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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Ausdruck gebundener Freßgier seiner Gestalt aufgedrückt bleibt. Der Gefühlssinn
ist theils über das Ganze verbreitet, theils concentrirt er sich in einem Organe
des Kopfs oder denen der Bewegung. Die übrigen Sinnes-Organe sind paar-
weise symmetrisch am Kopfe und ebenso die Bewegungs-Organe am Leibe vertheilt.
Die Gestalt ist daher ungleich bestimmter, als die der Pflanze, die Organe sind
gezählt, das Ganze eine in sich beschlossene und gesättigte, in Gemessenheit
abgerundete Gestalt.

Alle Thiere sehen aus wie ein lebendig gewordener Schnapp- und
Freß-Zweck. Dieß hat zwar seine Grade; das Thier steht um so höher,
je weniger der Kopf mit dem Rumpfe in horizontaler Linie fortgeht und
je mehr der Kiefer zurücktritt, die Stirne sich hervorwölbt, aber ganz
werden wir diese pronitas erst in der menschlichen Gestalt überwunden sehen.

Der Gefühlssinn ist über die ganze Haut verbreitet und sammelt sich
in besonderen Organen zum Tastsinne. Nur der Affe ist es eigentlich,
der diesen im Finger hat, bei den meisten übernehmen Lippe und Nase
seine Rolle, bei einigen tritt als besonderes, für ihn hauptsächlich bestimmtes
Organ, der Rüßel hervor, bei niedrigeren Thieren Fühlfäden, Fühlhörner.
Das Entzweiungsgesetz tritt entschiedener in den übrigen Sinnen als
paarweise gegenüberstellende symmetrische Seiten-Anordnung hervor. Der
Geschmack zwar hat nur Ein, die Mitte der Mundhöhle einnehmendes
Organ, die Zunge; die Zähne jedoch, die ihm in die Hand arbeiten, sind
symmetrisch geordnet, die Nase hat zwei Löcher oder Flügel, die Ohren,
die Augen stehen sich paarweise gegenüber, ebenso Floßen, Flügel, Füße.
Der Gegensatz gegen die zerstreute Pflanze vollendet sich darin und nehmen
wir die durchblickende Basis des Knochengerüstes, die plastischen Muskel-
lagen, welche die Wölbungen der Haut bedingen, dazu, so haben wir ein
gediegenes Ganzes vor uns, ein fest begrenztes und seine Grenze satt
ausfüllendes, gegossenes Wesen.

Auch von der Farbe sollte hier vielleicht die Rede sein, allein was
hierüber in Kurzem zu sagen ist, wird besser bei den verschiedenen Haupt-
stufen angegeben, wo sich zeigen wird, in welchem Sinne die Farbe sich
mit ihnen steigert. Einiges ist schon im Abschnitte von der Farbe berührt.

§. 287.

1

Es könnte jedoch scheinen, als ob hiedurch die Thiergestalt in krystallische
Regelmäßigkeit verfalle. Allein das Starre, was dadurch entstünde, wird durch
den theils über das Ganze stetig ergossenen, theils im Spiele der wirklichen
Bewegung sich darstellenden Ausdruck der inneren, beseelten Lebendigkeit in
ungleich anderem Sinne, als durch die unbestimmte Vielheit der Pflanzen-

Ausdruck gebundener Freßgier ſeiner Geſtalt aufgedrückt bleibt. Der Gefühlsſinn
iſt theils über das Ganze verbreitet, theils concentrirt er ſich in einem Organe
des Kopfs oder denen der Bewegung. Die übrigen Sinnes-Organe ſind paar-
weiſe ſymmetriſch am Kopfe und ebenſo die Bewegungs-Organe am Leibe vertheilt.
Die Geſtalt iſt daher ungleich beſtimmter, als die der Pflanze, die Organe ſind
gezählt, das Ganze eine in ſich beſchloſſene und geſättigte, in Gemeſſenheit
abgerundete Geſtalt.

Alle Thiere ſehen aus wie ein lebendig gewordener Schnapp- und
Freß-Zweck. Dieß hat zwar ſeine Grade; das Thier ſteht um ſo höher,
je weniger der Kopf mit dem Rumpfe in horizontaler Linie fortgeht und
je mehr der Kiefer zurücktritt, die Stirne ſich hervorwölbt, aber ganz
werden wir dieſe pronitas erſt in der menſchlichen Geſtalt überwunden ſehen.

Der Gefühlsſinn iſt über die ganze Haut verbreitet und ſammelt ſich
in beſonderen Organen zum Taſtſinne. Nur der Affe iſt es eigentlich,
der dieſen im Finger hat, bei den meiſten übernehmen Lippe und Naſe
ſeine Rolle, bei einigen tritt als beſonderes, für ihn hauptſächlich beſtimmtes
Organ, der Rüßel hervor, bei niedrigeren Thieren Fühlfäden, Fühlhörner.
Das Entzweiungsgeſetz tritt entſchiedener in den übrigen Sinnen als
paarweiſe gegenüberſtellende ſymmetriſche Seiten-Anordnung hervor. Der
Geſchmack zwar hat nur Ein, die Mitte der Mundhöhle einnehmendes
Organ, die Zunge; die Zähne jedoch, die ihm in die Hand arbeiten, ſind
ſymmetriſch geordnet, die Naſe hat zwei Löcher oder Flügel, die Ohren,
die Augen ſtehen ſich paarweiſe gegenüber, ebenſo Floßen, Flügel, Füße.
Der Gegenſatz gegen die zerſtreute Pflanze vollendet ſich darin und nehmen
wir die durchblickende Baſis des Knochengerüſtes, die plaſtiſchen Muskel-
lagen, welche die Wölbungen der Haut bedingen, dazu, ſo haben wir ein
gediegenes Ganzes vor uns, ein feſt begrenztes und ſeine Grenze ſatt
ausfüllendes, gegoſſenes Weſen.

Auch von der Farbe ſollte hier vielleicht die Rede ſein, allein was
hierüber in Kurzem zu ſagen iſt, wird beſſer bei den verſchiedenen Haupt-
ſtufen angegeben, wo ſich zeigen wird, in welchem Sinne die Farbe ſich
mit ihnen ſteigert. Einiges iſt ſchon im Abſchnitte von der Farbe berührt.

§. 287.

1

Es könnte jedoch ſcheinen, als ob hiedurch die Thiergeſtalt in kryſtalliſche
Regelmäßigkeit verfalle. Allein das Starre, was dadurch entſtünde, wird durch
den theils über das Ganze ſtetig ergoſſenen, theils im Spiele der wirklichen
Bewegung ſich darſtellenden Ausdruck der inneren, beſeelten Lebendigkeit in
ungleich anderem Sinne, als durch die unbeſtimmte Vielheit der Pflanzen-

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[106/0118] Ausdruck gebundener Freßgier ſeiner Geſtalt aufgedrückt bleibt. Der Gefühlsſinn iſt theils über das Ganze verbreitet, theils concentrirt er ſich in einem Organe des Kopfs oder denen der Bewegung. Die übrigen Sinnes-Organe ſind paar- weiſe ſymmetriſch am Kopfe und ebenſo die Bewegungs-Organe am Leibe vertheilt. Die Geſtalt iſt daher ungleich beſtimmter, als die der Pflanze, die Organe ſind gezählt, das Ganze eine in ſich beſchloſſene und geſättigte, in Gemeſſenheit abgerundete Geſtalt. Alle Thiere ſehen aus wie ein lebendig gewordener Schnapp- und Freß-Zweck. Dieß hat zwar ſeine Grade; das Thier ſteht um ſo höher, je weniger der Kopf mit dem Rumpfe in horizontaler Linie fortgeht und je mehr der Kiefer zurücktritt, die Stirne ſich hervorwölbt, aber ganz werden wir dieſe pronitas erſt in der menſchlichen Geſtalt überwunden ſehen. Der Gefühlsſinn iſt über die ganze Haut verbreitet und ſammelt ſich in beſonderen Organen zum Taſtſinne. Nur der Affe iſt es eigentlich, der dieſen im Finger hat, bei den meiſten übernehmen Lippe und Naſe ſeine Rolle, bei einigen tritt als beſonderes, für ihn hauptſächlich beſtimmtes Organ, der Rüßel hervor, bei niedrigeren Thieren Fühlfäden, Fühlhörner. Das Entzweiungsgeſetz tritt entſchiedener in den übrigen Sinnen als paarweiſe gegenüberſtellende ſymmetriſche Seiten-Anordnung hervor. Der Geſchmack zwar hat nur Ein, die Mitte der Mundhöhle einnehmendes Organ, die Zunge; die Zähne jedoch, die ihm in die Hand arbeiten, ſind ſymmetriſch geordnet, die Naſe hat zwei Löcher oder Flügel, die Ohren, die Augen ſtehen ſich paarweiſe gegenüber, ebenſo Floßen, Flügel, Füße. Der Gegenſatz gegen die zerſtreute Pflanze vollendet ſich darin und nehmen wir die durchblickende Baſis des Knochengerüſtes, die plaſtiſchen Muskel- lagen, welche die Wölbungen der Haut bedingen, dazu, ſo haben wir ein gediegenes Ganzes vor uns, ein feſt begrenztes und ſeine Grenze ſatt ausfüllendes, gegoſſenes Weſen. Auch von der Farbe ſollte hier vielleicht die Rede ſein, allein was hierüber in Kurzem zu ſagen iſt, wird beſſer bei den verſchiedenen Haupt- ſtufen angegeben, wo ſich zeigen wird, in welchem Sinne die Farbe ſich mit ihnen ſteigert. Einiges iſt ſchon im Abſchnitte von der Farbe berührt. §. 287. Es könnte jedoch ſcheinen, als ob hiedurch die Thiergeſtalt in kryſtalliſche Regelmäßigkeit verfalle. Allein das Starre, was dadurch entſtünde, wird durch den theils über das Ganze ſtetig ergoſſenen, theils im Spiele der wirklichen Bewegung ſich darſtellenden Ausdruck der inneren, beſeelten Lebendigkeit in ungleich anderem Sinne, als durch die unbeſtimmte Vielheit der Pflanzen-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/118>, abgerufen am 29.03.2024.