäler.
Das Meer zwar fordert zu einem Kampfe heraus, der nicht so ermattend,
wie die Steppe und Wüste, nicht so in Genuß erschlaffend wirkt, wie
die wuchernden Thäler, doch im Verlauf bringt es durch den Handel
Reichthum und Ueppigkeit aller Art. Nirgends aber ist das Gegensätzliche
so scharf ausgesprochen, so eng zusammengerückt, als im Nilthale, das
hier zum Orient zu zählen ist. Was die Erd-Formen betrifft, so zeigen
die Gebirgsprofile des Orients, so viel dem Verf. aus Zeichnungen
bekannt ist, durchgängig eine Annäherung an die plastisch satten und
schwungvollen Bildungen Italiens und Griechenlands, zerreißen aber den
Fluß der Linie wieder mit wunderlichen, seltsamen Kegeln, wilden Ab-
stürzen, steilen Stirnen, rauhen Zerklüftungen. Die Pflanzenwelt ist die
in §. 278 dargestellte. Wie die Oase in der Wüste sich hebt, so empfängt
den Wanderer, wenn er von der glühenden Felsenwand herabsteigt, die
duftende Pracht und zugleich in gebundenen Formen streng und hoch auf-
gerichtete, massig ausgebreitete Feierlichkeit einer mährchenhaft wunder-
baren Vegetation, die den betäubenden Genuß in vollen Schaalen über
ihn ausgießt. Wunderblumen von blendender Pracht und berauschendem
Wohlgeruch schlingen sich um Palmen und riesenhafte Bananen, aus dem

Vorſtufe.
§. 343.

Die Vorſtufe dieſer Lebensform iſt die Welt des Morgenlands.
Die geſchichtlichen Völker Aſiens bringen es noch nicht zu der klaren Ruhe
jener unmittelbaren Einheit. Die umgebende Natur, die den Gegenſatz des
Geden und Harten und des Ueppigen coloſſal nebeneinanderſtellt, bedingt ein1
von Phlegma und Melancholie in ſanguiniſche Zerſtreuung und choleriſchen Zorn
überſtürzendes Temperament, wirft den Geiſt zwiſchen brütendem Inſichſein,
unbewegter Würde, feierlicher und geheimnißvoller Gemeſſenheit und trunkener
Ausgelaſſenheit, wilder Betäubung dualiſtiſch hin und her. Der leibliche
Typus erſcheint weich, beſchaulich und kühn vorſtrebend zugleich. Die Tracht2
und alle Formen des Zweckmäßigen und Angenehmen ſind theils dürftig, eng,
nackt, theils ausſchweifend in Pracht, der Krieg wild und ungeordnet. Dem3
ganzen Leben fehlt die ethiſche Einheit, alſo die Perſönlichkeit; aus der Er-
drückung erhebt ſich der Menſch, um ſich in Selbſtvergeſſenheit zu vernichten.

1. Das Oede und Harte ſind die unfruchtbaren Steingebirge, die
dürren Steppen-Ebenen, die glühende Wüſte, worüber ein unerbittlich
wolkenloſer Himmel verſengend ſich ausbreitet, dazwiſchen die üppigen,
wuchernden, weiten Strom-Ebenen, die lieblichen kleineren Alpenthäler.
Das Meer zwar fordert zu einem Kampfe heraus, der nicht ſo ermattend,
wie die Steppe und Wüſte, nicht ſo in Genuß erſchlaffend wirkt, wie
die wuchernden Thäler, doch im Verlauf bringt es durch den Handel
Reichthum und Ueppigkeit aller Art. Nirgends aber iſt das Gegenſätzliche
ſo ſcharf ausgeſprochen, ſo eng zuſammengerückt, als im Nilthale, das
hier zum Orient zu zählen iſt. Was die Erd-Formen betrifft, ſo zeigen
die Gebirgsprofile des Orients, ſo viel dem Verf. aus Zeichnungen
bekannt iſt, durchgängig eine Annäherung an die plaſtiſch ſatten und
ſchwungvollen Bildungen Italiens und Griechenlands, zerreißen aber den
Fluß der Linie wieder mit wunderlichen, ſeltſamen Kegeln, wilden Ab-
ſtürzen, ſteilen Stirnen, rauhen Zerklüftungen. Die Pflanzenwelt iſt die
in §. 278 dargeſtellte. Wie die Oaſe in der Wüſte ſich hebt, ſo empfängt
den Wanderer, wenn er von der glühenden Felſenwand herabſteigt, die
duftende Pracht und zugleich in gebundenen Formen ſtreng und hoch auf-
gerichtete, maſſig ausgebreitete Feierlichkeit einer mährchenhaft wunder-
baren Vegetation, die den betäubenden Genuß in vollen Schaalen über
ihn ausgießt. Wunderblumen von blendender Pracht und berauſchendem
Wohlgeruch ſchlingen ſich um Palmen und rieſenhafte Bananen, aus dem

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[223/0235] Vorſtufe. §. 343. Die Vorſtufe dieſer Lebensform iſt die Welt des Morgenlands. Die geſchichtlichen Völker Aſiens bringen es noch nicht zu der klaren Ruhe jener unmittelbaren Einheit. Die umgebende Natur, die den Gegenſatz des Geden und Harten und des Ueppigen coloſſal nebeneinanderſtellt, bedingt ein von Phlegma und Melancholie in ſanguiniſche Zerſtreuung und choleriſchen Zorn überſtürzendes Temperament, wirft den Geiſt zwiſchen brütendem Inſichſein, unbewegter Würde, feierlicher und geheimnißvoller Gemeſſenheit und trunkener Ausgelaſſenheit, wilder Betäubung dualiſtiſch hin und her. Der leibliche Typus erſcheint weich, beſchaulich und kühn vorſtrebend zugleich. Die Tracht und alle Formen des Zweckmäßigen und Angenehmen ſind theils dürftig, eng, nackt, theils ausſchweifend in Pracht, der Krieg wild und ungeordnet. Dem ganzen Leben fehlt die ethiſche Einheit, alſo die Perſönlichkeit; aus der Er- drückung erhebt ſich der Menſch, um ſich in Selbſtvergeſſenheit zu vernichten. 1. Das Oede und Harte ſind die unfruchtbaren Steingebirge, die dürren Steppen-Ebenen, die glühende Wüſte, worüber ein unerbittlich wolkenloſer Himmel verſengend ſich ausbreitet, dazwiſchen die üppigen, wuchernden, weiten Strom-Ebenen, die lieblichen kleineren Alpenthäler. Das Meer zwar fordert zu einem Kampfe heraus, der nicht ſo ermattend, wie die Steppe und Wüſte, nicht ſo in Genuß erſchlaffend wirkt, wie die wuchernden Thäler, doch im Verlauf bringt es durch den Handel Reichthum und Ueppigkeit aller Art. Nirgends aber iſt das Gegenſätzliche ſo ſcharf ausgeſprochen, ſo eng zuſammengerückt, als im Nilthale, das hier zum Orient zu zählen iſt. Was die Erd-Formen betrifft, ſo zeigen die Gebirgsprofile des Orients, ſo viel dem Verf. aus Zeichnungen bekannt iſt, durchgängig eine Annäherung an die plaſtiſch ſatten und ſchwungvollen Bildungen Italiens und Griechenlands, zerreißen aber den Fluß der Linie wieder mit wunderlichen, ſeltſamen Kegeln, wilden Ab- ſtürzen, ſteilen Stirnen, rauhen Zerklüftungen. Die Pflanzenwelt iſt die in §. 278 dargeſtellte. Wie die Oaſe in der Wüſte ſich hebt, ſo empfängt den Wanderer, wenn er von der glühenden Felſenwand herabſteigt, die duftende Pracht und zugleich in gebundenen Formen ſtreng und hoch auf- gerichtete, maſſig ausgebreitete Feierlichkeit einer mährchenhaft wunder- baren Vegetation, die den betäubenden Genuß in vollen Schaalen über ihn ausgießt. Wunderblumen von blendender Pracht und berauſchendem Wohlgeruch ſchlingen ſich um Palmen und rieſenhafte Bananen, aus dem

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/235>, abgerufen am 19.04.2024.