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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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2lichkeit mit sich bringt, eine neue Quelle des Komischen auf. Die Ehe erweitert
sich zur Familie, worin die verschiedenartige Liebe zwischen mehreren Gliedern
aus vielen Personen Eine reich belebte Persönlichkeit schafft: die Wurzel des
Völkerlebens, ehrwürdige Grundsäule und Vorbild des Staats, worin ein Schooß
unendlicher ästhetischer Stoffe gegeben ist.

1. Der gährende Wein der Liebe wird ruhig und still in der Ehe.
Diese wurde eine Zucht genannt nicht nur überhaupt als Schule der
Liebe und gegenseitige, wiewohl vom Manne thätiger ausgehende Erziehung
der Persönlichkeit, wodurch die Anmuth des Weibes, das nun seine
Bestimmung erreicht, erst der wahren Würde theilhaftig wird, sondern
auch näher als Reinigung der Sinnlichkeit durch den weihenden Act,
welchen die Sitte der Völker zwischen den Bund der Gemüther und seine
sinnliche Vollziehung gesetzt hat. Das Schöne kennt und entfaltet zwar
wohl eine Welt, worin die Sinnlichkeit unschuldig ist, wie sie es sein soll,
und in ungetrenntem Verlaufe ihren reinen Genuß an die innere Hingabe
knüpfen darf (vergl. §. 60, 1.); allein auch im Schönen hat dieser Kreis
seine Grenze und ist nur wie eine glückliche Insel, denn die unreine Welt
mit der Gefahr der Ausartung, welche im unmittelbaren Uebergang zur
sinnlichen Vollziehung liegt, diese ganze Wirklichkeit, welche ohne die
Schranken des Gesetzes und der Sitte in jede Zerrüttung fiele, dieß ist
ja eben auch die Welt, worin das Schöne seine weitesten und größten
Stoffe findet und deren scheinbare Prosa es daher nicht scheuen darf. So
ist es ja auch nichts weniger als prosaisch, wenn Julie, ehe sie sich dem
Romeo hingibt, auf Ehe dringt und getraut wird, und wird das sinnliche
Feuer in dieser Tragödie dadurch im Geringsten nicht geschwächt. Die
Ehe als dauernder Zustand nun wird allerdings nur durch Störungen
ästhetisch, denn ihr Charakter ist, daß die Liebe als ein Besonderes für
sich nicht mehr wahrgenommen wird, sondern beide Persönlichkeiten so
durchdrungen hat, daß sie ihren weiteren Thätigkeiten ruhig nachgehen.
Die Erschütterung aber bringt zu Tage, daß das Pathos, je stiller, um
so tiefer und mächtiger geworden ist. Innere Störung ernster Art: Untreue
oder zerstörende Eifersucht auf einen Schein der Untreue begründet (Othello:
"lieb' ich dich nicht mehr, so kehrt das Chaos wieder"). Aeußere Störung:
Probe der Treue (Göz zu Elisabeth: "Du bleibst bei mir." Elis.: "Bis
in den Tod"). Die komischen Störungen müssen unschädlich sein, zunächst
objectiv und an sich. Hier dringen alle die kleinen Uebel herein, die in
der täglichen Reibung der Charaktere, theils der gegenseitigen an den
Launen, Eigenheiten, Gewohnheiten u. s. w., theils der gemeinschaftlichen
an der kleinen Noth, den Mühen, Widerwärtigkeiten in Erwerb, Ver-
waltung des Besitzes, Ernährung u. s. w. begründet sind. Man darf

2lichkeit mit ſich bringt, eine neue Quelle des Komiſchen auf. Die Ehe erweitert
ſich zur Familie, worin die verſchiedenartige Liebe zwiſchen mehreren Gliedern
aus vielen Perſonen Eine reich belebte Perſönlichkeit ſchafft: die Wurzel des
Völkerlebens, ehrwürdige Grundſäule und Vorbild des Staats, worin ein Schooß
unendlicher äſthetiſcher Stoffe gegeben iſt.

1. Der gährende Wein der Liebe wird ruhig und ſtill in der Ehe.
Dieſe wurde eine Zucht genannt nicht nur überhaupt als Schule der
Liebe und gegenſeitige, wiewohl vom Manne thätiger ausgehende Erziehung
der Perſönlichkeit, wodurch die Anmuth des Weibes, das nun ſeine
Beſtimmung erreicht, erſt der wahren Würde theilhaftig wird, ſondern
auch näher als Reinigung der Sinnlichkeit durch den weihenden Act,
welchen die Sitte der Völker zwiſchen den Bund der Gemüther und ſeine
ſinnliche Vollziehung geſetzt hat. Das Schöne kennt und entfaltet zwar
wohl eine Welt, worin die Sinnlichkeit unſchuldig iſt, wie ſie es ſein ſoll,
und in ungetrenntem Verlaufe ihren reinen Genuß an die innere Hingabe
knüpfen darf (vergl. §. 60, 1.); allein auch im Schönen hat dieſer Kreis
ſeine Grenze und iſt nur wie eine glückliche Inſel, denn die unreine Welt
mit der Gefahr der Ausartung, welche im unmittelbaren Uebergang zur
ſinnlichen Vollziehung liegt, dieſe ganze Wirklichkeit, welche ohne die
Schranken des Geſetzes und der Sitte in jede Zerrüttung fiele, dieß iſt
ja eben auch die Welt, worin das Schöne ſeine weiteſten und größten
Stoffe findet und deren ſcheinbare Proſa es daher nicht ſcheuen darf. So
iſt es ja auch nichts weniger als proſaiſch, wenn Julie, ehe ſie ſich dem
Romeo hingibt, auf Ehe dringt und getraut wird, und wird das ſinnliche
Feuer in dieſer Tragödie dadurch im Geringſten nicht geſchwächt. Die
Ehe als dauernder Zuſtand nun wird allerdings nur durch Störungen
äſthetiſch, denn ihr Charakter iſt, daß die Liebe als ein Beſonderes für
ſich nicht mehr wahrgenommen wird, ſondern beide Perſönlichkeiten ſo
durchdrungen hat, daß ſie ihren weiteren Thätigkeiten ruhig nachgehen.
Die Erſchütterung aber bringt zu Tage, daß das Pathos, je ſtiller, um
ſo tiefer und mächtiger geworden iſt. Innere Störung ernſter Art: Untreue
oder zerſtörende Eiferſucht auf einen Schein der Untreue begründet (Othello:
„lieb’ ich dich nicht mehr, ſo kehrt das Chaos wieder“). Aeußere Störung:
Probe der Treue (Göz zu Eliſabeth: „Du bleibſt bei mir.“ Eliſ.: „Bis
in den Tod“). Die komiſchen Störungen müſſen unſchädlich ſein, zunächſt
objectiv und an ſich. Hier dringen alle die kleinen Uebel herein, die in
der täglichen Reibung der Charaktere, theils der gegenſeitigen an den
Launen, Eigenheiten, Gewohnheiten u. ſ. w., theils der gemeinſchaftlichen
an der kleinen Noth, den Mühen, Widerwärtigkeiten in Erwerb, Ver-
waltung des Beſitzes, Ernährung u. ſ. w. begründet ſind. Man darf

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[174/0186] lichkeit mit ſich bringt, eine neue Quelle des Komiſchen auf. Die Ehe erweitert ſich zur Familie, worin die verſchiedenartige Liebe zwiſchen mehreren Gliedern aus vielen Perſonen Eine reich belebte Perſönlichkeit ſchafft: die Wurzel des Völkerlebens, ehrwürdige Grundſäule und Vorbild des Staats, worin ein Schooß unendlicher äſthetiſcher Stoffe gegeben iſt. 1. Der gährende Wein der Liebe wird ruhig und ſtill in der Ehe. Dieſe wurde eine Zucht genannt nicht nur überhaupt als Schule der Liebe und gegenſeitige, wiewohl vom Manne thätiger ausgehende Erziehung der Perſönlichkeit, wodurch die Anmuth des Weibes, das nun ſeine Beſtimmung erreicht, erſt der wahren Würde theilhaftig wird, ſondern auch näher als Reinigung der Sinnlichkeit durch den weihenden Act, welchen die Sitte der Völker zwiſchen den Bund der Gemüther und ſeine ſinnliche Vollziehung geſetzt hat. Das Schöne kennt und entfaltet zwar wohl eine Welt, worin die Sinnlichkeit unſchuldig iſt, wie ſie es ſein ſoll, und in ungetrenntem Verlaufe ihren reinen Genuß an die innere Hingabe knüpfen darf (vergl. §. 60, 1.); allein auch im Schönen hat dieſer Kreis ſeine Grenze und iſt nur wie eine glückliche Inſel, denn die unreine Welt mit der Gefahr der Ausartung, welche im unmittelbaren Uebergang zur ſinnlichen Vollziehung liegt, dieſe ganze Wirklichkeit, welche ohne die Schranken des Geſetzes und der Sitte in jede Zerrüttung fiele, dieß iſt ja eben auch die Welt, worin das Schöne ſeine weiteſten und größten Stoffe findet und deren ſcheinbare Proſa es daher nicht ſcheuen darf. So iſt es ja auch nichts weniger als proſaiſch, wenn Julie, ehe ſie ſich dem Romeo hingibt, auf Ehe dringt und getraut wird, und wird das ſinnliche Feuer in dieſer Tragödie dadurch im Geringſten nicht geſchwächt. Die Ehe als dauernder Zuſtand nun wird allerdings nur durch Störungen äſthetiſch, denn ihr Charakter iſt, daß die Liebe als ein Beſonderes für ſich nicht mehr wahrgenommen wird, ſondern beide Perſönlichkeiten ſo durchdrungen hat, daß ſie ihren weiteren Thätigkeiten ruhig nachgehen. Die Erſchütterung aber bringt zu Tage, daß das Pathos, je ſtiller, um ſo tiefer und mächtiger geworden iſt. Innere Störung ernſter Art: Untreue oder zerſtörende Eiferſucht auf einen Schein der Untreue begründet (Othello: „lieb’ ich dich nicht mehr, ſo kehrt das Chaos wieder“). Aeußere Störung: Probe der Treue (Göz zu Eliſabeth: „Du bleibſt bei mir.“ Eliſ.: „Bis in den Tod“). Die komiſchen Störungen müſſen unſchädlich ſein, zunächſt objectiv und an ſich. Hier dringen alle die kleinen Uebel herein, die in der täglichen Reibung der Charaktere, theils der gegenſeitigen an den Launen, Eigenheiten, Gewohnheiten u. ſ. w., theils der gemeinſchaftlichen an der kleinen Noth, den Mühen, Widerwärtigkeiten in Erwerb, Ver- waltung des Beſitzes, Ernährung u. ſ. w. begründet ſind. Man darf

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/186>, abgerufen am 28.03.2024.