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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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von Unterdrückung der freien Regung ausgeht, der prosaische Zustand
des Lebens.

§. 363.

1

In der Kirche herrschte schon vorher strenge Monarchie, jetzt wird bei
wachsender Verweltlichung und Entsittlichung das Moment der geistigen All-
gemeinheit in Orden, Spaltungen, Kirchenversammlungen, das der freien
2Subjectivität in Sekten und Individuen thätig. In der Form des Gedankens
erhebt sich das Allgemeine als Wissenschaft, Universitäten werden geistige
Republiken und die erneute Kenntniß des Alterthums erschließt dem zerrissenen
Abendlande wieder das verlorene Bild der objectiven Lebensform des Alter-
thums in ihrer Wahrheit und Totalität.

1. Das innere Sinken des Papstthums liefert in dem verwilderten
Zustande des Kirchenstaats, in den Ränken und Ausschweifungen der
Päpste, zuletzt namentlich in den Gräueln der Familie Borgia furchtbare
Bilder des Bösen, der sittlichen Fäulniß. Die Mönchsorden fallen aller-
dings noch in's strenge Mittelalter, da sie nach der einen Seite die
Kriegsheere des Papstes sind, aber sie traten auch reformatorisch auf.
Luther selbst war Mönch. Sie geben reichen Stoff und haben ihre
Blüthe in Franz von Assisi, in welchem die entzündete Gluth des neuen
inneren Lebens ganz zum Visionären und Somnambülen ausschlägt.
Freilich ist hier immer zu unterscheiden, für welche Zeit solche Stoffe
Stoffe sind. Die neuere wird sich bei mönchischen Stoffen entweder an
die komische Seite, wozu ihr der heilige Müssiggang das Material gibt
(epistolae obscurorum virorum), oder an die ernsten Zeichen und Vor-
boten eines neuen geistigen Lebens halten und die Kirchengeschichte wird
nur in den Momenten eine Quelle von ästhetischen Gegenständen für sie
sein, in welchen die Kirche mit der Welt kämpft oder in ihrem eigenen
Schooße Keime der Brechung ihrer nur für ein gewisses Zeitalter berech-
tigten Gewalt entwickelt. Daher täuscht man sich, wenn man in den
mancherlei malerischen, im Ausdruck andächtigen, ekstatischen Formen des
Mönchslebens an sich etwas Tüchtiges zu haben meint und das Aller-
schlimmste ist, das Erstorbene, das man aus ästhetischen Gründen liebt,
wieder geschichtlich wahr machen zu wollen. Reformatorische Männer wie
Arnold von Brescia, Savonarola, Wikleff, Huß -- (Lessings Gemälde) --,
namentlich wenn ihr Bestreben auch politisch wirkt, noch mehr, wenn sie
tragisch endigen, dieß sind edle Stoffe. Einen vielköpfigeren Feind hatte
die Ketzerverfolgung an den Sekten, in welchen, obwohl eben durch
die Verfolgung zu trüber Schwärmerei erhitzt, die Freiheit des geistigen
Prinzips frühe zum Durchbruch kam. Ihre Schicksale liefern zum Theil

von Unterdrückung der freien Regung ausgeht, der proſaiſche Zuſtand
des Lebens.

§. 363.

1

In der Kirche herrſchte ſchon vorher ſtrenge Monarchie, jetzt wird bei
wachſender Verweltlichung und Entſittlichung das Moment der geiſtigen All-
gemeinheit in Orden, Spaltungen, Kirchenverſammlungen, das der freien
2Subjectivität in Sekten und Individuen thätig. In der Form des Gedankens
erhebt ſich das Allgemeine als Wiſſenſchaft, Univerſitäten werden geiſtige
Republiken und die erneute Kenntniß des Alterthums erſchließt dem zerriſſenen
Abendlande wieder das verlorene Bild der objectiven Lebensform des Alter-
thums in ihrer Wahrheit und Totalität.

1. Das innere Sinken des Papſtthums liefert in dem verwilderten
Zuſtande des Kirchenſtaats, in den Ränken und Ausſchweifungen der
Päpſte, zuletzt namentlich in den Gräueln der Familie Borgia furchtbare
Bilder des Böſen, der ſittlichen Fäulniß. Die Mönchsorden fallen aller-
dings noch in’s ſtrenge Mittelalter, da ſie nach der einen Seite die
Kriegsheere des Papſtes ſind, aber ſie traten auch reformatoriſch auf.
Luther ſelbſt war Mönch. Sie geben reichen Stoff und haben ihre
Blüthe in Franz von Aſſiſi, in welchem die entzündete Gluth des neuen
inneren Lebens ganz zum Viſionären und Somnambülen ausſchlägt.
Freilich iſt hier immer zu unterſcheiden, für welche Zeit ſolche Stoffe
Stoffe ſind. Die neuere wird ſich bei mönchiſchen Stoffen entweder an
die komiſche Seite, wozu ihr der heilige Müſſiggang das Material gibt
(epistolae obscurorum virorum), oder an die ernſten Zeichen und Vor-
boten eines neuen geiſtigen Lebens halten und die Kirchengeſchichte wird
nur in den Momenten eine Quelle von äſthetiſchen Gegenſtänden für ſie
ſein, in welchen die Kirche mit der Welt kämpft oder in ihrem eigenen
Schooße Keime der Brechung ihrer nur für ein gewiſſes Zeitalter berech-
tigten Gewalt entwickelt. Daher täuſcht man ſich, wenn man in den
mancherlei maleriſchen, im Ausdruck andächtigen, ekſtatiſchen Formen des
Mönchslebens an ſich etwas Tüchtiges zu haben meint und das Aller-
ſchlimmſte iſt, das Erſtorbene, das man aus äſthetiſchen Gründen liebt,
wieder geſchichtlich wahr machen zu wollen. Reformatoriſche Männer wie
Arnold von Brescia, Savonarola, Wikleff, Huß — (Leſſings Gemälde) —,
namentlich wenn ihr Beſtreben auch politiſch wirkt, noch mehr, wenn ſie
tragiſch endigen, dieß ſind edle Stoffe. Einen vielköpfigeren Feind hatte
die Ketzerverfolgung an den Sekten, in welchen, obwohl eben durch
die Verfolgung zu trüber Schwärmerei erhitzt, die Freiheit des geiſtigen
Prinzips frühe zum Durchbruch kam. Ihre Schickſale liefern zum Theil

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[264/0276] von Unterdrückung der freien Regung ausgeht, der proſaiſche Zuſtand des Lebens. §. 363. In der Kirche herrſchte ſchon vorher ſtrenge Monarchie, jetzt wird bei wachſender Verweltlichung und Entſittlichung das Moment der geiſtigen All- gemeinheit in Orden, Spaltungen, Kirchenverſammlungen, das der freien Subjectivität in Sekten und Individuen thätig. In der Form des Gedankens erhebt ſich das Allgemeine als Wiſſenſchaft, Univerſitäten werden geiſtige Republiken und die erneute Kenntniß des Alterthums erſchließt dem zerriſſenen Abendlande wieder das verlorene Bild der objectiven Lebensform des Alter- thums in ihrer Wahrheit und Totalität. 1. Das innere Sinken des Papſtthums liefert in dem verwilderten Zuſtande des Kirchenſtaats, in den Ränken und Ausſchweifungen der Päpſte, zuletzt namentlich in den Gräueln der Familie Borgia furchtbare Bilder des Böſen, der ſittlichen Fäulniß. Die Mönchsorden fallen aller- dings noch in’s ſtrenge Mittelalter, da ſie nach der einen Seite die Kriegsheere des Papſtes ſind, aber ſie traten auch reformatoriſch auf. Luther ſelbſt war Mönch. Sie geben reichen Stoff und haben ihre Blüthe in Franz von Aſſiſi, in welchem die entzündete Gluth des neuen inneren Lebens ganz zum Viſionären und Somnambülen ausſchlägt. Freilich iſt hier immer zu unterſcheiden, für welche Zeit ſolche Stoffe Stoffe ſind. Die neuere wird ſich bei mönchiſchen Stoffen entweder an die komiſche Seite, wozu ihr der heilige Müſſiggang das Material gibt (epistolae obscurorum virorum), oder an die ernſten Zeichen und Vor- boten eines neuen geiſtigen Lebens halten und die Kirchengeſchichte wird nur in den Momenten eine Quelle von äſthetiſchen Gegenſtänden für ſie ſein, in welchen die Kirche mit der Welt kämpft oder in ihrem eigenen Schooße Keime der Brechung ihrer nur für ein gewiſſes Zeitalter berech- tigten Gewalt entwickelt. Daher täuſcht man ſich, wenn man in den mancherlei maleriſchen, im Ausdruck andächtigen, ekſtatiſchen Formen des Mönchslebens an ſich etwas Tüchtiges zu haben meint und das Aller- ſchlimmſte iſt, das Erſtorbene, das man aus äſthetiſchen Gründen liebt, wieder geſchichtlich wahr machen zu wollen. Reformatoriſche Männer wie Arnold von Brescia, Savonarola, Wikleff, Huß — (Leſſings Gemälde) —, namentlich wenn ihr Beſtreben auch politiſch wirkt, noch mehr, wenn ſie tragiſch endigen, dieß ſind edle Stoffe. Einen vielköpfigeren Feind hatte die Ketzerverfolgung an den Sekten, in welchen, obwohl eben durch die Verfolgung zu trüber Schwärmerei erhitzt, die Freiheit des geiſtigen Prinzips frühe zum Durchbruch kam. Ihre Schickſale liefern zum Theil

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/276>, abgerufen am 23.04.2024.