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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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zu einer weiten, schlappigen Schüssel aus. Was die Waffen betrifft, so
war zwar durch das Pulver die Rüstung nutzlos geworden, aber erst im
Verlaufe des dreißigjährigen Krieges sah man dieß ein und beschränkte
die prachtvollen Rüstungen, mit denen der Adel noch am Ende des sech-
zehnten Jahrhunderts dem Feuerrohr als der verachteten Waffe des Fuß-
volks vergeblich getrotzt hatte, allmählich auf Sturmhaube und Harnisch.
Die ganze Bewaffnung erscheint aber noch schwer und massig, wie denn
die Muskete selbst noch so gewichtig ist, daß sie auf einem Gabelstock
aufgelegt werden muß. Gustav Adolph schaffte jedoch diesen ab und
führte größere Leichtigkeit der Bewaffnung, Massenbewegung, des ganzen
Manövers ein, wogegen das kaiserliche Kriegswesen noch recht den alter-
thümlich schweren Typus hatte, von dem schon allein jene Batterieen, wo
20 bis 25 Pferde an einer Kanone zogen, ein Bild geben. -- In der
künstlerischen Behandlung der Umgebungen des Menschen, die uns hier
nicht als Kunstthätigkeit, sondern als Ausdruck und Sittenbild der Zeit
beschäftigt, dringt der bekannte Styl der renaissance ein. Das Gerad-
linigte und ruhig Harmonische antiker Formen, entsprechend dem Rationellen
und Lichten in der neuen Weltanschauung, verbindet sich mit nicht auf-
gegebenen Formen des phantasievoll Mystischen und Helldunkeln, was im
Gothischen liegt; die bewegte, leidenschaftliche Zeit schafft zugleich statt der
alten Ornamente neue kecke Krümmungen, ladet aus, rollt und ruht nicht,
bis der Rokoko aus der renaissance geboren ist.

Mitte.
§. 370.

Die Mitte dieses Zeitraums beginnt mit der Durchführung einer großen1
Wirkung und der durch sie hervorgerufenen Gegenwirkung. Die Wirkung, die
sich zuerst in ihrer Breite entwickelt, ist der verständige Egoismus, der als
Monarchie in der auf's Neue verstörten Welt Ordnung und Einheit schafft,
indem er das (§. 362, 2) angefangene Werk vollbringt, aber auch durch Mißtrauen,
Zwang und Mechanismus die Freiheit ertödtet. Das Volksleben wird erdrückt,
die Geschichte spielt an den Höfen. Doch ist die Einzwängung noch nicht2
vollendet; die Stände sind noch lebendig ausgeprägt, es ist noch Luft genug für
verwegene Individuen, die im Kampfe mit der neuen Ordnung auf Aben-
theuer gehen. Dieser neue Zustand ist nach dem Vorgange Spaniens vorzüglich
französisches Werk.

1. Die Monarchie und die Revolution sind der gegensätzliche Aus-
gangspunkt einer noch nicht geschlossenen Weltperiode. Wir nennen sie

zu einer weiten, ſchlappigen Schüſſel aus. Was die Waffen betrifft, ſo
war zwar durch das Pulver die Rüſtung nutzlos geworden, aber erſt im
Verlaufe des dreißigjährigen Krieges ſah man dieß ein und beſchränkte
die prachtvollen Rüſtungen, mit denen der Adel noch am Ende des ſech-
zehnten Jahrhunderts dem Feuerrohr als der verachteten Waffe des Fuß-
volks vergeblich getrotzt hatte, allmählich auf Sturmhaube und Harniſch.
Die ganze Bewaffnung erſcheint aber noch ſchwer und maſſig, wie denn
die Muskete ſelbſt noch ſo gewichtig iſt, daß ſie auf einem Gabelſtock
aufgelegt werden muß. Guſtav Adolph ſchaffte jedoch dieſen ab und
führte größere Leichtigkeit der Bewaffnung, Maſſenbewegung, des ganzen
Manövers ein, wogegen das kaiſerliche Kriegsweſen noch recht den alter-
thümlich ſchweren Typus hatte, von dem ſchon allein jene Batterieen, wo
20 bis 25 Pferde an einer Kanone zogen, ein Bild geben. — In der
künſtleriſchen Behandlung der Umgebungen des Menſchen, die uns hier
nicht als Kunſtthätigkeit, ſondern als Ausdruck und Sittenbild der Zeit
beſchäftigt, dringt der bekannte Styl der renaissance ein. Das Gerad-
linigte und ruhig Harmoniſche antiker Formen, entſprechend dem Rationellen
und Lichten in der neuen Weltanſchauung, verbindet ſich mit nicht auf-
gegebenen Formen des phantaſievoll Myſtiſchen und Helldunkeln, was im
Gothiſchen liegt; die bewegte, leidenſchaftliche Zeit ſchafft zugleich ſtatt der
alten Ornamente neue kecke Krümmungen, ladet aus, rollt und ruht nicht,
bis der Rokoko aus der renaissance geboren iſt.

Mitte.
§. 370.

Die Mitte dieſes Zeitraums beginnt mit der Durchführung einer großen1
Wirkung und der durch ſie hervorgerufenen Gegenwirkung. Die Wirkung, die
ſich zuerſt in ihrer Breite entwickelt, iſt der verſtändige Egoismus, der als
Monarchie in der auf’s Neue verſtörten Welt Ordnung und Einheit ſchafft,
indem er das (§. 362, 2) angefangene Werk vollbringt, aber auch durch Mißtrauen,
Zwang und Mechaniſmus die Freiheit ertödtet. Das Volksleben wird erdrückt,
die Geſchichte ſpielt an den Höfen. Doch iſt die Einzwängung noch nicht2
vollendet; die Stände ſind noch lebendig ausgeprägt, es iſt noch Luft genug für
verwegene Individuen, die im Kampfe mit der neuen Ordnung auf Aben-
theuer gehen. Dieſer neue Zuſtand iſt nach dem Vorgange Spaniens vorzüglich
franzöſiſches Werk.

1. Die Monarchie und die Revolution ſind der gegenſätzliche Aus-
gangspunkt einer noch nicht geſchloſſenen Weltperiode. Wir nennen ſie

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[279/0291] zu einer weiten, ſchlappigen Schüſſel aus. Was die Waffen betrifft, ſo war zwar durch das Pulver die Rüſtung nutzlos geworden, aber erſt im Verlaufe des dreißigjährigen Krieges ſah man dieß ein und beſchränkte die prachtvollen Rüſtungen, mit denen der Adel noch am Ende des ſech- zehnten Jahrhunderts dem Feuerrohr als der verachteten Waffe des Fuß- volks vergeblich getrotzt hatte, allmählich auf Sturmhaube und Harniſch. Die ganze Bewaffnung erſcheint aber noch ſchwer und maſſig, wie denn die Muskete ſelbſt noch ſo gewichtig iſt, daß ſie auf einem Gabelſtock aufgelegt werden muß. Guſtav Adolph ſchaffte jedoch dieſen ab und führte größere Leichtigkeit der Bewaffnung, Maſſenbewegung, des ganzen Manövers ein, wogegen das kaiſerliche Kriegsweſen noch recht den alter- thümlich ſchweren Typus hatte, von dem ſchon allein jene Batterieen, wo 20 bis 25 Pferde an einer Kanone zogen, ein Bild geben. — In der künſtleriſchen Behandlung der Umgebungen des Menſchen, die uns hier nicht als Kunſtthätigkeit, ſondern als Ausdruck und Sittenbild der Zeit beſchäftigt, dringt der bekannte Styl der renaissance ein. Das Gerad- linigte und ruhig Harmoniſche antiker Formen, entſprechend dem Rationellen und Lichten in der neuen Weltanſchauung, verbindet ſich mit nicht auf- gegebenen Formen des phantaſievoll Myſtiſchen und Helldunkeln, was im Gothiſchen liegt; die bewegte, leidenſchaftliche Zeit ſchafft zugleich ſtatt der alten Ornamente neue kecke Krümmungen, ladet aus, rollt und ruht nicht, bis der Rokoko aus der renaissance geboren iſt. Mitte. §. 370. Die Mitte dieſes Zeitraums beginnt mit der Durchführung einer großen Wirkung und der durch ſie hervorgerufenen Gegenwirkung. Die Wirkung, die ſich zuerſt in ihrer Breite entwickelt, iſt der verſtändige Egoismus, der als Monarchie in der auf’s Neue verſtörten Welt Ordnung und Einheit ſchafft, indem er das (§. 362, 2) angefangene Werk vollbringt, aber auch durch Mißtrauen, Zwang und Mechaniſmus die Freiheit ertödtet. Das Volksleben wird erdrückt, die Geſchichte ſpielt an den Höfen. Doch iſt die Einzwängung noch nicht vollendet; die Stände ſind noch lebendig ausgeprägt, es iſt noch Luft genug für verwegene Individuen, die im Kampfe mit der neuen Ordnung auf Aben- theuer gehen. Dieſer neue Zuſtand iſt nach dem Vorgange Spaniens vorzüglich franzöſiſches Werk. 1. Die Monarchie und die Revolution ſind der gegenſätzliche Aus- gangspunkt einer noch nicht geſchloſſenen Weltperiode. Wir nennen ſie

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/291>, abgerufen am 19.04.2024.