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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Die besondern Stimmungen der Tageszeiten zu durchgehen würde
uns zu lang aufhalten, die der Jahreszeiten kommen noch anderswo zur
Betrachtung. Von wichtigem Einfluß auf den Menschen ist auch das
Wetter im Einzelnen; Reizbarkeit bei Scirocco (Romeo und Jul. Act. 3,
Sc. 1. Anfangsworte Benvolios) u. dergl.

2. Kinder sind noch zu geistesarm und in Formen unbestimmt,
zerfloßen, doch unter Umständen rührende Motive. Die verschiedenen
Darstellungsweisen des Christuskinds, Hektors Abschied von Astyanax,
das etwas reifere Knabenalter in Shakespeares Prinz Arthur, Söhnen
Eduards, Makduffs Knaben zeigen, was im Stoffe liegt. Shakespeare hat
nicht vergessen, das Absurde im Knabenwitz in seine lieblichen Bilder ein-
zutragen. Tieck hat Kinder mitunter zu genial, frühreif, blasirt hingestellt.
Die sentimentale Kunst macht großen Lebtag mit der zwar rührenden,
aber werthlosen Unschuld und eingehüllt schlummernden Unendlichkeit des
Kinds; das Komische ist auch nicht zu vergessen, Unart, Spiel, Trägheit
zum Lernen, Unflätherei, Nothwendigkeit drastischer Erziehungsmittel. Für
diese Seite, wie überhaupt für die Schwächen aller Lebensalter ist eine
classische Stelle die grämlichkomische Schilderung durch Jacques in So
wie es euch gefällt von Shakespeare (Act. 2, S. 7). -- Eigenthümlich
anziehend ist die Stufe unmittelbar vor der Pubertäts-Entwicklung; die
Knospe ist halb aufgebrochen, halb noch geschlossen, rundliches Anschwellen
vermischt sich zart mit Magerkeit und schüchterner Herbe in den Formen
(dornausziehender Knabe); das Betragen ist verlegen, ungeschickt, ungewiß,
wohin man sich zu zählen habe, zu den Kindern oder zu den Erwachsenen.
Die Knospe springt auf mit der Pubertät: die Formen haben ihre
Bedeutung erhalten, sie sind noch nicht in ihrer Fülle ausgewirkt, aber
noch durchaus elastisch; dem Geiste ist die Welt aufgegangen, aber nur
innerlich als Ideal, erfahrungslos schwärmerisch, träumerisch, stolz und
schamhaft. Ganz Zukunft: darin liegt der große Reiz, aber auch der
Mangel der Schönheit dieses Alters. Mit dem Momente der höchsten
Reife nun ist die volle Rose offen, aber es ist auch nur ein Moment.
Die Schönheit ist in diesem Augenblicke, so scheint es, die höchste, allein
wenn durch Kinderzeugung, Arbeit, Kampf der Erfahrung die Formen
schon etwas spröder, trockener werden, die Frische der Haut zu erschlaffen
beginnt, sich die ersten Furchen zeigen und zugleich auch andrerseits ein
Ansatz von Ueberfülle sich einstellt, so entsteht doch eine neue und eine
offenbar höhere Schönheit, wogegen jene Blüthe geistloser erscheint. Diese
Schönheit, die Schönheit des reifen Alters, ist die höchste der menschlichen
Erscheinung; die Formen sind satt, das Gefäß ist ganz ausgefüllt, sie haben
jetzt erst den Ausdruck des Gewollten, des Eigenthums und dienstwilligen
Organs, worin sich der Geist eingewohnt; dieser ist ebenfalls erfüllt, in's

Die beſondern Stimmungen der Tageszeiten zu durchgehen würde
uns zu lang aufhalten, die der Jahreszeiten kommen noch anderswo zur
Betrachtung. Von wichtigem Einfluß auf den Menſchen iſt auch das
Wetter im Einzelnen; Reizbarkeit bei Scirocco (Romeo und Jul. Act. 3,
Sc. 1. Anfangsworte Benvolios) u. dergl.

2. Kinder ſind noch zu geiſtesarm und in Formen unbeſtimmt,
zerfloßen, doch unter Umſtänden rührende Motive. Die verſchiedenen
Darſtellungsweiſen des Chriſtuskinds, Hektors Abſchied von Aſtyanax,
das etwas reifere Knabenalter in Shakespeares Prinz Arthur, Söhnen
Eduards, Makduffs Knaben zeigen, was im Stoffe liegt. Shakespeare hat
nicht vergeſſen, das Abſurde im Knabenwitz in ſeine lieblichen Bilder ein-
zutragen. Tieck hat Kinder mitunter zu genial, frühreif, blaſirt hingeſtellt.
Die ſentimentale Kunſt macht großen Lebtag mit der zwar rührenden,
aber werthloſen Unſchuld und eingehüllt ſchlummernden Unendlichkeit des
Kinds; das Komiſche iſt auch nicht zu vergeſſen, Unart, Spiel, Trägheit
zum Lernen, Unflätherei, Nothwendigkeit draſtiſcher Erziehungsmittel. Für
dieſe Seite, wie überhaupt für die Schwächen aller Lebensalter iſt eine
claſſiſche Stelle die grämlichkomiſche Schilderung durch Jacques in So
wie es euch gefällt von Shakespeare (Act. 2, S. 7). — Eigenthümlich
anziehend iſt die Stufe unmittelbar vor der Pubertäts-Entwicklung; die
Knospe iſt halb aufgebrochen, halb noch geſchloſſen, rundliches Anſchwellen
vermiſcht ſich zart mit Magerkeit und ſchüchterner Herbe in den Formen
(dornausziehender Knabe); das Betragen iſt verlegen, ungeſchickt, ungewiß,
wohin man ſich zu zählen habe, zu den Kindern oder zu den Erwachſenen.
Die Knospe ſpringt auf mit der Pubertät: die Formen haben ihre
Bedeutung erhalten, ſie ſind noch nicht in ihrer Fülle ausgewirkt, aber
noch durchaus elaſtiſch; dem Geiſte iſt die Welt aufgegangen, aber nur
innerlich als Ideal, erfahrungslos ſchwärmeriſch, träumeriſch, ſtolz und
ſchamhaft. Ganz Zukunft: darin liegt der große Reiz, aber auch der
Mangel der Schönheit dieſes Alters. Mit dem Momente der höchſten
Reife nun iſt die volle Roſe offen, aber es iſt auch nur ein Moment.
Die Schönheit iſt in dieſem Augenblicke, ſo ſcheint es, die höchſte, allein
wenn durch Kinderzeugung, Arbeit, Kampf der Erfahrung die Formen
ſchon etwas ſpröder, trockener werden, die Friſche der Haut zu erſchlaffen
beginnt, ſich die erſten Furchen zeigen und zugleich auch andrerſeits ein
Anſatz von Ueberfülle ſich einſtellt, ſo entſteht doch eine neue und eine
offenbar höhere Schönheit, wogegen jene Blüthe geiſtloſer erſcheint. Dieſe
Schönheit, die Schönheit des reifen Alters, iſt die höchſte der menſchlichen
Erſcheinung; die Formen ſind ſatt, das Gefäß iſt ganz ausgefüllt, ſie haben
jetzt erſt den Ausdruck des Gewollten, des Eigenthums und dienſtwilligen
Organs, worin ſich der Geiſt eingewohnt; dieſer iſt ebenfalls erfüllt, in’s

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[167/0179] Die beſondern Stimmungen der Tageszeiten zu durchgehen würde uns zu lang aufhalten, die der Jahreszeiten kommen noch anderswo zur Betrachtung. Von wichtigem Einfluß auf den Menſchen iſt auch das Wetter im Einzelnen; Reizbarkeit bei Scirocco (Romeo und Jul. Act. 3, Sc. 1. Anfangsworte Benvolios) u. dergl. 2. Kinder ſind noch zu geiſtesarm und in Formen unbeſtimmt, zerfloßen, doch unter Umſtänden rührende Motive. Die verſchiedenen Darſtellungsweiſen des Chriſtuskinds, Hektors Abſchied von Aſtyanax, das etwas reifere Knabenalter in Shakespeares Prinz Arthur, Söhnen Eduards, Makduffs Knaben zeigen, was im Stoffe liegt. Shakespeare hat nicht vergeſſen, das Abſurde im Knabenwitz in ſeine lieblichen Bilder ein- zutragen. Tieck hat Kinder mitunter zu genial, frühreif, blaſirt hingeſtellt. Die ſentimentale Kunſt macht großen Lebtag mit der zwar rührenden, aber werthloſen Unſchuld und eingehüllt ſchlummernden Unendlichkeit des Kinds; das Komiſche iſt auch nicht zu vergeſſen, Unart, Spiel, Trägheit zum Lernen, Unflätherei, Nothwendigkeit draſtiſcher Erziehungsmittel. Für dieſe Seite, wie überhaupt für die Schwächen aller Lebensalter iſt eine claſſiſche Stelle die grämlichkomiſche Schilderung durch Jacques in So wie es euch gefällt von Shakespeare (Act. 2, S. 7). — Eigenthümlich anziehend iſt die Stufe unmittelbar vor der Pubertäts-Entwicklung; die Knospe iſt halb aufgebrochen, halb noch geſchloſſen, rundliches Anſchwellen vermiſcht ſich zart mit Magerkeit und ſchüchterner Herbe in den Formen (dornausziehender Knabe); das Betragen iſt verlegen, ungeſchickt, ungewiß, wohin man ſich zu zählen habe, zu den Kindern oder zu den Erwachſenen. Die Knospe ſpringt auf mit der Pubertät: die Formen haben ihre Bedeutung erhalten, ſie ſind noch nicht in ihrer Fülle ausgewirkt, aber noch durchaus elaſtiſch; dem Geiſte iſt die Welt aufgegangen, aber nur innerlich als Ideal, erfahrungslos ſchwärmeriſch, träumeriſch, ſtolz und ſchamhaft. Ganz Zukunft: darin liegt der große Reiz, aber auch der Mangel der Schönheit dieſes Alters. Mit dem Momente der höchſten Reife nun iſt die volle Roſe offen, aber es iſt auch nur ein Moment. Die Schönheit iſt in dieſem Augenblicke, ſo ſcheint es, die höchſte, allein wenn durch Kinderzeugung, Arbeit, Kampf der Erfahrung die Formen ſchon etwas ſpröder, trockener werden, die Friſche der Haut zu erſchlaffen beginnt, ſich die erſten Furchen zeigen und zugleich auch andrerſeits ein Anſatz von Ueberfülle ſich einſtellt, ſo entſteht doch eine neue und eine offenbar höhere Schönheit, wogegen jene Blüthe geiſtloſer erſcheint. Dieſe Schönheit, die Schönheit des reifen Alters, iſt die höchſte der menſchlichen Erſcheinung; die Formen ſind ſatt, das Gefäß iſt ganz ausgefüllt, ſie haben jetzt erſt den Ausdruck des Gewollten, des Eigenthums und dienſtwilligen Organs, worin ſich der Geiſt eingewohnt; dieſer iſt ebenfalls erfüllt, in’s

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/179>, abgerufen am 19.04.2024.