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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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g.
Die neue Zeit.
§. 365.

1

Die Aufgabe der neuen Welt ist die Verwirklichung der wahren Freiheit
aus der Einsicht. Darin ist enthalten, daß die Subjectivität wahrhaft in sich
zurück und wahrhaft in die Objectivität eingeführt, und ebenso, daß die Indivi-
dualität als lebendiges Glied eines vernünftigen und verbürgten Organismus
gesetzt werden soll. Beides ist bis jetzt unvollkommen geleistet. Das Subject
ist innerlich frei, hat aber keine wahre Objectivität, das Allgemeine herrscht,
2aber über unlebendige Individuen. Alle Formen werden abstract und daher
unästhetisch; in der ganzen Sphäre des Zweckmäßigen und Angenehmen waltet
eine Bewegung, worin jeder Fortschritt der Cultur ein Rückschritt der Schönheit
ist; die Verwirklichung jener Aufgabe erst verspricht eine günstige Veränderung
auch in diesem Gebiete der Erscheinung.

1. Es sind hier im Wesen der Freiheit, wie die moderne Zeit aus
dem Gedanken sie verwirklichen soll, die zwei Seiten unterschieden, die wir
auch bisher auseinanderhielten; man kann die Sache kurz so ausdrücken:
die eine Seite ist ein Bildungs-, die andere ein Staatsverhältniß. Aller-
dings fallen beide im Innersten zusammen, denn der Mensch von objectiver
Bildung ist ein öffentliches Wesen und läßt sich als Individuum im
Staate nicht wie Leder behandeln, und umgekehrt, das politisch lebendige
Individuum hat den Naturton, die volle Ausladung der Objectivität.
Beide Seiten können sich jedoch auch ungleich verhalten. Die objective
Bildung kann bis an eine Grenze, nämlich innerhalb des Kreises des
Privatlebens, gelungen, die Persönlichkeit ausgerundet, Natur und Geist
in ihr harmonisch, aber im weiteren Kreise das Individuum noch politisch
todt sein. Dieß werden wir eintreten sehen. Die ganze Aufgabe ist nun
im geschichtlichen Rückblick so zu fassen: die Principien des Alterthums
und des Mittelalters sollen versöhnt, das Ebenmaß des Alterthums,
das durch die Innerlichkeit und Negativität des Christenthums und des
germanischen Charakters gebrochen ist, soll wiederhergestellt werden, die
Tiefe der Innerlichkeit und der Individualität soll als Bürgschaft eines
dauerhafteren Zustands erhalten bleiben, aber diese Tiefe soll, zum Gedanken
erhoben, sich selbst ihre wahre Wirklichkeit, Naturfülle der persönlichen
Erscheinung, politisch freies Leben der Individualität geben. Es sollen
folgende Reihen entstehen: Naturbildung (Alterthum), Bruch mit der

γ.
Die neue Zeit.
§. 365.

1

Die Aufgabe der neuen Welt iſt die Verwirklichung der wahren Freiheit
aus der Einſicht. Darin iſt enthalten, daß die Subjectivität wahrhaft in ſich
zurück und wahrhaft in die Objectivität eingeführt, und ebenſo, daß die Indivi-
dualität als lebendiges Glied eines vernünftigen und verbürgten Organiſmus
geſetzt werden ſoll. Beides iſt bis jetzt unvollkommen geleiſtet. Das Subject
iſt innerlich frei, hat aber keine wahre Objectivität, das Allgemeine herrſcht,
2aber über unlebendige Individuen. Alle Formen werden abſtract und daher
unäſthetiſch; in der ganzen Sphäre des Zweckmäßigen und Angenehmen waltet
eine Bewegung, worin jeder Fortſchritt der Cultur ein Rückſchritt der Schönheit
iſt; die Verwirklichung jener Aufgabe erſt verſpricht eine günſtige Veränderung
auch in dieſem Gebiete der Erſcheinung.

1. Es ſind hier im Weſen der Freiheit, wie die moderne Zeit aus
dem Gedanken ſie verwirklichen ſoll, die zwei Seiten unterſchieden, die wir
auch bisher auseinanderhielten; man kann die Sache kurz ſo ausdrücken:
die eine Seite iſt ein Bildungs-, die andere ein Staatsverhältniß. Aller-
dings fallen beide im Innerſten zuſammen, denn der Menſch von objectiver
Bildung iſt ein öffentliches Weſen und läßt ſich als Individuum im
Staate nicht wie Leder behandeln, und umgekehrt, das politiſch lebendige
Individuum hat den Naturton, die volle Ausladung der Objectivität.
Beide Seiten können ſich jedoch auch ungleich verhalten. Die objective
Bildung kann bis an eine Grenze, nämlich innerhalb des Kreiſes des
Privatlebens, gelungen, die Perſönlichkeit ausgerundet, Natur und Geiſt
in ihr harmoniſch, aber im weiteren Kreiſe das Individuum noch politiſch
todt ſein. Dieß werden wir eintreten ſehen. Die ganze Aufgabe iſt nun
im geſchichtlichen Rückblick ſo zu faſſen: die Principien des Alterthums
und des Mittelalters ſollen verſöhnt, das Ebenmaß des Alterthums,
das durch die Innerlichkeit und Negativität des Chriſtenthums und des
germaniſchen Charakters gebrochen iſt, ſoll wiederhergeſtellt werden, die
Tiefe der Innerlichkeit und der Individualität ſoll als Bürgſchaft eines
dauerhafteren Zuſtands erhalten bleiben, aber dieſe Tiefe ſoll, zum Gedanken
erhoben, ſich ſelbſt ihre wahre Wirklichkeit, Naturfülle der perſönlichen
Erſcheinung, politiſch freies Leben der Individualität geben. Es ſollen
folgende Reihen entſtehen: Naturbildung (Alterthum), Bruch mit der

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[268/0280] γ. Die neue Zeit. §. 365. Die Aufgabe der neuen Welt iſt die Verwirklichung der wahren Freiheit aus der Einſicht. Darin iſt enthalten, daß die Subjectivität wahrhaft in ſich zurück und wahrhaft in die Objectivität eingeführt, und ebenſo, daß die Indivi- dualität als lebendiges Glied eines vernünftigen und verbürgten Organiſmus geſetzt werden ſoll. Beides iſt bis jetzt unvollkommen geleiſtet. Das Subject iſt innerlich frei, hat aber keine wahre Objectivität, das Allgemeine herrſcht, aber über unlebendige Individuen. Alle Formen werden abſtract und daher unäſthetiſch; in der ganzen Sphäre des Zweckmäßigen und Angenehmen waltet eine Bewegung, worin jeder Fortſchritt der Cultur ein Rückſchritt der Schönheit iſt; die Verwirklichung jener Aufgabe erſt verſpricht eine günſtige Veränderung auch in dieſem Gebiete der Erſcheinung. 1. Es ſind hier im Weſen der Freiheit, wie die moderne Zeit aus dem Gedanken ſie verwirklichen ſoll, die zwei Seiten unterſchieden, die wir auch bisher auseinanderhielten; man kann die Sache kurz ſo ausdrücken: die eine Seite iſt ein Bildungs-, die andere ein Staatsverhältniß. Aller- dings fallen beide im Innerſten zuſammen, denn der Menſch von objectiver Bildung iſt ein öffentliches Weſen und läßt ſich als Individuum im Staate nicht wie Leder behandeln, und umgekehrt, das politiſch lebendige Individuum hat den Naturton, die volle Ausladung der Objectivität. Beide Seiten können ſich jedoch auch ungleich verhalten. Die objective Bildung kann bis an eine Grenze, nämlich innerhalb des Kreiſes des Privatlebens, gelungen, die Perſönlichkeit ausgerundet, Natur und Geiſt in ihr harmoniſch, aber im weiteren Kreiſe das Individuum noch politiſch todt ſein. Dieß werden wir eintreten ſehen. Die ganze Aufgabe iſt nun im geſchichtlichen Rückblick ſo zu faſſen: die Principien des Alterthums und des Mittelalters ſollen verſöhnt, das Ebenmaß des Alterthums, das durch die Innerlichkeit und Negativität des Chriſtenthums und des germaniſchen Charakters gebrochen iſt, ſoll wiederhergeſtellt werden, die Tiefe der Innerlichkeit und der Individualität ſoll als Bürgſchaft eines dauerhafteren Zuſtands erhalten bleiben, aber dieſe Tiefe ſoll, zum Gedanken erhoben, ſich ſelbſt ihre wahre Wirklichkeit, Naturfülle der perſönlichen Erſcheinung, politiſch freies Leben der Individualität geben. Es ſollen folgende Reihen entſtehen: Naturbildung (Alterthum), Bruch mit der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/280>, abgerufen am 25.04.2024.