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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Melancholiker Brackenburg. Ueber die ästhetische Bedeutung des Tempera-
ments überhaupt nun kann zunächst nur wiederholt werden, daß es ebenso
wesentlich ist, als alle andern Momente, wodurch das Geistige den zum
Schönen erforderlichen Ton der Natur und Zufälligkeit erhält; der Fort-
gang zum Charakter wird von selbst die Schranke der Geltung aufzeigen.
Natürlich wiegt es unter verschiedenen Bedingungen, die hier noch nicht
verfolgt werden können, verschieden: Völker und Culturperioden, daher
Kunstperioden und verschiedene Künste werden ihm verschiedene Grade
der Geltung anweisen. So bemerkt Rötscher sehr richtig, daß es in der
Komödie weiteren Spielraum hat, als in der Tragödie.

§. 332.

Von der andern Seite fassen sich die allgemeinen und besondern geistig
sittlichen Mächte im Individuum zusammen, so jedoch, daß diese Seite selbst
wieder zum voraus eine vom Willen zwar geschaffene und zu geistig objektiver
Kraft erhobene, aber nicht nur auf Naturgrund geschaffene, sondern bereits
auch wieder in Naturform zurückgekehrte, in das leibliche und seelische Leben
versenkte und vererbte Bestimmtheit darstellt. Das sittliche Volksleben im
Zusammenhang mit dem sittlichen Zustande der Menschheit, die jeweilige
Stufe, auf der das Volk steht, sodann die besondere sittliche Bestimmtheit
des Standes und der Familie wird von dem Individuum nicht nur als ein
außer ihm Bestehendes, sondern als ein vom Hause aus in es selbst Ueber-
gegangenes vorgefunden.

Die Verwicklung wird immer reicher und schwieriger. Hier tritt
die zweite Reihe allgemeiner und besonderer Momente auf; es sind die
geistigen, es ist von dem die Rede, was Volk, Stand, Familie durch
Willen und Freiheit aus sich gemacht hat. Allein diese Seite ist selbst
wieder Naturmacht, nicht nur objektive sittliche Macht im Sinne des
Bestehenden, was als Sitte, Gesetz, Ueberlieferung Nothwendigkeit
gewonnen hat, sondern im Sinne dessen, was selbst auf Naturgrund
(auf den Grund der Triebe nämlich und zwar der Triebe in der
Bestimmtheit des Volkstemperaments und Volksnaturells überhaupt)
gebaut, auf diesem Grunde dann zwar in Freiheit umgebildet, aber
durch Dauer und Gewohnheit wieder Naturerbschaft geworden ist. Es
hat z. B. Einer nach §. 331 ein gewisses Naturell, Temperament an
sich; da aber seine Eltern und Voreltern einem gewissen Stande ange-
hörten, der zwar vielleicht von den Ureltern frei gewählt war, so hat
sich ein weiteres leibliches und geistiges Gepräge auf dieses erste gepfropft,
er hat es mitgeerbt. Nun erwacht die Freiheit in ihm; seine ursprüngliche

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Melancholiker Brackenburg. Ueber die äſthetiſche Bedeutung des Tempera-
ments überhaupt nun kann zunächſt nur wiederholt werden, daß es ebenſo
weſentlich iſt, als alle andern Momente, wodurch das Geiſtige den zum
Schönen erforderlichen Ton der Natur und Zufälligkeit erhält; der Fort-
gang zum Charakter wird von ſelbſt die Schranke der Geltung aufzeigen.
Natürlich wiegt es unter verſchiedenen Bedingungen, die hier noch nicht
verfolgt werden können, verſchieden: Völker und Culturperioden, daher
Kunſtperioden und verſchiedene Künſte werden ihm verſchiedene Grade
der Geltung anweiſen. So bemerkt Rötſcher ſehr richtig, daß es in der
Komödie weiteren Spielraum hat, als in der Tragödie.

§. 332.

Von der andern Seite faſſen ſich die allgemeinen und beſondern geiſtig
ſittlichen Mächte im Individuum zuſammen, ſo jedoch, daß dieſe Seite ſelbſt
wieder zum voraus eine vom Willen zwar geſchaffene und zu geiſtig objektiver
Kraft erhobene, aber nicht nur auf Naturgrund geſchaffene, ſondern bereits
auch wieder in Naturform zurückgekehrte, in das leibliche und ſeeliſche Leben
verſenkte und vererbte Beſtimmtheit darſtellt. Das ſittliche Volksleben im
Zuſammenhang mit dem ſittlichen Zuſtande der Menſchheit, die jeweilige
Stufe, auf der das Volk ſteht, ſodann die beſondere ſittliche Beſtimmtheit
des Standes und der Familie wird von dem Individuum nicht nur als ein
außer ihm Beſtehendes, ſondern als ein vom Hauſe aus in es ſelbſt Ueber-
gegangenes vorgefunden.

Die Verwicklung wird immer reicher und ſchwieriger. Hier tritt
die zweite Reihe allgemeiner und beſonderer Momente auf; es ſind die
geiſtigen, es iſt von dem die Rede, was Volk, Stand, Familie durch
Willen und Freiheit aus ſich gemacht hat. Allein dieſe Seite iſt ſelbſt
wieder Naturmacht, nicht nur objektive ſittliche Macht im Sinne des
Beſtehenden, was als Sitte, Geſetz, Ueberlieferung Nothwendigkeit
gewonnen hat, ſondern im Sinne deſſen, was ſelbſt auf Naturgrund
(auf den Grund der Triebe nämlich und zwar der Triebe in der
Beſtimmtheit des Volkstemperaments und Volksnaturells überhaupt)
gebaut, auf dieſem Grunde dann zwar in Freiheit umgebildet, aber
durch Dauer und Gewohnheit wieder Naturerbſchaft geworden iſt. Es
hat z. B. Einer nach §. 331 ein gewiſſes Naturell, Temperament an
ſich; da aber ſeine Eltern und Voreltern einem gewiſſen Stande ange-
hörten, der zwar vielleicht von den Ureltern frei gewählt war, ſo hat
ſich ein weiteres leibliches und geiſtiges Gepräge auf dieſes erſte gepfropft,
er hat es mitgeerbt. Nun erwacht die Freiheit in ihm; ſeine urſprüngliche

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[195/0207] Melancholiker Brackenburg. Ueber die äſthetiſche Bedeutung des Tempera- ments überhaupt nun kann zunächſt nur wiederholt werden, daß es ebenſo weſentlich iſt, als alle andern Momente, wodurch das Geiſtige den zum Schönen erforderlichen Ton der Natur und Zufälligkeit erhält; der Fort- gang zum Charakter wird von ſelbſt die Schranke der Geltung aufzeigen. Natürlich wiegt es unter verſchiedenen Bedingungen, die hier noch nicht verfolgt werden können, verſchieden: Völker und Culturperioden, daher Kunſtperioden und verſchiedene Künſte werden ihm verſchiedene Grade der Geltung anweiſen. So bemerkt Rötſcher ſehr richtig, daß es in der Komödie weiteren Spielraum hat, als in der Tragödie. §. 332. Von der andern Seite faſſen ſich die allgemeinen und beſondern geiſtig ſittlichen Mächte im Individuum zuſammen, ſo jedoch, daß dieſe Seite ſelbſt wieder zum voraus eine vom Willen zwar geſchaffene und zu geiſtig objektiver Kraft erhobene, aber nicht nur auf Naturgrund geſchaffene, ſondern bereits auch wieder in Naturform zurückgekehrte, in das leibliche und ſeeliſche Leben verſenkte und vererbte Beſtimmtheit darſtellt. Das ſittliche Volksleben im Zuſammenhang mit dem ſittlichen Zuſtande der Menſchheit, die jeweilige Stufe, auf der das Volk ſteht, ſodann die beſondere ſittliche Beſtimmtheit des Standes und der Familie wird von dem Individuum nicht nur als ein außer ihm Beſtehendes, ſondern als ein vom Hauſe aus in es ſelbſt Ueber- gegangenes vorgefunden. Die Verwicklung wird immer reicher und ſchwieriger. Hier tritt die zweite Reihe allgemeiner und beſonderer Momente auf; es ſind die geiſtigen, es iſt von dem die Rede, was Volk, Stand, Familie durch Willen und Freiheit aus ſich gemacht hat. Allein dieſe Seite iſt ſelbſt wieder Naturmacht, nicht nur objektive ſittliche Macht im Sinne des Beſtehenden, was als Sitte, Geſetz, Ueberlieferung Nothwendigkeit gewonnen hat, ſondern im Sinne deſſen, was ſelbſt auf Naturgrund (auf den Grund der Triebe nämlich und zwar der Triebe in der Beſtimmtheit des Volkstemperaments und Volksnaturells überhaupt) gebaut, auf dieſem Grunde dann zwar in Freiheit umgebildet, aber durch Dauer und Gewohnheit wieder Naturerbſchaft geworden iſt. Es hat z. B. Einer nach §. 331 ein gewiſſes Naturell, Temperament an ſich; da aber ſeine Eltern und Voreltern einem gewiſſen Stande ange- hörten, der zwar vielleicht von den Ureltern frei gewählt war, ſo hat ſich ein weiteres leibliches und geiſtiges Gepräge auf dieſes erſte gepfropft, er hat es mitgeerbt. Nun erwacht die Freiheit in ihm; ſeine urſprüngliche 13*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/207>, abgerufen am 25.04.2024.