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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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haben nicht von der Schönheit der einzelnen Bewegungen, des Hiebs,
Wurfs, Sprungs u. s. w. gesprochen. Dieß gehört dahin, wo das
Gebiet der Bewegungen im Dienste der wirklichen Zwecke (z. B. Jagd,
Krieg u. s. w.) seine wahre Bedeutung findet, wird aber auch hier nur
berührt werden können, denn Ordnung und schönes Maß tritt erst hinein,
wo die Bewegungen Gegenstand künstlerischen Thuns werden (Gymnastik
in der Kunstlehre). Ebenso kann die Mimik noch nicht sowohl als Theil
der Lehre vom Naturschönen, vielmehr erst als Theil der Kunstlehre das
System der sprechenden Bewegungen durchgehen; doch wird auch hier
die Aesthetik das strengere Eindringen in das Einzelne der besonderen
und selbständigen Behandlung dieser Gebiete zu überlassen haben.

§. 320.

Wie die Gestalt an sich, so ist jede Naturbestimmtheit, welche in das
menschliche Wesen durch sein Zeitleben eintritt, zugleich eine geistige. Auf-
blühend und verblühend bewegt sich das menschliche Leben in einem Wechsel
von Schlaf und Wachen zunächst durch den Unterschied der Altersstufen
1und erliegt dem Tode. Als vorübergehende Erscheinung ist auch der Schlaf
2ästhetisch und kann rührende Contraste erzeugen. Unter den Altersstufen ist
die unbestimmte Weichheit und Unschuld des Kindes, die leibliche Vertrocknung
und das geistige Ausruhen des Greises weniger schön, als die erwartungsvolle
Blüthe der Jugend und die zur Reise der Form gediehene, auf Erfahrung und
3That gestellte Mitte des Lebens. Krankheit gehört in das Häßliche und kann
nur unter denselben Bedingungen, wie dieses, ästhetisch sein; der Tod, wenn
er tragisch ist.

1. Der Zustand des Schlafs scheint ein schlechter Stoff zu sein als
der eines Rückfalls in das ernährende Naturleben. Allein die Losstrickung,
das Hingegossene der Glieder, das stille Athmen, das Zurücksinken des
Geistes in den Schooß des ursprünglichen Dunkels hat seine besondere
Schönheit, sein eigenthümlich Rührendes. Die Kunst hat daher den Stoff
als einen günstigen vielmehr reichlich benützt. (Wir führen hier, wie
bisher, Kunstwerke als Beispiel an, natürlich nicht, um zu zeigen, was
der Künstler aus dem Stoffe gemacht, sondern, was ihm dieser geboten hat).
Lears, Attinghausens Schlaf; Makbeth mordet, wie der König im Hamlet,
den heiligen Schlaf: "Schlaf, der entrollt der Sorge wirren Knoten, den
Tod von jedem Lebenstag, den Balsam kranker Seelen, den zweiten Gang
im Gastmahl der Natur, das nährendste Gericht beim Fest des Lebens,"
drum soll auch Cawdor nicht schlafen mehr, Makbeth nicht schlafen mehr.


haben nicht von der Schönheit der einzelnen Bewegungen, des Hiebs,
Wurfs, Sprungs u. ſ. w. geſprochen. Dieß gehört dahin, wo das
Gebiet der Bewegungen im Dienſte der wirklichen Zwecke (z. B. Jagd,
Krieg u. ſ. w.) ſeine wahre Bedeutung findet, wird aber auch hier nur
berührt werden können, denn Ordnung und ſchönes Maß tritt erſt hinein,
wo die Bewegungen Gegenſtand künſtleriſchen Thuns werden (Gymnaſtik
in der Kunſtlehre). Ebenſo kann die Mimik noch nicht ſowohl als Theil
der Lehre vom Naturſchönen, vielmehr erſt als Theil der Kunſtlehre das
Syſtem der ſprechenden Bewegungen durchgehen; doch wird auch hier
die Aeſthetik das ſtrengere Eindringen in das Einzelne der beſonderen
und ſelbſtändigen Behandlung dieſer Gebiete zu überlaſſen haben.

§. 320.

Wie die Geſtalt an ſich, ſo iſt jede Naturbeſtimmtheit, welche in das
menſchliche Weſen durch ſein Zeitleben eintritt, zugleich eine geiſtige. Auf-
blühend und verblühend bewegt ſich das menſchliche Leben in einem Wechſel
von Schlaf und Wachen zunächſt durch den Unterſchied der Altersſtufen
1und erliegt dem Tode. Als vorübergehende Erſcheinung iſt auch der Schlaf
2äſthetiſch und kann rührende Contraſte erzeugen. Unter den Altersſtufen iſt
die unbeſtimmte Weichheit und Unſchuld des Kindes, die leibliche Vertrocknung
und das geiſtige Ausruhen des Greiſes weniger ſchön, als die erwartungsvolle
Blüthe der Jugend und die zur Reiſe der Form gediehene, auf Erfahrung und
3That geſtellte Mitte des Lebens. Krankheit gehört in das Häßliche und kann
nur unter denſelben Bedingungen, wie dieſes, äſthetiſch ſein; der Tod, wenn
er tragiſch iſt.

1. Der Zuſtand des Schlafs ſcheint ein ſchlechter Stoff zu ſein als
der eines Rückfalls in das ernährende Naturleben. Allein die Losſtrickung,
das Hingegoſſene der Glieder, das ſtille Athmen, das Zurückſinken des
Geiſtes in den Schooß des urſprünglichen Dunkels hat ſeine beſondere
Schönheit, ſein eigenthümlich Rührendes. Die Kunſt hat daher den Stoff
als einen günſtigen vielmehr reichlich benützt. (Wir führen hier, wie
bisher, Kunſtwerke als Beiſpiel an, natürlich nicht, um zu zeigen, was
der Künſtler aus dem Stoffe gemacht, ſondern, was ihm dieſer geboten hat).
Lears, Attinghauſens Schlaf; Makbeth mordet, wie der König im Hamlet,
den heiligen Schlaf: „Schlaf, der entrollt der Sorge wirren Knoten, den
Tod von jedem Lebenstag, den Balſam kranker Seelen, den zweiten Gang
im Gaſtmahl der Natur, das nährendſte Gericht beim Feſt des Lebens,“
drum ſoll auch Cawdor nicht ſchlafen mehr, Makbeth nicht ſchlafen mehr.


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[166/0178] haben nicht von der Schönheit der einzelnen Bewegungen, des Hiebs, Wurfs, Sprungs u. ſ. w. geſprochen. Dieß gehört dahin, wo das Gebiet der Bewegungen im Dienſte der wirklichen Zwecke (z. B. Jagd, Krieg u. ſ. w.) ſeine wahre Bedeutung findet, wird aber auch hier nur berührt werden können, denn Ordnung und ſchönes Maß tritt erſt hinein, wo die Bewegungen Gegenſtand künſtleriſchen Thuns werden (Gymnaſtik in der Kunſtlehre). Ebenſo kann die Mimik noch nicht ſowohl als Theil der Lehre vom Naturſchönen, vielmehr erſt als Theil der Kunſtlehre das Syſtem der ſprechenden Bewegungen durchgehen; doch wird auch hier die Aeſthetik das ſtrengere Eindringen in das Einzelne der beſonderen und ſelbſtändigen Behandlung dieſer Gebiete zu überlaſſen haben. §. 320. Wie die Geſtalt an ſich, ſo iſt jede Naturbeſtimmtheit, welche in das menſchliche Weſen durch ſein Zeitleben eintritt, zugleich eine geiſtige. Auf- blühend und verblühend bewegt ſich das menſchliche Leben in einem Wechſel von Schlaf und Wachen zunächſt durch den Unterſchied der Altersſtufen und erliegt dem Tode. Als vorübergehende Erſcheinung iſt auch der Schlaf äſthetiſch und kann rührende Contraſte erzeugen. Unter den Altersſtufen iſt die unbeſtimmte Weichheit und Unſchuld des Kindes, die leibliche Vertrocknung und das geiſtige Ausruhen des Greiſes weniger ſchön, als die erwartungsvolle Blüthe der Jugend und die zur Reiſe der Form gediehene, auf Erfahrung und That geſtellte Mitte des Lebens. Krankheit gehört in das Häßliche und kann nur unter denſelben Bedingungen, wie dieſes, äſthetiſch ſein; der Tod, wenn er tragiſch iſt. 1. Der Zuſtand des Schlafs ſcheint ein ſchlechter Stoff zu ſein als der eines Rückfalls in das ernährende Naturleben. Allein die Losſtrickung, das Hingegoſſene der Glieder, das ſtille Athmen, das Zurückſinken des Geiſtes in den Schooß des urſprünglichen Dunkels hat ſeine beſondere Schönheit, ſein eigenthümlich Rührendes. Die Kunſt hat daher den Stoff als einen günſtigen vielmehr reichlich benützt. (Wir führen hier, wie bisher, Kunſtwerke als Beiſpiel an, natürlich nicht, um zu zeigen, was der Künſtler aus dem Stoffe gemacht, ſondern, was ihm dieſer geboten hat). Lears, Attinghauſens Schlaf; Makbeth mordet, wie der König im Hamlet, den heiligen Schlaf: „Schlaf, der entrollt der Sorge wirren Knoten, den Tod von jedem Lebenstag, den Balſam kranker Seelen, den zweiten Gang im Gaſtmahl der Natur, das nährendſte Gericht beim Feſt des Lebens,“ drum ſoll auch Cawdor nicht ſchlafen mehr, Makbeth nicht ſchlafen mehr.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/178>, abgerufen am 29.03.2024.