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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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ihre Culturformen nur im alten Römerreiche holen. Davon sogleich
mehr.

§. 357.

1

Unter Aufnahme dieser Bildungskeime erbauen die Deutschen ein Welt-
reich, das, durch einen großen Helden geschaffen, die wild gährenden Elemente
der rohen Natur auf der einen, des neuen geistigen Lebens auf der andern
Seite, beide in den Anfängen einer Gliederung begriffen, und ebenso die
2romanischen und germanischen Völker mächtig zusammenfaßt. Die Culturformen
dieser Zeit nun sind nach §. 356 römisch, aber es ist ein starrer Nachklang
des Römischen, welcher das eigenthümlich Germanische noch überdeckt. Die
Formen des Cultus sind mehr orientalisch.

1. Das Reich Carls des Großen. Die blutigen Kämpfe, durch
die es geschaffen wird, die wilden, greuelhaften Familiengeschichten der
Merowinger und Carolinger sind ein zu obscurer und unheimlicher Stoff,
um in das Gebiet des Schönen zu gehören; ein Aufflammen der heid-
nischen Natur, als wollte sie, da ihr Ende gekommen, noch einmal in
ihrer ganzen Wildheit sich zeigen. In den Anfängen einer Gliederung
nun, welche die ungezügelte Natur überwinden soll, ist allerdings sogleich
die deutsche und die romanische Seite zu unterscheiden. Die Grundlagen
eines Staats legt von deutscher Seite mit starker Hand Carl der Große.
Seine Verfassung zeigt die Anfänge des Lehnswesens, hält durch dessen
lockeren Verband das Ganze zusammen, zeichnet sich aber besonders durch
den Versuch einer Gerichtsverfassung aus, welche auf der Grundlage der
anschaulich sinnlichen Formen deutschen Gewohnheitsrechts die ästhetisch
immer vortheilhafte Form der öffentlichen Gerichte darstellt. In den
romanischen Ländern dagegen dringt mit der Sprache bald römisches
Recht mit seinen gelehrteren und todteren Formen ein. Carls Kriege sind
immer noch ein zu dunkler, zu wenig compacter Stoff, sein Sieg über
die Araber und die Niederlage durch die Basken auf der Rückkehr bei
Roncesvalles, sowie die Vasallen-Verhältnisse zu den fränkischen Großen
mußten erst von der Sage ausgeschmückt werden, ehe sie ästhetische Motive
darboten. Die Gliederung des geistigen Prinzips dagegen ging wesentlich
von Rom aus. Der römische Bischof wird zum Papste und durch den
Besitz des Kirchenstaats zum weltlichen Fürsten, Macht und Reichthum
der Bischöfe, Klöster steigt, sie bekommen den Unterricht in die Hand,
es wächst der hierarchische Bau. Jene Bekehrungen der Deutschen durch
einen Bonifazius u. And. mögen in rührenden und erhabenen Scenen
vorgestellt werden, es hat aber Alles schon pfäffischen Charakter. Die
ganze Bedeutung dieser Verwandlung des Geistigen in's Geistliche durch

ihre Culturformen nur im alten Römerreiche holen. Davon ſogleich
mehr.

§. 357.

1

Unter Aufnahme dieſer Bildungskeime erbauen die Deutſchen ein Welt-
reich, das, durch einen großen Helden geſchaffen, die wild gährenden Elemente
der rohen Natur auf der einen, des neuen geiſtigen Lebens auf der andern
Seite, beide in den Anfängen einer Gliederung begriffen, und ebenſo die
2romaniſchen und germaniſchen Völker mächtig zuſammenfaßt. Die Culturformen
dieſer Zeit nun ſind nach §. 356 römiſch, aber es iſt ein ſtarrer Nachklang
des Römiſchen, welcher das eigenthümlich Germaniſche noch überdeckt. Die
Formen des Cultus ſind mehr orientaliſch.

1. Das Reich Carls des Großen. Die blutigen Kämpfe, durch
die es geſchaffen wird, die wilden, greuelhaften Familiengeſchichten der
Merowinger und Carolinger ſind ein zu obſcurer und unheimlicher Stoff,
um in das Gebiet des Schönen zu gehören; ein Aufflammen der heid-
niſchen Natur, als wollte ſie, da ihr Ende gekommen, noch einmal in
ihrer ganzen Wildheit ſich zeigen. In den Anfängen einer Gliederung
nun, welche die ungezügelte Natur überwinden ſoll, iſt allerdings ſogleich
die deutſche und die romaniſche Seite zu unterſcheiden. Die Grundlagen
eines Staats legt von deutſcher Seite mit ſtarker Hand Carl der Große.
Seine Verfaſſung zeigt die Anfänge des Lehnsweſens, hält durch deſſen
lockeren Verband das Ganze zuſammen, zeichnet ſich aber beſonders durch
den Verſuch einer Gerichtsverfaſſung aus, welche auf der Grundlage der
anſchaulich ſinnlichen Formen deutſchen Gewohnheitsrechts die äſthetiſch
immer vortheilhafte Form der öffentlichen Gerichte darſtellt. In den
romaniſchen Ländern dagegen dringt mit der Sprache bald römiſches
Recht mit ſeinen gelehrteren und todteren Formen ein. Carls Kriege ſind
immer noch ein zu dunkler, zu wenig compacter Stoff, ſein Sieg über
die Araber und die Niederlage durch die Baſken auf der Rückkehr bei
Roncesvalles, ſowie die Vaſallen-Verhältniſſe zu den fränkiſchen Großen
mußten erſt von der Sage ausgeſchmückt werden, ehe ſie äſthetiſche Motive
darboten. Die Gliederung des geiſtigen Prinzips dagegen ging weſentlich
von Rom aus. Der römiſche Biſchof wird zum Papſte und durch den
Beſitz des Kirchenſtaats zum weltlichen Fürſten, Macht und Reichthum
der Biſchöfe, Klöſter ſteigt, ſie bekommen den Unterricht in die Hand,
es wächst der hierarchiſche Bau. Jene Bekehrungen der Deutſchen durch
einen Bonifazius u. And. mögen in rührenden und erhabenen Scenen
vorgeſtellt werden, es hat aber Alles ſchon pfäffiſchen Charakter. Die
ganze Bedeutung dieſer Verwandlung des Geiſtigen in’s Geiſtliche durch

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[252/0264] ihre Culturformen nur im alten Römerreiche holen. Davon ſogleich mehr. §. 357. Unter Aufnahme dieſer Bildungskeime erbauen die Deutſchen ein Welt- reich, das, durch einen großen Helden geſchaffen, die wild gährenden Elemente der rohen Natur auf der einen, des neuen geiſtigen Lebens auf der andern Seite, beide in den Anfängen einer Gliederung begriffen, und ebenſo die romaniſchen und germaniſchen Völker mächtig zuſammenfaßt. Die Culturformen dieſer Zeit nun ſind nach §. 356 römiſch, aber es iſt ein ſtarrer Nachklang des Römiſchen, welcher das eigenthümlich Germaniſche noch überdeckt. Die Formen des Cultus ſind mehr orientaliſch. 1. Das Reich Carls des Großen. Die blutigen Kämpfe, durch die es geſchaffen wird, die wilden, greuelhaften Familiengeſchichten der Merowinger und Carolinger ſind ein zu obſcurer und unheimlicher Stoff, um in das Gebiet des Schönen zu gehören; ein Aufflammen der heid- niſchen Natur, als wollte ſie, da ihr Ende gekommen, noch einmal in ihrer ganzen Wildheit ſich zeigen. In den Anfängen einer Gliederung nun, welche die ungezügelte Natur überwinden ſoll, iſt allerdings ſogleich die deutſche und die romaniſche Seite zu unterſcheiden. Die Grundlagen eines Staats legt von deutſcher Seite mit ſtarker Hand Carl der Große. Seine Verfaſſung zeigt die Anfänge des Lehnsweſens, hält durch deſſen lockeren Verband das Ganze zuſammen, zeichnet ſich aber beſonders durch den Verſuch einer Gerichtsverfaſſung aus, welche auf der Grundlage der anſchaulich ſinnlichen Formen deutſchen Gewohnheitsrechts die äſthetiſch immer vortheilhafte Form der öffentlichen Gerichte darſtellt. In den romaniſchen Ländern dagegen dringt mit der Sprache bald römiſches Recht mit ſeinen gelehrteren und todteren Formen ein. Carls Kriege ſind immer noch ein zu dunkler, zu wenig compacter Stoff, ſein Sieg über die Araber und die Niederlage durch die Baſken auf der Rückkehr bei Roncesvalles, ſowie die Vaſallen-Verhältniſſe zu den fränkiſchen Großen mußten erſt von der Sage ausgeſchmückt werden, ehe ſie äſthetiſche Motive darboten. Die Gliederung des geiſtigen Prinzips dagegen ging weſentlich von Rom aus. Der römiſche Biſchof wird zum Papſte und durch den Beſitz des Kirchenſtaats zum weltlichen Fürſten, Macht und Reichthum der Biſchöfe, Klöſter ſteigt, ſie bekommen den Unterricht in die Hand, es wächst der hierarchiſche Bau. Jene Bekehrungen der Deutſchen durch einen Bonifazius u. And. mögen in rührenden und erhabenen Scenen vorgeſtellt werden, es hat aber Alles ſchon pfäffiſchen Charakter. Die ganze Bedeutung dieſer Verwandlung des Geiſtigen in’s Geiſtliche durch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/264>, abgerufen am 18.04.2024.