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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Das Mittelalter.
§. 354.

1

Die Germanen zertrümmern das römische Weltreich; der Norden
Europas tritt in die Geschichte ein. In ihren ursprünglichen Sitzen von einer
Natur umgeben, die den Körper in rauher Weise stählt, den Geist nach innen
wirft, um ihn nach langem Winter wieder zum Genusse herauszuführen, zeigt
dieses Volk den negativen Typus geistigen Ausdrucks bei roher Bildung. So ist
sein Temperament und ganzes Naturell auf den, dem Erhabenen und Komischen
neue Tiefe und Breite eröffnenden, Widerspruch der Formlosigkeit bei tiefem
Gehalte angelegt und offenbart schon im heroischen Naturzustande die Bestimmung,
2die objective Lebensform zu brechen in dem doppelten Sinne, daß das Subject
in seine Tiefe zusammengefaßt sich negativ gegen seine Sinnlichkeit verhält,
worauf neben der Naturtugend gewaltiger Tapferkeit große sittliche Tugenden,
insbesondere des engeren Lebenskreises, aber ebenso große Fehler sich gründen,
und daß der Einzelne sich im Gefühl des unendlichen Werthes der Individualität
sich auf sich selbst stellt, als Glied einem Ganzen sich zu geben verweigert.

1. Grauer Himmel, langer, starrer Winter, eine atmospärische Natur,
die nicht wie ein geschmeidiger Rock, sondern wie ein Stachelkleid ansitzt,
die Erdformen schroff und wild, gedrückt und platt, die Pflanzenformen,
wie sie in §. 280 dargestellt sind, rauhe Thierwelt, Bären, Ellenthiere,
Auerochsen, Wölfe, Eber, schwere Pferde, kleines Rindvieh mit dem
exiguum frontis decus, knorrige, derbe Hunde (Bullenbeißer u. dergl.).
Die nördlichen Stämme wohnen an einem stürmischen Meere, das zu
rauhen und wilden Unternehmungen auffordert. Die winterliche Natur
Deutschlands zieht sich gegen Norden bis dahin, wo die Aesthetik eine
Grenze setzen muß, aber sie ist, vorzüglich gegen Süden, noch nicht so
hart, schönere Menschheit unmöglich zu machen, nur ist sie wesentlich
gegensätzlich bestimmt: auf den langen Winter folgt der Frühling, wo
Alles auflebt, wo ein saftigeres und helleres Grün, als im höheren Süden,
mit lustigen Blüthen aufsproßt und unzähliche Singvögel jauchzen. In
einem Theile des Landes, das später Deutsche bewohnten, saßen früher
Kelten. Dieses Volk haben wir erst zu erwähnen, wenn von dem
Eindringen der Deutschen nach Gallien, von der ersten Grundlage des
französischen Charakters zu reden ist; wichtiger wird es in der Lehre von
der Phantasie. Die Slaven, die der Völkerwanderung nachdrängend

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Das Mittelalter.
§. 354.

1

Die Germanen zertrümmern das römiſche Weltreich; der Norden
Europas tritt in die Geſchichte ein. In ihren urſprünglichen Sitzen von einer
Natur umgeben, die den Körper in rauher Weiſe ſtählt, den Geiſt nach innen
wirft, um ihn nach langem Winter wieder zum Genuſſe herauszuführen, zeigt
dieſes Volk den negativen Typus geiſtigen Ausdrucks bei roher Bildung. So iſt
ſein Temperament und ganzes Naturell auf den, dem Erhabenen und Komiſchen
neue Tiefe und Breite eröffnenden, Widerſpruch der Formloſigkeit bei tiefem
Gehalte angelegt und offenbart ſchon im heroiſchen Naturzuſtande die Beſtimmung,
2die objective Lebensform zu brechen in dem doppelten Sinne, daß das Subject
in ſeine Tiefe zuſammengefaßt ſich negativ gegen ſeine Sinnlichkeit verhält,
worauf neben der Naturtugend gewaltiger Tapferkeit große ſittliche Tugenden,
insbeſondere des engeren Lebenskreiſes, aber ebenſo große Fehler ſich gründen,
und daß der Einzelne ſich im Gefühl des unendlichen Werthes der Individualität
ſich auf ſich ſelbſt ſtellt, als Glied einem Ganzen ſich zu geben verweigert.

1. Grauer Himmel, langer, ſtarrer Winter, eine atmoſpäriſche Natur,
die nicht wie ein geſchmeidiger Rock, ſondern wie ein Stachelkleid anſitzt,
die Erdformen ſchroff und wild, gedrückt und platt, die Pflanzenformen,
wie ſie in §. 280 dargeſtellt ſind, rauhe Thierwelt, Bären, Ellenthiere,
Auerochſen, Wölfe, Eber, ſchwere Pferde, kleines Rindvieh mit dem
exiguum frontis decus, knorrige, derbe Hunde (Bullenbeißer u. dergl.).
Die nördlichen Stämme wohnen an einem ſtürmiſchen Meere, das zu
rauhen und wilden Unternehmungen auffordert. Die winterliche Natur
Deutſchlands zieht ſich gegen Norden bis dahin, wo die Aeſthetik eine
Grenze ſetzen muß, aber ſie iſt, vorzüglich gegen Süden, noch nicht ſo
hart, ſchönere Menſchheit unmöglich zu machen, nur iſt ſie weſentlich
gegenſätzlich beſtimmt: auf den langen Winter folgt der Frühling, wo
Alles auflebt, wo ein ſaftigeres und helleres Grün, als im höheren Süden,
mit luſtigen Blüthen aufſproßt und unzähliche Singvögel jauchzen. In
einem Theile des Landes, das ſpäter Deutſche bewohnten, ſaßen früher
Kelten. Dieſes Volk haben wir erſt zu erwähnen, wenn von dem
Eindringen der Deutſchen nach Gallien, von der erſten Grundlage des
franzöſiſchen Charakters zu reden iſt; wichtiger wird es in der Lehre von
der Phantaſie. Die Slaven, die der Völkerwanderung nachdrängend

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[246/0258] β Das Mittelalter. §. 354. Die Germanen zertrümmern das römiſche Weltreich; der Norden Europas tritt in die Geſchichte ein. In ihren urſprünglichen Sitzen von einer Natur umgeben, die den Körper in rauher Weiſe ſtählt, den Geiſt nach innen wirft, um ihn nach langem Winter wieder zum Genuſſe herauszuführen, zeigt dieſes Volk den negativen Typus geiſtigen Ausdrucks bei roher Bildung. So iſt ſein Temperament und ganzes Naturell auf den, dem Erhabenen und Komiſchen neue Tiefe und Breite eröffnenden, Widerſpruch der Formloſigkeit bei tiefem Gehalte angelegt und offenbart ſchon im heroiſchen Naturzuſtande die Beſtimmung, die objective Lebensform zu brechen in dem doppelten Sinne, daß das Subject in ſeine Tiefe zuſammengefaßt ſich negativ gegen ſeine Sinnlichkeit verhält, worauf neben der Naturtugend gewaltiger Tapferkeit große ſittliche Tugenden, insbeſondere des engeren Lebenskreiſes, aber ebenſo große Fehler ſich gründen, und daß der Einzelne ſich im Gefühl des unendlichen Werthes der Individualität ſich auf ſich ſelbſt ſtellt, als Glied einem Ganzen ſich zu geben verweigert. 1. Grauer Himmel, langer, ſtarrer Winter, eine atmoſpäriſche Natur, die nicht wie ein geſchmeidiger Rock, ſondern wie ein Stachelkleid anſitzt, die Erdformen ſchroff und wild, gedrückt und platt, die Pflanzenformen, wie ſie in §. 280 dargeſtellt ſind, rauhe Thierwelt, Bären, Ellenthiere, Auerochſen, Wölfe, Eber, ſchwere Pferde, kleines Rindvieh mit dem exiguum frontis decus, knorrige, derbe Hunde (Bullenbeißer u. dergl.). Die nördlichen Stämme wohnen an einem ſtürmiſchen Meere, das zu rauhen und wilden Unternehmungen auffordert. Die winterliche Natur Deutſchlands zieht ſich gegen Norden bis dahin, wo die Aeſthetik eine Grenze ſetzen muß, aber ſie iſt, vorzüglich gegen Süden, noch nicht ſo hart, ſchönere Menſchheit unmöglich zu machen, nur iſt ſie weſentlich gegenſätzlich beſtimmt: auf den langen Winter folgt der Frühling, wo Alles auflebt, wo ein ſaftigeres und helleres Grün, als im höheren Süden, mit luſtigen Blüthen aufſproßt und unzähliche Singvögel jauchzen. In einem Theile des Landes, das ſpäter Deutſche bewohnten, ſaßen früher Kelten. Dieſes Volk haben wir erſt zu erwähnen, wenn von dem Eindringen der Deutſchen nach Gallien, von der erſten Grundlage des franzöſiſchen Charakters zu reden iſt; wichtiger wird es in der Lehre von der Phantaſie. Die Slaven, die der Völkerwanderung nachdrängend

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/258>, abgerufen am 19.04.2024.