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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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1. Niemand hat schöner, als Herder, nachgewiesen, wie durch die
innere und äußere Organisation des Kopfs zum perpendiculären Schwer-
punkte der ganzen Gestalt, durch seine gewölbte Form das letzte Thierische,
das im Affen auftrat, verschwindet und der anthropos, das über sich,
weit um sich schauende Geschöpf gebildet wird. (Ideen z. Philos. d. Gesch.
d. Menschh. B. 4, I.). Der kleinere Hinterkopf genügt für das kleine
Gehirn, den Sitz des thierischen Seelenlebens, die Wölbung nach vornen
mit der herrlich, hoch und breit herabsinkenden Stirne gibt dem geistigen
Central-Organe, dem großen Gehirne "den weiten und freien Sammel-
platz, einen Tempel jugendlich-schöner und reiner Menschengedanken."
Geheimnißvoll, ein Sitz weiser Geister, die über diese sanften, glatten
Rundungen unfaßbar hinschweben, ist die Stirne; zur Seite wendet sie
sich in die flacheren Schläfe, die aber nicht "den tödtlichen Druck" des
Affen erlitten und den Ausdruck heimlicher Gedankenarbeit bei einem
gewissen durch die zarten hervorschimmernden Schlagadern und die
einsinkende Fläche gegebenen Hauche des Rührenden fortsetzen. Durch
diese Vorwölbung der Stirne ist nun die ganze Linie bedingt: die Nase
fällt abwärts, auch ist sie mit dem Munde nicht in unmittelbarer Fort-
setzung verbunden, wie in der Schnauze der Thiere, deren "geruchartige
Seele" (Herder) nichts Nöthigeres zu thun hat, als ihren ganzen Bau
so in die Nase zuzuspitzen, daß Auswittern der Speise im Dienste des
Mundes als Hauptgeschäft sich aufdrängt. Die zarten, rothgezeichneten
Lippen mit den feinen Winkeln umschließen die senkrecht aufeinander
schließende Perlenreihe der Zähne, die nicht mehr zu Waffen bestimmt
erscheinen, und man sieht dem Organe der ersten Ergreifung und Ver-
arbeitung der Speise augenblicklich an, daß es zu höherem, zum melodischen,
nicht mehr die Qual des Bedürfnisses, noch auch die gedankenlose Lust,
sondern eine unendliche innere Welt aushauchenden Tone und zur Sprache
bestimmt ist. Nach einem kurzen Abstande wölbt sich markig das Kinn hervor.
Kein Thier hat ein Kinn; diese runde, durch eine zarte Rinne getheilte
Basis sichert erst dem Haupte seinen Ausdruck geistigen Gleichgewichts,
bedingt von unten das Zurücktreten des Munds und trägt so wesentlich
zur Aufhebung der schnappenden Schnauze bei. Eine sanft gerundete,
durch die Backenknochen mäßig hügeliche Breite dehnt sich nach Schläfen
und Augen aus. Sicher geschützt unter den kräftigen Augenknochen, dem
feinen Bogen des Augbrauns, das zugleich markirende Interpunction für
die helle Farbe des Ganzen ist, von dem Gesimse der Lider, die nicht
bei allen Völkern so kleinlich verschrumpft sind, wie bei den germanischen,
durch den anmuthigen Schleier der Wimper, leuchtet aus der durch die
Vertiefung in Schatten gestellten, etwas dunkel incarnirten Umgebung auf
weißem, bläulich angeflogenem Grunde die durchsichtig gefärbte Iris mit

11*

1. Niemand hat ſchöner, als Herder, nachgewieſen, wie durch die
innere und äußere Organiſation des Kopfs zum perpendiculären Schwer-
punkte der ganzen Geſtalt, durch ſeine gewölbte Form das letzte Thieriſche,
das im Affen auftrat, verſchwindet und der ἄνϑρωπος, das über ſich,
weit um ſich ſchauende Geſchöpf gebildet wird. (Ideen z. Philoſ. d. Geſch.
d. Menſchh. B. 4, I.). Der kleinere Hinterkopf genügt für das kleine
Gehirn, den Sitz des thieriſchen Seelenlebens, die Wölbung nach vornen
mit der herrlich, hoch und breit herabſinkenden Stirne gibt dem geiſtigen
Central-Organe, dem großen Gehirne „den weiten und freien Sammel-
platz, einen Tempel jugendlich-ſchöner und reiner Menſchengedanken.“
Geheimnißvoll, ein Sitz weiſer Geiſter, die über dieſe ſanften, glatten
Rundungen unfaßbar hinſchweben, iſt die Stirne; zur Seite wendet ſie
ſich in die flacheren Schläfe, die aber nicht „den tödtlichen Druck“ des
Affen erlitten und den Ausdruck heimlicher Gedankenarbeit bei einem
gewiſſen durch die zarten hervorſchimmernden Schlagadern und die
einſinkende Fläche gegebenen Hauche des Rührenden fortſetzen. Durch
dieſe Vorwölbung der Stirne iſt nun die ganze Linie bedingt: die Naſe
fällt abwärts, auch iſt ſie mit dem Munde nicht in unmittelbarer Fort-
ſetzung verbunden, wie in der Schnauze der Thiere, deren „geruchartige
Seele“ (Herder) nichts Nöthigeres zu thun hat, als ihren ganzen Bau
ſo in die Naſe zuzuſpitzen, daß Auswittern der Speiſe im Dienſte des
Mundes als Hauptgeſchäft ſich aufdrängt. Die zarten, rothgezeichneten
Lippen mit den feinen Winkeln umſchließen die ſenkrecht aufeinander
ſchließende Perlenreihe der Zähne, die nicht mehr zu Waffen beſtimmt
erſcheinen, und man ſieht dem Organe der erſten Ergreifung und Ver-
arbeitung der Speiſe augenblicklich an, daß es zu höherem, zum melodiſchen,
nicht mehr die Qual des Bedürfniſſes, noch auch die gedankenloſe Luſt,
ſondern eine unendliche innere Welt aushauchenden Tone und zur Sprache
beſtimmt iſt. Nach einem kurzen Abſtande wölbt ſich markig das Kinn hervor.
Kein Thier hat ein Kinn; dieſe runde, durch eine zarte Rinne getheilte
Baſis ſichert erſt dem Haupte ſeinen Ausdruck geiſtigen Gleichgewichts,
bedingt von unten das Zurücktreten des Munds und trägt ſo weſentlich
zur Aufhebung der ſchnappenden Schnauze bei. Eine ſanft gerundete,
durch die Backenknochen mäßig hügeliche Breite dehnt ſich nach Schläfen
und Augen aus. Sicher geſchützt unter den kräftigen Augenknochen, dem
feinen Bogen des Augbrauns, das zugleich markirende Interpunction für
die helle Farbe des Ganzen iſt, von dem Geſimſe der Lider, die nicht
bei allen Völkern ſo kleinlich verſchrumpft ſind, wie bei den germaniſchen,
durch den anmuthigen Schleier der Wimper, leuchtet aus der durch die
Vertiefung in Schatten geſtellten, etwas dunkel incarnirten Umgebung auf
weißem, bläulich angeflogenem Grunde die durchſichtig gefärbte Iris mit

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[163/0175] 1. Niemand hat ſchöner, als Herder, nachgewieſen, wie durch die innere und äußere Organiſation des Kopfs zum perpendiculären Schwer- punkte der ganzen Geſtalt, durch ſeine gewölbte Form das letzte Thieriſche, das im Affen auftrat, verſchwindet und der ἄνϑρωπος, das über ſich, weit um ſich ſchauende Geſchöpf gebildet wird. (Ideen z. Philoſ. d. Geſch. d. Menſchh. B. 4, I.). Der kleinere Hinterkopf genügt für das kleine Gehirn, den Sitz des thieriſchen Seelenlebens, die Wölbung nach vornen mit der herrlich, hoch und breit herabſinkenden Stirne gibt dem geiſtigen Central-Organe, dem großen Gehirne „den weiten und freien Sammel- platz, einen Tempel jugendlich-ſchöner und reiner Menſchengedanken.“ Geheimnißvoll, ein Sitz weiſer Geiſter, die über dieſe ſanften, glatten Rundungen unfaßbar hinſchweben, iſt die Stirne; zur Seite wendet ſie ſich in die flacheren Schläfe, die aber nicht „den tödtlichen Druck“ des Affen erlitten und den Ausdruck heimlicher Gedankenarbeit bei einem gewiſſen durch die zarten hervorſchimmernden Schlagadern und die einſinkende Fläche gegebenen Hauche des Rührenden fortſetzen. Durch dieſe Vorwölbung der Stirne iſt nun die ganze Linie bedingt: die Naſe fällt abwärts, auch iſt ſie mit dem Munde nicht in unmittelbarer Fort- ſetzung verbunden, wie in der Schnauze der Thiere, deren „geruchartige Seele“ (Herder) nichts Nöthigeres zu thun hat, als ihren ganzen Bau ſo in die Naſe zuzuſpitzen, daß Auswittern der Speiſe im Dienſte des Mundes als Hauptgeſchäft ſich aufdrängt. Die zarten, rothgezeichneten Lippen mit den feinen Winkeln umſchließen die ſenkrecht aufeinander ſchließende Perlenreihe der Zähne, die nicht mehr zu Waffen beſtimmt erſcheinen, und man ſieht dem Organe der erſten Ergreifung und Ver- arbeitung der Speiſe augenblicklich an, daß es zu höherem, zum melodiſchen, nicht mehr die Qual des Bedürfniſſes, noch auch die gedankenloſe Luſt, ſondern eine unendliche innere Welt aushauchenden Tone und zur Sprache beſtimmt iſt. Nach einem kurzen Abſtande wölbt ſich markig das Kinn hervor. Kein Thier hat ein Kinn; dieſe runde, durch eine zarte Rinne getheilte Baſis ſichert erſt dem Haupte ſeinen Ausdruck geiſtigen Gleichgewichts, bedingt von unten das Zurücktreten des Munds und trägt ſo weſentlich zur Aufhebung der ſchnappenden Schnauze bei. Eine ſanft gerundete, durch die Backenknochen mäßig hügeliche Breite dehnt ſich nach Schläfen und Augen aus. Sicher geſchützt unter den kräftigen Augenknochen, dem feinen Bogen des Augbrauns, das zugleich markirende Interpunction für die helle Farbe des Ganzen iſt, von dem Geſimſe der Lider, die nicht bei allen Völkern ſo kleinlich verſchrumpft ſind, wie bei den germaniſchen, durch den anmuthigen Schleier der Wimper, leuchtet aus der durch die Vertiefung in Schatten geſtellten, etwas dunkel incarnirten Umgebung auf weißem, bläulich angeflogenem Grunde die durchſichtig gefärbte Iris mit 11*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/175>, abgerufen am 29.03.2024.