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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Menschliche vorausgesetzt, das sich nicht verändert; doch mußte unter diesen
auch der Unterschied der Geschlechter, die Liebe, die Ehe, die Familie auf-
geführt werden und diese allerdings sind in die Sphären herüberzuziehen,
welche sich im Wechsel der geschichtlichen Epochen mitverändern. Anders
stellt sich der Mann zum Weibe, anders ist die Liebe gefärbt, die Ehe
beschaffen, ein anderes das Familienleben und anderen Stoff bieten sie
daher dem Künstler bei den verschiedenen geschichtlichen Völkern und in
ihren verschiedenen Zeiten. Unter allen diesen Formen, worin die Freiheit
erscheint, bleiben aber für den ästhetischen Standpunkt immer die Cultur-
formen (§. 327) von ganz besonderem Interesse. Uns muß es z. B.
höchst wichtig sein, in welchen Kleidern die Menschen stacken, die Großes
vollbrachten. Ueberall bleibt natürlich die Grundforderung §. 327, 1.
vergl. §. 328. 330 leitend: wir wollen den Geist in Einheit mit der
Natur sehen. Diese Einheit kann natürlich verschiedene Formen annehmen,
sie kann eine unmittelbare, sie kann eine vermittelte sein und die Vermitt-
lung selbst kann den härteren Bruch mit der Natur vor sich oder hinter
sich haben. Vor sich haben ihn die Bildungsformen des Mittelalters,
die wir in Vergleichung mit dem Alterthum vermittelt nennen, hinter sich
werden ihn die hoffentlich schwungvolleren der Zukunft haben.

Die Kunst hat vielfach geschichtliche Stoffe behandelt, daß aber hier
ihr eigentlicher und wichtigster Boden ist, diese Einsicht ist von gestern und
noch keineswegs verbreitet. Ebenso ist es in der Aesthetik neu, daß diese
Durchwanderung der Geschichte zu ihren Aufgaben, daß in die Lehre von
der Naturschönheit auch eine Physiognomik der Geschichte gehört. Man
hat einen Theil dieser Betrachtung bisher in der Form einleitender
Bemerkungen an die Lehre von den Idealen oder, wie es Hegel aus-
drückt, den besonderen Kunstformen angeknüpft, allein dieß ist zu trennen
und es wird sich zeigen, wie es dem Abschnitt, der sich mit dem letzteren
Gegenstande beschäftigt, zu gute kommt, wenn er auf das reale geschicht-
liche Leben der Völker zurückverweisen kann als auf den an seinem Orte
bereits beleuchteten Boden, in welchem das Ideal der betreffenden Völker
wurzelte. Dabei wird sich zum Theil ein ungleiches Verhältniß heraus-
stellen; die Perser z. B. sind ungleich bedeutender als ästhetisches Object,
d. h. durch das Schauspiel, das ihre Geschichte darbietet, denn als äst-
hetisches Subject, d. h. durch das, was ihre Phantasie an Schönheit
produzirt hat. Im Allgemeinen jedoch kann man vorläufig feststellen, daß
die Völker, welche sich bis dahin entwickelt, haben, daß sie eine für die
Aesthetik ergiebige Geschichte haben, ebenso, wiewohl nicht eben in
entsprechendem Grade, auch selbstthätig Schönes werden hervorgebracht
haben. Die näheren Beschränkungen dieses Satzes kommen später zur
Sprache.


Menſchliche vorausgeſetzt, das ſich nicht verändert; doch mußte unter dieſen
auch der Unterſchied der Geſchlechter, die Liebe, die Ehe, die Familie auf-
geführt werden und dieſe allerdings ſind in die Sphären herüberzuziehen,
welche ſich im Wechſel der geſchichtlichen Epochen mitverändern. Anders
ſtellt ſich der Mann zum Weibe, anders iſt die Liebe gefärbt, die Ehe
beſchaffen, ein anderes das Familienleben und anderen Stoff bieten ſie
daher dem Künſtler bei den verſchiedenen geſchichtlichen Völkern und in
ihren verſchiedenen Zeiten. Unter allen dieſen Formen, worin die Freiheit
erſcheint, bleiben aber für den äſthetiſchen Standpunkt immer die Cultur-
formen (§. 327) von ganz beſonderem Intereſſe. Uns muß es z. B.
höchſt wichtig ſein, in welchen Kleidern die Menſchen ſtacken, die Großes
vollbrachten. Ueberall bleibt natürlich die Grundforderung §. 327, 1.
vergl. §. 328. 330 leitend: wir wollen den Geiſt in Einheit mit der
Natur ſehen. Dieſe Einheit kann natürlich verſchiedene Formen annehmen,
ſie kann eine unmittelbare, ſie kann eine vermittelte ſein und die Vermitt-
lung ſelbſt kann den härteren Bruch mit der Natur vor ſich oder hinter
ſich haben. Vor ſich haben ihn die Bildungsformen des Mittelalters,
die wir in Vergleichung mit dem Alterthum vermittelt nennen, hinter ſich
werden ihn die hoffentlich ſchwungvolleren der Zukunft haben.

Die Kunſt hat vielfach geſchichtliche Stoffe behandelt, daß aber hier
ihr eigentlicher und wichtigſter Boden iſt, dieſe Einſicht iſt von geſtern und
noch keineswegs verbreitet. Ebenſo iſt es in der Aeſthetik neu, daß dieſe
Durchwanderung der Geſchichte zu ihren Aufgaben, daß in die Lehre von
der Naturſchönheit auch eine Phyſiognomik der Geſchichte gehört. Man
hat einen Theil dieſer Betrachtung bisher in der Form einleitender
Bemerkungen an die Lehre von den Idealen oder, wie es Hegel aus-
drückt, den beſonderen Kunſtformen angeknüpft, allein dieß iſt zu trennen
und es wird ſich zeigen, wie es dem Abſchnitt, der ſich mit dem letzteren
Gegenſtande beſchäftigt, zu gute kommt, wenn er auf das reale geſchicht-
liche Leben der Völker zurückverweiſen kann als auf den an ſeinem Orte
bereits beleuchteten Boden, in welchem das Ideal der betreffenden Völker
wurzelte. Dabei wird ſich zum Theil ein ungleiches Verhältniß heraus-
ſtellen; die Perſer z. B. ſind ungleich bedeutender als äſthetiſches Object,
d. h. durch das Schauſpiel, das ihre Geſchichte darbietet, denn als äſt-
hetiſches Subject, d. h. durch das, was ihre Phantaſie an Schönheit
produzirt hat. Im Allgemeinen jedoch kann man vorläufig feſtſtellen, daß
die Völker, welche ſich bis dahin entwickelt, haben, daß ſie eine für die
Aeſthetik ergiebige Geſchichte haben, ebenſo, wiewohl nicht eben in
entſprechendem Grade, auch ſelbſtthätig Schönes werden hervorgebracht
haben. Die näheren Beſchränkungen dieſes Satzes kommen ſpäter zur
Sprache.


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[221/0233] Menſchliche vorausgeſetzt, das ſich nicht verändert; doch mußte unter dieſen auch der Unterſchied der Geſchlechter, die Liebe, die Ehe, die Familie auf- geführt werden und dieſe allerdings ſind in die Sphären herüberzuziehen, welche ſich im Wechſel der geſchichtlichen Epochen mitverändern. Anders ſtellt ſich der Mann zum Weibe, anders iſt die Liebe gefärbt, die Ehe beſchaffen, ein anderes das Familienleben und anderen Stoff bieten ſie daher dem Künſtler bei den verſchiedenen geſchichtlichen Völkern und in ihren verſchiedenen Zeiten. Unter allen dieſen Formen, worin die Freiheit erſcheint, bleiben aber für den äſthetiſchen Standpunkt immer die Cultur- formen (§. 327) von ganz beſonderem Intereſſe. Uns muß es z. B. höchſt wichtig ſein, in welchen Kleidern die Menſchen ſtacken, die Großes vollbrachten. Ueberall bleibt natürlich die Grundforderung §. 327, 1. vergl. §. 328. 330 leitend: wir wollen den Geiſt in Einheit mit der Natur ſehen. Dieſe Einheit kann natürlich verſchiedene Formen annehmen, ſie kann eine unmittelbare, ſie kann eine vermittelte ſein und die Vermitt- lung ſelbſt kann den härteren Bruch mit der Natur vor ſich oder hinter ſich haben. Vor ſich haben ihn die Bildungsformen des Mittelalters, die wir in Vergleichung mit dem Alterthum vermittelt nennen, hinter ſich werden ihn die hoffentlich ſchwungvolleren der Zukunft haben. Die Kunſt hat vielfach geſchichtliche Stoffe behandelt, daß aber hier ihr eigentlicher und wichtigſter Boden iſt, dieſe Einſicht iſt von geſtern und noch keineswegs verbreitet. Ebenſo iſt es in der Aeſthetik neu, daß dieſe Durchwanderung der Geſchichte zu ihren Aufgaben, daß in die Lehre von der Naturſchönheit auch eine Phyſiognomik der Geſchichte gehört. Man hat einen Theil dieſer Betrachtung bisher in der Form einleitender Bemerkungen an die Lehre von den Idealen oder, wie es Hegel aus- drückt, den beſonderen Kunſtformen angeknüpft, allein dieß iſt zu trennen und es wird ſich zeigen, wie es dem Abſchnitt, der ſich mit dem letzteren Gegenſtande beſchäftigt, zu gute kommt, wenn er auf das reale geſchicht- liche Leben der Völker zurückverweiſen kann als auf den an ſeinem Orte bereits beleuchteten Boden, in welchem das Ideal der betreffenden Völker wurzelte. Dabei wird ſich zum Theil ein ungleiches Verhältniß heraus- ſtellen; die Perſer z. B. ſind ungleich bedeutender als äſthetiſches Object, d. h. durch das Schauſpiel, das ihre Geſchichte darbietet, denn als äſt- hetiſches Subject, d. h. durch das, was ihre Phantaſie an Schönheit produzirt hat. Im Allgemeinen jedoch kann man vorläufig feſtſtellen, daß die Völker, welche ſich bis dahin entwickelt, haben, daß ſie eine für die Aeſthetik ergiebige Geſchichte haben, ebenſo, wiewohl nicht eben in entſprechendem Grade, auch ſelbſtthätig Schönes werden hervorgebracht haben. Die näheren Beſchränkungen dieſes Satzes kommen ſpäter zur Sprache.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/233>, abgerufen am 25.04.2024.