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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Organe (§. 274) aufgehoben. Dieser Ausdruck und Alles, was ein Thier in2
der Bewegung thut, kann auch in Widerspruch mit der Gestalt treten, indem er
eine höhere Organisation verräth, als diese erwarten ließe. Da nun die äst-
hetische Betrachtung das Thier auch in seine Thätigkeit begleitet und doch die
Organisation nicht in das Innere verfolgt, so kann sich für sie dieser Wider-
spruch nur durch eine der gegensätzlichen Formen des Schönen ausgleichen
(vergl. §. 18, 2.). Der mechanische Charakter der Regelmäßigkeit wird aber auch
durch die Zufälligkeit der Individualität gebrochen. Diese geht äußerlich nie
so weit wie bei der Pflanze, aber sie wird zur innern Eigenheit der einzelnen
Thierseele, die sich in der ganzen Thätigkeit und feineren Unterschieden der
Form kund gibt (vergl. §. 38 Anm. 2).

1. Der Ausdruck zeigt die unendliche Bestimmbarkeit des inneren
Lebens, das die Außenwelt in sich aufnimmt, zum Reize erhebt und danach
jeden Augenblick den Ort des ganzen Leibs, die Lage der Glieder verändern
kann. Dadurch wird das krystallisch, geometrisch, mechanisch Gewisse
ungewiß und ebendieß ist das Höhere, dessen die Pflanze nicht fähig ist.

2. Naturwissenschaftlich betrachtet kann ein Thier höher stehen, als
ästhetisch betrachtet, so lange man blos die Gestalt ansieht. Nun zergliedert
der Aesthetiker freilich nicht die innere Bildung und so scheint denn ein
Widerspruch zwischen der Sache an sich und der Schönheit zu entstehen,
der die ganze Behauptung des ersten Theils unserer Aesthetik, daß mit
den Stufen des Daseins auch die Schönheit steige, aufheben müsse.
Allein die höhere Organisation bleibt nicht im Innern verborgen, sie
offenbart sich auch im Aeußern, nur nicht auf den ersten Anblick in der
ruhenden Gestalt, sondern in dem, was das Thier thut, und diesem Thun
kann ja und muß auch das Schöne folgen. Zeigt nun ein solches Thun
den vorher blos dem Zoologen bekannten Werth auch dem ästhetischen
Zuschauer, so wird dieser auf die Gestalt noch einmal zurücksehen und
Vieles an ihr entdecken, was dem genaueren Blicke allerdings auch an
ihr die edlere innere Bildung, die höhere Organisation des Gehirns u. s. w.
verräth. Man denke namentlich an den Elephanten. Doch wenn man
die Merkmale der edleren inneren Organisation in der Gestalt erst suchen
muß, so bleibt allerdings immer ein Widerspruch; dieser hebt sich aber
in's Erhabene oder Komische auf durch das wirkliche Thun. So erscheint
der Elephant trotz dem klugen Auge immer plump, die Gescheutheit seiner
Verrichtungen aber, wenn er seine unbehülfliche Masse in Bewegung setzt,
macht ihn komisch, seine Wuth furchtbar. -- Nicht berücksichtigt ist im §.
der andere Fall, daß nämlich ein Thier innerlich dürftiger organisirt sein
kann, als es nach der Oberfläche scheint; warum nicht? sagt der Schluß
der Anm. 2 zu §. 18.


Organe (§. 274) aufgehoben. Dieſer Ausdruck und Alles, was ein Thier in2
der Bewegung thut, kann auch in Widerſpruch mit der Geſtalt treten, indem er
eine höhere Organiſation verräth, als dieſe erwarten ließe. Da nun die äſt-
hetiſche Betrachtung das Thier auch in ſeine Thätigkeit begleitet und doch die
Organiſation nicht in das Innere verfolgt, ſo kann ſich für ſie dieſer Wider-
ſpruch nur durch eine der gegenſätzlichen Formen des Schönen ausgleichen
(vergl. §. 18, 2.). Der mechaniſche Charakter der Regelmäßigkeit wird aber auch
durch die Zufälligkeit der Individualität gebrochen. Dieſe geht äußerlich nie
ſo weit wie bei der Pflanze, aber ſie wird zur innern Eigenheit der einzelnen
Thierſeele, die ſich in der ganzen Thätigkeit und feineren Unterſchieden der
Form kund gibt (vergl. §. 38 Anm. 2).

1. Der Ausdruck zeigt die unendliche Beſtimmbarkeit des inneren
Lebens, das die Außenwelt in ſich aufnimmt, zum Reize erhebt und danach
jeden Augenblick den Ort des ganzen Leibs, die Lage der Glieder verändern
kann. Dadurch wird das kryſtalliſch, geometriſch, mechaniſch Gewiſſe
ungewiß und ebendieß iſt das Höhere, deſſen die Pflanze nicht fähig iſt.

2. Naturwiſſenſchaftlich betrachtet kann ein Thier höher ſtehen, als
äſthetiſch betrachtet, ſo lange man blos die Geſtalt anſieht. Nun zergliedert
der Aeſthetiker freilich nicht die innere Bildung und ſo ſcheint denn ein
Widerſpruch zwiſchen der Sache an ſich und der Schönheit zu entſtehen,
der die ganze Behauptung des erſten Theils unſerer Aeſthetik, daß mit
den Stufen des Daſeins auch die Schönheit ſteige, aufheben müſſe.
Allein die höhere Organiſation bleibt nicht im Innern verborgen, ſie
offenbart ſich auch im Aeußern, nur nicht auf den erſten Anblick in der
ruhenden Geſtalt, ſondern in dem, was das Thier thut, und dieſem Thun
kann ja und muß auch das Schöne folgen. Zeigt nun ein ſolches Thun
den vorher blos dem Zoologen bekannten Werth auch dem äſthetiſchen
Zuſchauer, ſo wird dieſer auf die Geſtalt noch einmal zurückſehen und
Vieles an ihr entdecken, was dem genaueren Blicke allerdings auch an
ihr die edlere innere Bildung, die höhere Organiſation des Gehirns u. ſ. w.
verräth. Man denke namentlich an den Elephanten. Doch wenn man
die Merkmale der edleren inneren Organiſation in der Geſtalt erſt ſuchen
muß, ſo bleibt allerdings immer ein Widerſpruch; dieſer hebt ſich aber
in’s Erhabene oder Komiſche auf durch das wirkliche Thun. So erſcheint
der Elephant trotz dem klugen Auge immer plump, die Geſcheutheit ſeiner
Verrichtungen aber, wenn er ſeine unbehülfliche Maſſe in Bewegung ſetzt,
macht ihn komiſch, ſeine Wuth furchtbar. — Nicht berückſichtigt iſt im §.
der andere Fall, daß nämlich ein Thier innerlich dürftiger organiſirt ſein
kann, als es nach der Oberfläche ſcheint; warum nicht? ſagt der Schluß
der Anm. 2 zu §. 18.


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[107/0119] Organe (§. 274) aufgehoben. Dieſer Ausdruck und Alles, was ein Thier in der Bewegung thut, kann auch in Widerſpruch mit der Geſtalt treten, indem er eine höhere Organiſation verräth, als dieſe erwarten ließe. Da nun die äſt- hetiſche Betrachtung das Thier auch in ſeine Thätigkeit begleitet und doch die Organiſation nicht in das Innere verfolgt, ſo kann ſich für ſie dieſer Wider- ſpruch nur durch eine der gegenſätzlichen Formen des Schönen ausgleichen (vergl. §. 18, 2.). Der mechaniſche Charakter der Regelmäßigkeit wird aber auch durch die Zufälligkeit der Individualität gebrochen. Dieſe geht äußerlich nie ſo weit wie bei der Pflanze, aber ſie wird zur innern Eigenheit der einzelnen Thierſeele, die ſich in der ganzen Thätigkeit und feineren Unterſchieden der Form kund gibt (vergl. §. 38 Anm. 2). 1. Der Ausdruck zeigt die unendliche Beſtimmbarkeit des inneren Lebens, das die Außenwelt in ſich aufnimmt, zum Reize erhebt und danach jeden Augenblick den Ort des ganzen Leibs, die Lage der Glieder verändern kann. Dadurch wird das kryſtalliſch, geometriſch, mechaniſch Gewiſſe ungewiß und ebendieß iſt das Höhere, deſſen die Pflanze nicht fähig iſt. 2. Naturwiſſenſchaftlich betrachtet kann ein Thier höher ſtehen, als äſthetiſch betrachtet, ſo lange man blos die Geſtalt anſieht. Nun zergliedert der Aeſthetiker freilich nicht die innere Bildung und ſo ſcheint denn ein Widerſpruch zwiſchen der Sache an ſich und der Schönheit zu entſtehen, der die ganze Behauptung des erſten Theils unſerer Aeſthetik, daß mit den Stufen des Daſeins auch die Schönheit ſteige, aufheben müſſe. Allein die höhere Organiſation bleibt nicht im Innern verborgen, ſie offenbart ſich auch im Aeußern, nur nicht auf den erſten Anblick in der ruhenden Geſtalt, ſondern in dem, was das Thier thut, und dieſem Thun kann ja und muß auch das Schöne folgen. Zeigt nun ein ſolches Thun den vorher blos dem Zoologen bekannten Werth auch dem äſthetiſchen Zuſchauer, ſo wird dieſer auf die Geſtalt noch einmal zurückſehen und Vieles an ihr entdecken, was dem genaueren Blicke allerdings auch an ihr die edlere innere Bildung, die höhere Organiſation des Gehirns u. ſ. w. verräth. Man denke namentlich an den Elephanten. Doch wenn man die Merkmale der edleren inneren Organiſation in der Geſtalt erſt ſuchen muß, ſo bleibt allerdings immer ein Widerſpruch; dieſer hebt ſich aber in’s Erhabene oder Komiſche auf durch das wirkliche Thun. So erſcheint der Elephant trotz dem klugen Auge immer plump, die Geſcheutheit ſeiner Verrichtungen aber, wenn er ſeine unbehülfliche Maſſe in Bewegung ſetzt, macht ihn komiſch, ſeine Wuth furchtbar. — Nicht berückſichtigt iſt im §. der andere Fall, daß nämlich ein Thier innerlich dürftiger organiſirt ſein kann, als es nach der Oberfläche ſcheint; warum nicht? ſagt der Schluß der Anm. 2 zu §. 18.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/119>, abgerufen am 19.04.2024.