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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Sinnliches und Geistiges in hundert Prismen hinter- und nebeneinander,
der beide zu vereinigen weiß. Die rohen Gemüther verstehen es nicht
anders. Die großen Päpste haben in ihrer Zeit ihr Recht und mächtig
ragt ein Gregor VII., ein Innozenz III., Gregor IX., Innozenz IV.,
Bonifaz VIII. Was für antike, markige, mächtig gefurchte Züge zeigt
der Kopf Innozenz IV.! Papstthum und Kaiserthum sind die zwei
Schwerter am Horizonte des Mittelalters. Von Heinrichs IV. Büßerscene
in Canossa bis zum Untergang der Hohenstaufen liegt hier eine Welt
von Stoffen. Die edeln Gestalten der Hohenstaufen und ihr tragischer
Untergang sind allerdings kein national deutscher Stoff; es ist erhebend,
daß deutsche Männer so groß waren, aber ihre Bedeutung ist allgemein
weltgeschichtlich; für Deutschland als solches dagegen zeigt sich das traurige
Schauspiel einer Vergeudung von Kräften nach außen.

§. 361.

1

Dieser Kampf wäre nicht tragisch, wenn nicht beide Seiten Recht und
Unrecht hätten. Die Kirche, selbst Welt, bedarf der Welt, und die Welt,
obwohl sie ihre Anmaßung zurückweist, ist innerlich an sie gebunden. Wirklich
gehen Welt und Kirche in Eins zusammen in den Krenzzügen, dieser
großen phantastischen That des Mittelalters, worin zugleich der Muhame-
danismus
als glänzendes Schauspiel einer neuen Form orientalischen Lebens
dem abendländischen entgegentritt. Mit der Gluth des inneren Lebens, die
nun entzündet ist, mit der innigen Weichheit, die nun mitten durch die Rohheit
geht, mit dem Geiste der Liebe und Ehre verändern sich zugleich die äußeren
2Formen; die gegenseitige Mischung bildet die abendländischen Völker, griechische
und orientalische Pracht mit den mancherlei Resten der objectiven Lebensform
bei den romanischen Völkern schmücken das ritterliche Leben.

1. Die Kreuzzüge sind das Symptom, daß der neue Geist der Welt
die Gemüther der Menschen durchdrungen hat. Daß diese Durchdringung
selbst wieder mit der ganzen Aeußerlichkeit und Verwechslung behaftet ist,
welche das Mittelalter bezeichnet, ist darum nicht zu übersehen, denn
auch hier tritt neben glühenden Schwung der Andacht die roheste Metzelei
und Ausschweifung, ja die ganze Unternehmung ist die abentheuerlichste
Verwechslung einer Idee mit einer Seche, eines Geistes mit einem
Orte, die Spitze des Reliquiendienstes (vergl. Hegel, Philos. der Gesch.
S. 397. 398). Indem aber nun die Cardinal-Leidenschaft und Tugend
des Heroenlebens der Völker und namentlich des deutschen aus der
geraden Linie gebogen ist, worin sie für reale Güter als ein Instinct
thätig war, indem sie auf einen transscendenten Zweck sich wirft, ist das

Sinnliches und Geiſtiges in hundert Priſmen hinter- und nebeneinander,
der beide zu vereinigen weiß. Die rohen Gemüther verſtehen es nicht
anders. Die großen Päpſte haben in ihrer Zeit ihr Recht und mächtig
ragt ein Gregor VII., ein Innozenz III., Gregor IX., Innozenz IV.,
Bonifaz VIII. Was für antike, markige, mächtig gefurchte Züge zeigt
der Kopf Innozenz IV.! Papſtthum und Kaiſerthum ſind die zwei
Schwerter am Horizonte des Mittelalters. Von Heinrichs IV. Büßerſcene
in Canoſſa bis zum Untergang der Hohenſtaufen liegt hier eine Welt
von Stoffen. Die edeln Geſtalten der Hohenſtaufen und ihr tragiſcher
Untergang ſind allerdings kein national deutſcher Stoff; es iſt erhebend,
daß deutſche Männer ſo groß waren, aber ihre Bedeutung iſt allgemein
weltgeſchichtlich; für Deutſchland als ſolches dagegen zeigt ſich das traurige
Schauſpiel einer Vergeudung von Kräften nach außen.

§. 361.

1

Dieſer Kampf wäre nicht tragiſch, wenn nicht beide Seiten Recht und
Unrecht hätten. Die Kirche, ſelbſt Welt, bedarf der Welt, und die Welt,
obwohl ſie ihre Anmaßung zurückweist, iſt innerlich an ſie gebunden. Wirklich
gehen Welt und Kirche in Eins zuſammen in den Krenzzügen, dieſer
großen phantaſtiſchen That des Mittelalters, worin zugleich der Muhame-
daniſmus
als glänzendes Schauſpiel einer neuen Form orientaliſchen Lebens
dem abendländiſchen entgegentritt. Mit der Gluth des inneren Lebens, die
nun entzündet iſt, mit der innigen Weichheit, die nun mitten durch die Rohheit
geht, mit dem Geiſte der Liebe und Ehre verändern ſich zugleich die äußeren
2Formen; die gegenſeitige Miſchung bildet die abendländiſchen Völker, griechiſche
und orientaliſche Pracht mit den mancherlei Reſten der objectiven Lebensform
bei den romaniſchen Völkern ſchmücken das ritterliche Leben.

1. Die Kreuzzüge ſind das Symptom, daß der neue Geiſt der Welt
die Gemüther der Menſchen durchdrungen hat. Daß dieſe Durchdringung
ſelbſt wieder mit der ganzen Aeußerlichkeit und Verwechslung behaftet iſt,
welche das Mittelalter bezeichnet, iſt darum nicht zu überſehen, denn
auch hier tritt neben glühenden Schwung der Andacht die roheſte Metzelei
und Ausſchweifung, ja die ganze Unternehmung iſt die abentheuerlichſte
Verwechslung einer Idee mit einer Seche, eines Geiſtes mit einem
Orte, die Spitze des Reliquiendienſtes (vergl. Hegel, Philoſ. der Geſch.
S. 397. 398). Indem aber nun die Cardinal-Leidenſchaft und Tugend
des Heroenlebens der Völker und namentlich des deutſchen aus der
geraden Linie gebogen iſt, worin ſie für reale Güter als ein Inſtinct
thätig war, indem ſie auf einen transſcendenten Zweck ſich wirft, iſt das

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[258/0270] Sinnliches und Geiſtiges in hundert Priſmen hinter- und nebeneinander, der beide zu vereinigen weiß. Die rohen Gemüther verſtehen es nicht anders. Die großen Päpſte haben in ihrer Zeit ihr Recht und mächtig ragt ein Gregor VII., ein Innozenz III., Gregor IX., Innozenz IV., Bonifaz VIII. Was für antike, markige, mächtig gefurchte Züge zeigt der Kopf Innozenz IV.! Papſtthum und Kaiſerthum ſind die zwei Schwerter am Horizonte des Mittelalters. Von Heinrichs IV. Büßerſcene in Canoſſa bis zum Untergang der Hohenſtaufen liegt hier eine Welt von Stoffen. Die edeln Geſtalten der Hohenſtaufen und ihr tragiſcher Untergang ſind allerdings kein national deutſcher Stoff; es iſt erhebend, daß deutſche Männer ſo groß waren, aber ihre Bedeutung iſt allgemein weltgeſchichtlich; für Deutſchland als ſolches dagegen zeigt ſich das traurige Schauſpiel einer Vergeudung von Kräften nach außen. §. 361. Dieſer Kampf wäre nicht tragiſch, wenn nicht beide Seiten Recht und Unrecht hätten. Die Kirche, ſelbſt Welt, bedarf der Welt, und die Welt, obwohl ſie ihre Anmaßung zurückweist, iſt innerlich an ſie gebunden. Wirklich gehen Welt und Kirche in Eins zuſammen in den Krenzzügen, dieſer großen phantaſtiſchen That des Mittelalters, worin zugleich der Muhame- daniſmus als glänzendes Schauſpiel einer neuen Form orientaliſchen Lebens dem abendländiſchen entgegentritt. Mit der Gluth des inneren Lebens, die nun entzündet iſt, mit der innigen Weichheit, die nun mitten durch die Rohheit geht, mit dem Geiſte der Liebe und Ehre verändern ſich zugleich die äußeren Formen; die gegenſeitige Miſchung bildet die abendländiſchen Völker, griechiſche und orientaliſche Pracht mit den mancherlei Reſten der objectiven Lebensform bei den romaniſchen Völkern ſchmücken das ritterliche Leben. 1. Die Kreuzzüge ſind das Symptom, daß der neue Geiſt der Welt die Gemüther der Menſchen durchdrungen hat. Daß dieſe Durchdringung ſelbſt wieder mit der ganzen Aeußerlichkeit und Verwechslung behaftet iſt, welche das Mittelalter bezeichnet, iſt darum nicht zu überſehen, denn auch hier tritt neben glühenden Schwung der Andacht die roheſte Metzelei und Ausſchweifung, ja die ganze Unternehmung iſt die abentheuerlichſte Verwechslung einer Idee mit einer Seche, eines Geiſtes mit einem Orte, die Spitze des Reliquiendienſtes (vergl. Hegel, Philoſ. der Geſch. S. 397. 398). Indem aber nun die Cardinal-Leidenſchaft und Tugend des Heroenlebens der Völker und namentlich des deutſchen aus der geraden Linie gebogen iſt, worin ſie für reale Güter als ein Inſtinct thätig war, indem ſie auf einen transſcendenten Zweck ſich wirft, iſt das

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/270>, abgerufen am 18.04.2024.