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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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ihren Gegenstand stoffartig, indem sie auf die innere Zusammensetzung der
Dinge sieht und die Gestaltung der Oberfläche nur als letztes Ergebniß dieser
darstellt, wogegen die Aesthetik den reinen Schein der Oberfläche in's Auge
2faßt (vergl. §. 54); ebendarum ist das mißbildete oder kranke Individuum für
die Naturwissenschaft nicht ein häßliches, wie für die Aesthetik, und auf ganz
andere Weise zieht jene das Reich solcher Störungen in ihr Gebiet, als diese;
3endlich unterliegt die Verbindung der Aesthetik mit der Naturwissenschaft den
4in §. 18 ausgesprochenen Einschränkungen. Dieser Unterschied hebt jedoch die
Anschließung der Aesthetik an die Naturwissenschaft keineswegs auf, denn die
innere Zusammensetzung der Körper behält für jene die wichtige Bedeutung,
daß sie der Grund der äußeren Gestalt ist; das Stoffartige geht auf in der
Form, aber zu kennen, was in ihr aufgeht, fördert wesentlich ihr Verständniß
und ihre Auffindung.

1. Der Hauptgrund des Unterschieds ist in §. 54 gehörig auseinander-
gesetzt. Wenn ich die Formen eines Gebirgs ästhetisch betrachte, frage ich
nicht, ob es aus Granit, Basalt, Sandstein, Kalk oder anderer Masse
besteht, bei einem Baume nicht, in welche Klasse ihn Linne mit Rücksicht
auf seine Befruchtungsorgane gesetzt, bei einem schönen menschlichen Körper
nicht, wie dieser und jener Muskel vom Anatomen benannt wird. Diese
Fragen sind vom Standpunkte der Aesthetik stoffartig; nicht an sich sind sie es,
denn die Naturwissenschaft kennt auch von ihrem Standpunkt nur geformten
Stoff, aber für die Aesthetik, denn für sie ist Alles, was durch Zerlegung
und Auflösung der Oberfläche in ihrer Gesammtwirkung gefunden wird, roher
Stoff. Der Geognost sieht nach dem Umrisse der Gebirge, um aus ihnen
vorläufig auf die Formation zu schließen; der Aesthetiker fragt nach der
Formation, um aus ihr, so weit es möglich, zu schließen, was für Umrisse
zu finden sein werden. Hat dieser die Umrisse vor sich, so vergißt er
den Namen der Formation, nur ein allgemeiner Eindruck der Gewalt
schwebt ihm vor, deren Wirken diese Umrisse bedingte. Er braucht auch
als Künstler oder einfach Beschauender jenen Namen nie gewußt zu haben;
nur die Wissenschaft der Aesthetik, da sie in geordnetem Zusammenhang
die Naturreiche darauf anzusehen hat, wie viel Stoff sie dem Schönen
abgeben, muß sich bis auf einen Punkt auf die Namen und Eintheilungen
der Naturwissenschaft einlassen.

2. Die schlechten Individuen existiren für die Aesthetik, sofern sie
schlechtweg häßlich sind, gar nicht oder nur als Solches, was nicht sein
soll und daher nur das Gefühl des Abstoßenden erregt. Für die Natur-
wissenschaft dagegen existiren sie zwar freilich nicht als normale Erscheinung
der Gattung, allein die Krankheit und jede Entartung hat auch ihre Gesetz-
mäßigkeit und diese ist für die wissenschaftliche Betrachtung, welche zwar

ihren Gegenſtand ſtoffartig, indem ſie auf die innere Zuſammenſetzung der
Dinge ſieht und die Geſtaltung der Oberfläche nur als letztes Ergebniß dieſer
darſtellt, wogegen die Aeſthetik den reinen Schein der Oberfläche in’s Auge
2faßt (vergl. §. 54); ebendarum iſt das mißbildete oder kranke Individuum für
die Naturwiſſenſchaft nicht ein häßliches, wie für die Aeſthetik, und auf ganz
andere Weiſe zieht jene das Reich ſolcher Störungen in ihr Gebiet, als dieſe;
3endlich unterliegt die Verbindung der Aeſthetik mit der Naturwiſſenſchaft den
4in §. 18 ausgeſprochenen Einſchränkungen. Dieſer Unterſchied hebt jedoch die
Anſchließung der Aeſthetik an die Naturwiſſenſchaft keineswegs auf, denn die
innere Zuſammenſetzung der Körper behält für jene die wichtige Bedeutung,
daß ſie der Grund der äußeren Geſtalt iſt; das Stoffartige geht auf in der
Form, aber zu kennen, was in ihr aufgeht, fördert weſentlich ihr Verſtändniß
und ihre Auffindung.

1. Der Hauptgrund des Unterſchieds iſt in §. 54 gehörig auseinander-
geſetzt. Wenn ich die Formen eines Gebirgs äſthetiſch betrachte, frage ich
nicht, ob es aus Granit, Baſalt, Sandſtein, Kalk oder anderer Maſſe
beſteht, bei einem Baume nicht, in welche Klaſſe ihn Linné mit Rückſicht
auf ſeine Befruchtungsorgane geſetzt, bei einem ſchönen menſchlichen Körper
nicht, wie dieſer und jener Muskel vom Anatomen benannt wird. Dieſe
Fragen ſind vom Standpunkte der Aeſthetik ſtoffartig; nicht an ſich ſind ſie es,
denn die Naturwiſſenſchaft kennt auch von ihrem Standpunkt nur geformten
Stoff, aber für die Aeſthetik, denn für ſie iſt Alles, was durch Zerlegung
und Auflöſung der Oberfläche in ihrer Geſammtwirkung gefunden wird, roher
Stoff. Der Geognoſt ſieht nach dem Umriſſe der Gebirge, um aus ihnen
vorläufig auf die Formation zu ſchließen; der Aeſthetiker fragt nach der
Formation, um aus ihr, ſo weit es möglich, zu ſchließen, was für Umriſſe
zu finden ſein werden. Hat dieſer die Umriſſe vor ſich, ſo vergißt er
den Namen der Formation, nur ein allgemeiner Eindruck der Gewalt
ſchwebt ihm vor, deren Wirken dieſe Umriſſe bedingte. Er braucht auch
als Künſtler oder einfach Beſchauender jenen Namen nie gewußt zu haben;
nur die Wiſſenſchaft der Aeſthetik, da ſie in geordnetem Zuſammenhang
die Naturreiche darauf anzuſehen hat, wie viel Stoff ſie dem Schönen
abgeben, muß ſich bis auf einen Punkt auf die Namen und Eintheilungen
der Naturwiſſenſchaft einlaſſen.

2. Die ſchlechten Individuen exiſtiren für die Aeſthetik, ſofern ſie
ſchlechtweg häßlich ſind, gar nicht oder nur als Solches, was nicht ſein
ſoll und daher nur das Gefühl des Abſtoßenden erregt. Für die Natur-
wiſſenſchaft dagegen exiſtiren ſie zwar freilich nicht als normale Erſcheinung
der Gattung, allein die Krankheit und jede Entartung hat auch ihre Geſetz-
mäßigkeit und dieſe iſt für die wiſſenſchaftliche Betrachtung, welche zwar

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[14/0026] ihren Gegenſtand ſtoffartig, indem ſie auf die innere Zuſammenſetzung der Dinge ſieht und die Geſtaltung der Oberfläche nur als letztes Ergebniß dieſer darſtellt, wogegen die Aeſthetik den reinen Schein der Oberfläche in’s Auge faßt (vergl. §. 54); ebendarum iſt das mißbildete oder kranke Individuum für die Naturwiſſenſchaft nicht ein häßliches, wie für die Aeſthetik, und auf ganz andere Weiſe zieht jene das Reich ſolcher Störungen in ihr Gebiet, als dieſe; endlich unterliegt die Verbindung der Aeſthetik mit der Naturwiſſenſchaft den in §. 18 ausgeſprochenen Einſchränkungen. Dieſer Unterſchied hebt jedoch die Anſchließung der Aeſthetik an die Naturwiſſenſchaft keineswegs auf, denn die innere Zuſammenſetzung der Körper behält für jene die wichtige Bedeutung, daß ſie der Grund der äußeren Geſtalt iſt; das Stoffartige geht auf in der Form, aber zu kennen, was in ihr aufgeht, fördert weſentlich ihr Verſtändniß und ihre Auffindung. 1. Der Hauptgrund des Unterſchieds iſt in §. 54 gehörig auseinander- geſetzt. Wenn ich die Formen eines Gebirgs äſthetiſch betrachte, frage ich nicht, ob es aus Granit, Baſalt, Sandſtein, Kalk oder anderer Maſſe beſteht, bei einem Baume nicht, in welche Klaſſe ihn Linné mit Rückſicht auf ſeine Befruchtungsorgane geſetzt, bei einem ſchönen menſchlichen Körper nicht, wie dieſer und jener Muskel vom Anatomen benannt wird. Dieſe Fragen ſind vom Standpunkte der Aeſthetik ſtoffartig; nicht an ſich ſind ſie es, denn die Naturwiſſenſchaft kennt auch von ihrem Standpunkt nur geformten Stoff, aber für die Aeſthetik, denn für ſie iſt Alles, was durch Zerlegung und Auflöſung der Oberfläche in ihrer Geſammtwirkung gefunden wird, roher Stoff. Der Geognoſt ſieht nach dem Umriſſe der Gebirge, um aus ihnen vorläufig auf die Formation zu ſchließen; der Aeſthetiker fragt nach der Formation, um aus ihr, ſo weit es möglich, zu ſchließen, was für Umriſſe zu finden ſein werden. Hat dieſer die Umriſſe vor ſich, ſo vergißt er den Namen der Formation, nur ein allgemeiner Eindruck der Gewalt ſchwebt ihm vor, deren Wirken dieſe Umriſſe bedingte. Er braucht auch als Künſtler oder einfach Beſchauender jenen Namen nie gewußt zu haben; nur die Wiſſenſchaft der Aeſthetik, da ſie in geordnetem Zuſammenhang die Naturreiche darauf anzuſehen hat, wie viel Stoff ſie dem Schönen abgeben, muß ſich bis auf einen Punkt auf die Namen und Eintheilungen der Naturwiſſenſchaft einlaſſen. 2. Die ſchlechten Individuen exiſtiren für die Aeſthetik, ſofern ſie ſchlechtweg häßlich ſind, gar nicht oder nur als Solches, was nicht ſein ſoll und daher nur das Gefühl des Abſtoßenden erregt. Für die Natur- wiſſenſchaft dagegen exiſtiren ſie zwar freilich nicht als normale Erſcheinung der Gattung, allein die Krankheit und jede Entartung hat auch ihre Geſetz- mäßigkeit und dieſe iſt für die wiſſenſchaftliche Betrachtung, welche zwar

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/26>, abgerufen am 25.04.2024.